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Carl Gustav Jungs „Rotes Buch“ und seine Nachfolger 55. Biennale von Venedig – Teil 2

Carl Gustav Jung (1875-1961), Das rote Buch, 1913-1929, Foundation of the Works of C.G. Jung, Zürich, Installationsfoto: Alexandra Matzner.

Carl Gustav Jung (1875-1961), Das rote Buch, 1913-1929, Foundation of the Works of C.G. Jung, Zürich, Installationsfoto: Alexandra Matzner.

Den Ausstellungsrundgang durch die „Kunst- und Wunderkammer“ beginnt im Zentralen Pavillon in den Giardini, hier befindet sich in der Kuppelhalle nach dem Eingang Carl Gustav Jungs sagenumwobenes „Rotes Buch“. Im Jahr 2009 wurde es nach Jahrzehnten von der Familie zur Veröffentlichung freigegeben und erstmals in New York ausgestellt, 2011 folgte eine Präsentation im Züricher Museum Rietberg. Schon in seiner Entstehungszeit wurde es von dem ehemaligen Freud Schüler als bahnbrechend für seine spätere Entwicklung empfunden. Insgesamt 16 Jahre hat der Schweizer Psychoanalytiker vom Dezember 1913 bis 1929 an dem Text in gotischer Schrift und den fast an mittelalterliche Miniaturen erinnernden Bildern auf Pergament gearbeitet. Das „Rote Buch“ ist als Meditation und Selbstanalyse, als eine Umsetzung der eigenen Seelenwelt, des Unbewussten, der inneren Vorstellungen und Visionen in symbolreiche, naiv gestaltete und dennoch dichte Bilder entstanden. Jung schrieb seine Träume bzw. Imaginationen in gotischer Schrift rein und kommentierte sich selbst dabei auch, die Bilder fertigte er teilweise erst in der späteren Auseinandersetzung an. Der vielseitig gebildete Psychoanalytiker verarbeitete in den Bildern das Wissen der Weltkultur, von der altägyptischen Mythologie, Buddhismus, Hinduismus, Gnostischem bis zu Annäherungen an Schelling (Einheit von Natur und Geist) und Schopenhauer.

Ausgehend von C.G. Jungs Visionen und deren Umsetzung in Miniaturen schließen im Zentralen Pavillon künstlerische Positionen aber auch eine Unzahl von Bildern mit mystischem Umfeld an. Massimiliano Gioni demonstriert seine Faszination am Surrealismus im Durchgang in den anschließenden Raum, wo das Relief die „Maske von Breton“ (um 1950) von René Iché (1897-1954) den selbsterklärten Begründer dieser Richtung in totenmaskenähnlicher Form porträtiert.

Dass somit der Mensch als Mensch - jenseits von gesellschaftlichen und politischen Dimensionen - im Zentrum von Massimiliano Gionis kuratorischer Arbeit steht, mag in Anbetracht aktuellen Ausstellens überraschen. Während die Wiener Festwochen 2013 in der Wiener Secession als „Unruhe der Form“ rund um die Entwürfe eines politischen Subjekts kreist (und durchaus mit der Arbeit von Hannah Hurtzig Hellseherisches und Unsag- bzw. –denkbares einschließt), und die 7. Berlin Biennale 2012 unter dem Titel „Forget Fear“ das „Bestreben nach direkter politischer Einflussnahme“1 explizit ins Zentrum ihrer Aktivitäten rückte, stellt Gioni nun kreatives Arbeiten als den Umgang mit dem Unbewussten, mit dem Menschsein zur Diskussion. Interessanterweise geht Gioni den Wurzeln des Surrealismus nach, ohne die Surrealisten (der ersten Reihe) in extenso anzuführen, und spürt sie in der zeitgenössischen Kunstproduktion erneut auf. Einzig Dorothea Tanning (1910-2012) ist als Surrealistin mit zwei Arbeiten vertreten.

Nach Jung, Iché und Breton, folgt im großen Ausstellungsraum (Nr. 2) eine Zusammenstellung von Rudolf Steiners Kreideskizzen, mit denen er sein anthroposophisches Modell zu erklären suchte, vor Skulpturen von Walter Pichler (1936-2012), die den Menschen in archaischen Situationen zeigen. Leider klärt nur der Katalogtext darüber auf, dass Pichler für seine anthropomorphen Figuren auch die Behausungen mitplante. Jung hätte hier wohl von Archetypen gesprochen! Dazwischen führen drei männliche Personen unterschiedlichen Alters die Performance von Tino Sehgal (* 1976) auf, für die dieser den Goldenen Löwen der Biennale-Leitung erhielt. Summend, beatboxend geben zwei den Rhythmus vor, zu dem der Dritte tanzt.2 Die Verbindung von Musik, Tanz, Liveperformance, die weder filmisch noch fotografisch aufgenommen wird, im Umfeld der bildenden Kunst macht den in Berlin lebenden Sehgal derzeit zu einem der erfolgreichsten, jungen Künstler der Gegenwart – und verbindet ihn mit dem Werk CG Jungs.

Die 55. Biennale von Venedig steht unter dem Stern des Unbewussten, des Metaphysischen, schließt auch das Spiritistische und Okkulte ein. Damit unterläuft der Kurator jedwede Form eines traditionellen „enzyklopädischen Palastes“, auch so wie ihn Auriti ihn sich erträumt hatte, der den Wissenschaften, Künsten und der Industrie aber auch dem Privaten gewidmet sein könnte. Stattdessen findet eine Öffnung hin zur Welt des Unsichtbaren, des (mit Worten) Unerklärbaren, das sich in Kunst oder künstlerischen Manifestationen äußert.

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  1. Zitiert nach URL: http://www.berlinbiennale.de/blog/1-6-biennale/7-berlin-biennale (1.6.2013)
  2. Bis zum 16.6.2013 kann man eine seiner performativen Arbeiten in der Wiener Secession im Rahmen der Ausstellung „Unruhe der Form“ sehen!
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.