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Albertina: Albrecht Dürer Dürers Zeichnungen als Erkenntnismedium

Albrecht Dürer, Feldhase, Kopf, 1502 (© Albertina, Wien)

Albrecht Dürer, Feldhase, Kopf, 1502 (© Albertina, Wien)

Albrecht Dürer in Wien, genauer Dürer in der Albertina, bedeutet Werk und Leben des Nürnberger Renaissance-Meisters von seiner persönlichsten Seite her zu betrachten – seinen Zeichnungen. Dank der „Dürer-Fans“ Kaiser Rudolf II. und Herzog Albert von Sachsen-Teschen verwahrt die renommierte Grafiksammlung nahezu 140 Zeichnungen und damit den weltweit bedeutendsten Bestand. Im Interview hat Kurator Christof Metzger bereits, verraten, wie die Dürer-Zeichnungen quasi aus dem Atelier ihres Schöpfers direkt in die Wiener Sammlung kamen (→ Christof Metzger: „Albrecht Dürer hat das Sehen neu gelernt“). Aufgrund der Ordnung der Zeichnungen, die wohl schon Dürer in seiner Werkstatt anlegte, gelangten bedeutende Naturstudien, darunter auch der berühmte „Dürer-Hase“ (→ Albrecht Dürer: Feldhase, 1502 ) an die Habsburger. Die wissenschaftlich akkurat vorbereitete Schau stellt das zeichnerische Werk ins Zentrum. Die Albertina holt aber auch einige malerische Zimelien nach Wien.

Ich bin Albrecht Dürer

Es ist schon fast eine Albertina-Tradition, dass am Beginn der Ausstellungen ein Selbstporträt, oder wenn nicht vorhanden ein Porträt, des Künstlers präsentiert wird. So auch hier. Albrecht Dürer zählt zu den ersten Künstlern der Renaissance, der sich gleichsam professionell mit seinem Erscheinungsbild auseinandersetzte. In drei gemalten Selbstporträts und mehreren gezeichneten dokumentierte der Nürnberger sein Aussehen, er inszenierte aber auch den Stolz eines Bürgers. Besonders spektakulär ist das um 1499 datierbare „Selbstbildnis als Akt“ aus der Klassik Stiftung Weimar. Schonungslos, detailgenau bis zum Genital stellt sich Dürer dem Blick heutiger Betrachterinnen und Betrachter. Vermutlich entstand das Abbild, indem der Künstler verschiedene Ansichten seines Körpers miteinander verband. Denn zu seiner Entstehungszeit gab es nur gewölbte Spiegel von einer maximalen Größe von 40 cm. Das berühmte Dürer-Monogramm „AD“ auf der Zeichnung ist erst von einer späteren Hand ergänzt worden. Wie der nüchterne Blick auf sich selbst ist auch das Markenzeichen und dessen Etablierung eine außergewöhnliche Leistung des Künstlers. Damit – und der hohen Qualität seiner meist druckgrafischen Produkte – gelang es ihm, schon zu Lebzeiten eine „Marke“ zu werden.

Dürer vor Dürer

Dürers berühmte Silberstiftzeichnung „Selbstbildnis als Dreizehnjähriger“ (1484) in der Albertina gilt als die erste jugendliche Darstellung eines europäischen Künstlers. Es zeugt von der guten Ausbildung in der väterlichen Werkstatt, war doch Albrecht Dürer der Ältere ein angesehener Goldschmied. In seinem „Selbstbildnis“ von 1486 präsentiert er sich mit einem figurativen Goldschmiedestück. Als sich Albrecht Dürer der Jüngere entschied, Künstler werden zu wollen, wurde er in die Werkstatt des Nürnberger Malers Michael Wolgemut geschickt (→ Nürnberg | Germanisches Nationalmuseum | Michael Wolgemut – mehr als Dürers Lehrer). Dort erlernte er die Ölmalerei und auch den Holzschnitt. Dürers außerordentliche Fähigkeiten, mit dem Grabstichel umzugehen, gehen noch auf seine Ausbildung als Goldschmied zurück. Entwürfe für einen Tischbrunnen und eine Doppelscheuer, die zwischen 1500 und 1526 datiert werden, belegen, dass sich der Maler-Druckgrafiker zeitlebens mit kunsthandwerklichen Objekten auseinandergesetzt hat. Vor allem der erstmals als Original Dürers ausgestellte Entwurf für einen Tischbrunnen wirkt mit kleinen, agilen Figuren in spätgotischer Manieriertheit unterhaltsam bis überraschend.

Dürers künstlerische Anfänge liegen am Oberrhein. Dorthin führte ihn die obligatorische Gesellenwanderung zwischen 1490 und 1494. In Colmar wollte er Martin Schongauer, den führenden Druckgrafiker seiner Zeit kennenlernen. Da dieser bereits 1491 verstorben war, konnte Dürer nur noch dessen in der Werkstatt verbliebene Werke studieren.
Eine weitere wichtige Station auf der Reise war die Stadt Basel, da sie um 1500 ein führendes Zentrum des Buchdrucks war. Hier arbeitete Dürer vermutlich an einigen Buchprojekten mit, von denen das „Narrenschiff“ von Sebastian Brandt das wichtigste war. Die frühesten Druckgrafiken Dürers zeigen ihn als einen Nachfolger Schongauers, während die Drucke aus Terenz` „Comoediae“ (um 1492/93) eher die holzschnitthafte Behandlung der Entwürfe durch den Formschneider bezeugen. Mit diesem Wissen ausgestattet, zog Albrecht Dürer zurück nach Nürnberg, wo er 1494 Agnes Frey heiratete und eine Werkstatt für luxuriöse Druckgrafiken eröffnete.

Gründung der Werkstatt und erste Italienische Reise

Seine Frau Agnes stellte er 1494 in einer spontanen Federzeichnung dar, besser fing sie in einer nachdenklichen Pose ein. Hier zeigt sich bereits Dürers Bereitschaft, vorgegebene Pfade und Sehgewohnheiten aufzugeben und sich mit seiner direkten Umgebung auseinanderzusetzen. Studien wie diese kulminieren in den berühmten Naturstudien (ab 1500), denen ähnliche Detailstudien vorausgegangen sein müssen. Ein unverstellter Blick, das Schätzen des Vorgefundenen und  das ungeschönte Wiedergeben desselben charakterisieren die Zeichenkunst des Nürnbergers bis zu dessen Lebensende.

Bevor Dürer zu seiner ersten Reise nach Venedig aufbrach, schuf er erste Tafelgemälde. „Der büßende heilige Hieronymus“ (um 1494) aus London zählt zu den frühesten erhaltenen Gemälden des jungen Meisters. Auf der Rückseite bewies Dürer bereits, dass er nicht nur figurale Sujets umzusetzen verstand, sondern auch einen „Lichtblitz“ darzustellen wusste. Vergleiche mit dem Kupferstich „Der heilige Hieronymus in der Wüste“, den er nach seiner Rückkehr aus Italien 1495/96 anfertigte, zeigt, wie gut Dürer mit dem Grabstichel umzugehen wusste. Da in Nürnberg die Technik des Kupferstichs nur selten ausgeübt wurde, konnte sich Dürer binnen weniger Jahre auf diesem Gebiet ein beachtliches Renommee erarbeiten. Um seine Werke national wie international zu verbreiten, stellte er Handlungsreisende an, die mit ihnen durch die Lande zogen. So resultiert die Entscheidung für die zweite Italienische Reise 1506 wohl auch aus einem „Copyright-Problem“ heraus, hatten italienischen Drucker doch Dürers Druckgrafiken mitsamt seines Monogramms „AD“ kopiert. Der Künstler ging nach Oberitalien – Aufenthalte in Venedig und Bologna sind gesichert –, um seine Rechte zu wahren und sich weiterzubilden. Doch nochmals einen Schritt zurück.

Dürers erste Italienische Reise ist nicht dokumentiert, lässt sich jedoch, wie Christof Metzger betont, sowohl aus dem Werk wie auch aus einer späteren Briefstelle Dürers argumentieren. Wo hätte der Künstler sonst Trachtenstudien von einer solchen Genauigkeit machen können? In der Albertina liegen die Ansichten der Hofburg in Innsbruck, die noch ganz im spätmittelalterlichen Stil gehalten sind (vgl. Schädel’sche Weltchronik), während die Darstellungen zweier Burgen im Trentino kurz darauf einen Paradigmenwechsel dokumentieren. Dürer arbeitet mit Auslassungen, Tiefenschärfe und unstrukturiertem Vordergrund, wodurch sie sich in Ausführung und Konzeption deutlich von den „vollständigen“ Innsbrucker Schilderungen abheben. Als er wieder im Norden zurück war, stellte er „Die Weidenmühle bei Nürnberg“ (um 1496) dar. Das pittoreske Motiv wird von einem dramatisch beleuchteten Abendhimmel überfangen, der ein ab- oder aufziehendes Gewitter samt Abendrot einschließt.

Was Dürer in Venedig erlebte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Vermutlich haben ihn die Erzeugnisse italienischer Druckgrafiker wie Andrea Mantegna und Antonio Pollaiuolo neugierig gemacht. Von beiden Künstlern kopierte er die berühmtesten Blätter und steigerte in seinen Zeichnungen die Affektdarstellungen. Sicher ist, dass er sich 1495 vor Ort mit der venezianischen Malerei seiner Generation, allen voran Giovanni Bellini und Carpaccio, auseinandergesetzt haben muss. Auch die venezianischen Druckgrafiken eines Jacopo de‘ Barberi oder die Clair-obscure-Schnitte (Farbholzschnitte) von Ugo da Carpi wären in Reichweite gewesen.

Zurück in Nürnberg entwickelte Albrecht Dürer ein Konzept für sein Verlagshaus für luxuriöse Buchdrucke und Einzelblätter. In den folgenden fünf Jahren schuf er etwa 30 Kupferstiche und 30 Holzschnitte. Als junger Künstler sogleich mit einem Großprojekt wie der „Großen Passion“ zu beginnen, zeigt das Vertrauen, das Dürer in sich und seine Kunst hatte. Die „Große Passion“ erschien 1498 im Eigenverlag als Buch, auch wenn die 16 Holzschnitte heute meist als Einzelblätter an der Wand hängen. In der Albertina liegt eine Ausgabe der „Großen Passion“ in der Vitrine und zeigt, wie Text-Bild-Korrelation ursprünglich gedacht war. Das finanzielle Risiko dürfte durch die Weltuntergangsstimmung kurz vor der Jahrhundertwende gemildert worden sein. Dennoch weisen Julia Zaunbauer und Christof Metzger im Katalogteil des Buches zur Ausstellung überzeugend darauf hin, dass Dürer mit seinem Programm keine Massenware herstellen wollte. Zu exklusiv, zu technisch brillant und in der Konsequenz zu zeitaufwändig dürfte die Konzeption und Herstellung der Blätter gewesen sein. Dennoch suchte Dürer sich auf allen Gebieten der Kunst einen Namen zu machen und schuf Darstellungen mythologischen, religiösen und auch trivialen Inhalts. Sein Anspruch an sich selbst sollte „Druckgrafik vollkommen neu definieren [werden]. Mit seinen von einer rein illustrierenden Funktion befreiten Darstellungen, vor allem aber durch die Perfektion seiner Holzschnitte und Kupferstiche dürfte das sich gerade erst etablierende Sammeln von Druckgrafik den eigentlichen Auftrieb bekommen haben.“1

Hase, Rasen, Vogelschwinge – Dürers frühe Naturstudien

Ein Herzstück der Albertina-Ausstellung ist zweifellos der Raum mit den frühen Naturstudien Dürers. Bevor das Publikum auf den „Dürer-Hasen“ zustürmen kann, soll es allerdings noch mit der Funktion der Prachtwerke vertraut gemacht werden. Zentrale These von Christof Metzger ist, dass die „Naturstudien“ eigentlich als autonome Zeichnungen (!) und als Demonstrationsobjekte für die Werkstattbesucher (!!) geschaffen wurden. Basis für die mit scheinbarer mikroskopischer Genauigkeit waren weitere Naturstudien, in denen Dürer einzelne Pflanzen- und Tierstudien wie die „Iris“ aus Bremen oder Details von Tieren wie das „Maul eines Rindes“ aus dem British Museum in London zusammenführte. Genutzt wurden sie in der Malerei, um den Umraum präzise ausgestalten zu können. Die Hans Baldung Grien zugeschriebene und nach einem Entwurf Albrecht Dürers entstandene „Madonna mit der Iris“ (um 1503–1507, The National Gallery, London) führt den Werkstättenbetrieb deutlich vor Augen: Die goldgelockte, ihre Kind stillende Madonna vom Typus der Madonna lactans sitzt auf einer Rasenbank. Wenn man sich am leuchtend roten Gewand stattgesehen hat, schweift der Blick über die Rasenfläche und nach rechts zu einem Weinstock und einer Pfingstrose, Symbole für die Passion und Auferstehung (weshalb die Pfingstrose der Legende nach keine Dornen hat). Die hochaufgerichtete Iris hinter Maria steht für ihren Schmerz. Doch die christliche Bedeutung stehen in dieser Schau nicht im Zentrum des Interesses, sondern die unglaubliche Präzision, mit der Grien diese Pflanzen ins Bild setzte. Um von der Verfügbarkeit dieser Blüten unabhängig zu werden, um den Schülern sein Kunstwollen zu verdeutlichen, um potenziellen Auftraggebern die Möglichkeiten vor Augen zu führen, aber sicher auch um sich selbst zu schulen, pflegte Dürer die hohe Kunst der aquarellierten Zeichnung.

Dürer-Hase oder doch der Hase des Polygnot?

Vier Blätter der Albertina bilden den Höhepunkt dieser Naturstudien: „Feldhase“ (1502), „Das große Rasenstück“ (1503), „Flügel einer Blauracke“ (um 1500) und „Tote Blauracke“ (um 1500) zeigen auch heute noch eindrucksvoll, was Dürers Hand hervorzubringen vermochte. Dabei sei der Hinweis erlaubt, dass der „Dürer-Hase“ nur auf den ersten Blick wie eine minutiöse Schilderung eines Feldhasen wirkt. Zum Faszinosum des Werks gehört, dass es arbeitsökonomisch konzipiert ist, wie Metzger betont. Für den Chefkurator der Albertina steckt hinter dem Trompe-l’œil [Augentrug] nicht nur eine „Fleißarbeit“, sondern vor allem das unter Humanisten gebräuchliche geflügelte Wort vom „Hasen des Polygnot“, vom „Polygnoti lepus“. Obschon Dürers Lateinkenntnisse eher mangelhaft waren, so bewegte er sich doch innerhalb der Gelehrtenkreise seiner Heimatstadt und schaffte den Aufstieg vom Handwerker zum international gerühmten Künstler und Delegierten der Stadt. Der Hase des Polygnot war von dem im 5. Jahrhundert v. Chr. tätigen Maler im Dioskuren-Heiligtum in Athen so lebendig geschildert worden, dass sein Schöpfer als „Erfinder“ des Realismus in der antiken griechischen Malerei gerühmt wurde. Im Spätmittelalter war der „Hase des Polygnot“ so berühmt „wie die Trauben des Zeuxis und die Fliege des Apelles“, so Metzger.

Zweite Venedigreise

Albrecht Dürer reiste im Sommer 1505 für insgesamt eineinhalb Jahre nach Venedig. Diese Reise ist nun gut dokumentiert, haben sich doch zehn Briefe an seinen Humanisten-Freund Willibald Pirckheimer erhalten, der auch die Finanzen für das Unternehmen vorstreckte. Dürer nahm, wie man aus den Briefen lernen kann, Tanzunterricht, lernte Italienisch, malte Porträts und mit dem „Rosenkranzfest“ und „Christus unter den Schriftgelehrten“ mindestens zwei weitere Werke. Zum höchsten Ruhm gereichte dem Nürnberger Künstler, dass der berühmte Giovanni Bellini sich in der Öffentlichkeit bewundernd über seine Gemälde äußerte.

Der zweite Venedig-Aufenthalt muss Dürer in seinen kunsttheoretischen Überzeugungen noch bestärkt haben. Der Künstler hatte um 1500 begonnen, sich mit der menschlichen Proportion und Idealmaßen auseinanderzusetzen. Der Kupferstich „Adam und Eva“ gibt davon beredt Auskunft. Wenn auch einige venezianische Künstler die fehlende Orientierung Dürers an der Antike bemängelten, so gelang es diesem doch, die süddeutsche Spätgotik mit den Erkenntnissen der italienischen Renaissance zu einer Synthese zu bringen.

Hände und Köpfe für Jesus unter den Schriftgelehrten, Rosenkranzfest und den Heller-Altar

In Venedig beschäftigte sich Dürer mit dem Konzept der Sacra Conversazione, der Darstellung von Heiligen und (meist) der Madonna auf engstem Raum, wie es beispielsweise Andrea Mantegna, in der „Anbetung der Könige“ (um 1495–1505) im The J. Paul Getty Museum, Los Angeles, vorführt. Das angeblich von Dürer in nur fünf Tagen ausgeführte (konzipierte?) Gemälde „Jesus unter den Schriftgelehrten“ (1506/07, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid) dürfte zum Teil von Hans Baldung Grien weitergeführt worden und unvollendet erhalten sein. Ausformulierte Teile wie der Kopf des jungen Jesus und nur aquarellierte Partien wie die Hände des karikaturhaften Schriftgelehrten rechts von ihm prallen abrupt aufeinander. Die blaugrundigen Zeichnungen, die im Rahmen der Arbeit am „Jesus unter den Schriftgelehrten“ entstanden sind, zeigen, dass der Künstler das Querformat bevorzugte. Häufig wurden die Blätter später auseinandergeschnitten, denn sie versammelten unterschiedliche Motive. So kombinierte Dürer auf einem Blatt den „Kopf des Jesusknaben“ aus dem oben genannten Bild mit dem „Kopf des Laute spielenden Engels“ (beide 1506) aus dem „Rosenkranzfest“ (Kopie aus dem frühen 17. Jahrhundert, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie). Doch auch hier kann Metzger abschließend feststellen, dass die „Details“ mehr als nur Vorstudien zu den Gemälden sein können. Sie sind perfekt ausgearbeitet, teils zu groß, vielfach zu detailreich ausgeführt, um überhaupt hilfreich für die aktuelle Arbeit zu sein.

Dürer sah nach der Rückkehr aus Venedig seine Kunst nicht mehr nur in einer dienenden Funktion. Jene technische Brillanz, die Dürers Druckgrafiken auszeichnet und erste Kunstsammler ansprach, wollte er für seine Malerei nicht einsetzen. Zu weit waren die Altäre vom Publikum entfernt. Zu wenig konnten sie seine „Hand“ und damit sein Talent würdigen. Als direkte Folge dieser „Kunstwerdung“ – also dem Wechsel von einer Funktion im sakralen Zusammenhang zum säkular, künstlerischen – kann der Disput des Künstlers mit dem vermögenden Frankfurter Ratsherren und Kaufmann Jakob Heller (um 1460–1522) gesehen werden. Dieser hatte einen Altar in Erinnerung an seine verstorbene Ehefrau in Auftrag gegeben. 1509 vollendete Dürer einen Dreiflügelaltar mit der Aufnahme Mariens und der Krönung im Zentrum, der beim Brand der Münchener Residenz 1729 verlorenging. Eine Kopie aus dem frühen 17. Jahrhundert gibt Aufschluss über die Komposition. Insgesamt haben sich 18 „Studien“ zum Heller-Altar auf blau grundiertem Papier erhalten. Die berühmten „Betenden Hände“ in der Albertina-Sammlung gehören zu einem der adorierenden Apostel in der Marienkrönung – und sind doch kaum lebensgroß dargestellt. Wie auch die „Kopfstudien“ und Draperiedetails sind „Die betenden Hände“ von technischer Brillanz und Hyperrealismus in der Auffassung.

Dürer als Maler

Naturgemäß ist die Albertina auf Leihgaben angewiesen, wenn sie Dürer als Maler präsentieren will. Neben den bereits genannten Gemälden wartet die Schau mit dem frühen „Herkules bekämpft die Harpyien“, der „Anbetung der Könige“ aus den Uffizien, der „Maria mit der Birnenschnitte“ (1512) und der „Marter der zehntausend Christen“ (beide aus dem Kunsthistorischen Museum) sowie zwei Männerporträts auf.

Vor allem die Florentiner „Anbetung“ fasziniert in ihrem Changieren zwischen Detailrealismus und großem Zug, dem überzeugenden Einsatz der steil in die Tiefe fluchtenden Hauswand. Das querformatige Bild dürfte von Kurfürst Friedrich III. von Sachsen in Auftrag gegeben worden sein und entspricht der italienischen Pala (im Gegensatz zum spätgotischen Polyptichon/Vielflügelalter). Im stehenden König könnte sich Dürer selbst verewigt haben, erinnert die Lockenpracht doch an das Münchner Selbstbildnis. Auch im „Rosenkranzfest“ und der „Marter des zehntausend Christen“ ist Dürer doppelt – durch seine Signatur wie auch seine Selbstporträts – als Augenzeuge anwesend.

Wenn auch der Hirschkäfer in der rechten unteren Ecke der „Anbetung“ übergroß gestaltet ist, so überzeugen die mannigfaltigen Details des Bildes. Dass Dürer angesichts solcher Arbeiten die Idee entwickelte, dass Feinmalerei für ein Altarbild „zu schade“ wäre, ist naheliegend. Wer würde aus größerer Distanz solche Feinheiten überhaupt wahrnehmen? Als Altarbild einer privaten Andachtskapelle macht diese „Anbetung“ deutlich mehr Sinn. Als Kunstwerk von der Hand Dürers erfüllt sie im modernen Museum wohl am meisten den Selbstanspruch des Malers.

Dürer, der Superstar

Seine Position als „Meister der Linie“ verteidigte Albrecht Dürer vor allem auf dem Gebieten der Druckgrafik, wie die großen druckgrafischen Zyklen „Große Passion“ und „Marienleben“ zeigen. Dazu kommen noch die sogenannten „Meisterstiche“, mit denen er 1513/14 seine Vorherrschaft im Kupferstich eindrucksvoll demonstrierte. Die druckgrafischen Erzeugnisse aus Dürers Werkstatt – Kupferstiche führte er selbst aus, während die Holzschnitte von professionellen Holzschneidern interpretiert wurden – sind in der Albertina immer wieder eingestreut, haben aber keinen Fokus. Viel wichtiger ist das gezeichnete Blatt. So konnte Christof Metzger „Die Grüne Passion“ wieder dem Dürer zuschreiben.

Während der 1510er Jahren dominierte die Arbeit für kaiserliche Aufträge das Geschehen in Nürnberg. Albrecht Dürer hatte schon um 1500 mit „Der maximilianische Reiter“ (1498) und dem Kupferstich „Der heilige Georg zu Pferd“ (1508) dem ritterlichen Kaiser Maximilian I. zu gefallen gewusst. Ab etwa 1512 arbeitete unter der Ägide von Albrecht Altdorfer an der „Ehrenpforte des Kaisers Maximilian I.“ (dat. 1515), ein diplomatisches Geschenk und das größte Druckwerk seiner Zeit. Zusätzlich konzipierte er gemeinsam mit Willibald Pirkheimer den „Großen Triumphwagen“, der Maximilian I. umgeben von Tugenden zeigt. Ab 1515 erhielt Albrecht Dürer sein Entgelt direkt vom Nürnberger Rat aus der Reichssteuer ausbezahlt. Dem Kaiser waren die Dienste Dürers 100 Gulden wert. Etwa ein halbes Jahr vor dem Tod Maximilians begegneten die beiden einander persönlich am Augsburger Reichstag. Das am 28. Juni 1518 datierte Kohleporträt zählt zu den eindrücklichen Menschenbildern des Renaissance-Malers und ist das einzige authentische von dem Herrscher. Es lässt die alternde Haut des knapp 60-jährigen Kaisers erahnen. Dürer schaffte es mit sparsamsten Mitteln, die wichtigsten Konturen einzufangen und in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Das Porträt wurde durchgepaust und diente als Vorlage für Holzschnittporträts, die deutlich weniger subtil mit den kaiserlichen Gesichtszügen umgehen. Der Tod Maximilians I. im Jänner 1519 traf Dürer finanziell schwer. Die Auszahlung seines jährlichen Fixums [Leibgeding] wurde sofort eingestellt.

Aus diesem Grund reiste Albrecht Dürer, begleitet von seiner Frau Agnes und der Magd Susanna, in die Niederlande und nach Aachen (→ Albrecht Dürer: Niederländische Reise). Auf dem Weg zur Kaiserkrönung von Karl V. am 23. Oktober 1520 im Aachener Dom passierte er Antwerpen (Zeichnung vom Hafen), studierte Trachten und fand ein 93-jähriges männliches Modell. Letzteres diente ihm als Ausgangspunkt für den „Hl. Hieronymus in der Studierstube“ (Lissabon). Zeichnungen von den Händen, dem Bücherstillleben und dem Totenschädel belegen auch noch am Ende der Schau die hohe Qualität der Albertina-Sammlung.

Aber auch die jahrelange Beschäftigung Christof Metzgers, unterstützt durch Julia Zaunbauer, ringt Respekt ab und ist im Kontext des hektischen Ausstellungsbetriebs zu würdigen. Die Verbeugung vor dem Genie Dürers ist höchst gelungen!

Kuratiert von Christof Metzger, kuratorische Assistenz Julia Zaunbauer.

Albrecht Dürer in der Albertina: Bilder

  • Albrecht Dürer, Selbstbildnis als Dreizehnjähriger, 1484, Silberstift auf grundiertem Papier (© Albertina, Wien)
  • Albrecht Dürer, „Mein Agnes“ (Agnes Dürer), 1494, Feder in Schwarz (© Albertina, Wien)
  • Albrecht Dürer, Bacchanal mit Silen, 1494, Feder in Braun (© Albertina, Wien)
  • Albrecht Dürer, Orientalischer Herrscher auf seinem Thron, um 1495, Feder in Schwarz (Washington, National Gallery of Art, Ailsa Mellon Bruce Fund © Courtesy National Gallery of Art, Washington)
  • Albrecht Dürer, Innsbruck von Norden, um 1495, Aquarell, Spuren von Deckfarben, mit Deckweiß gehöht (© Albertina, Wien)
  • Albrecht Dürer, Pastorale Landschaft mit musizierenden Hirten, 1496/97, Feder in Dunkelbraun, Aquarell und Deckfarben, mit Gold gehöht (Washington, National Gallery of Art, Woodner Collection © Courtesy National Gallery of Art, Washington)
  • Albrecht Dürer, Selbstbildnis als Akt, um 1499 (Weimar, Klassik Stiftung © Klassik Stiftung Weimar)
  • Albrecht Dürer, Feldhase, 1502 (© Albertina, Wien)
  • Albrecht Dürer, Der Flügel einer Blauracke, um 1500 (oder 1512) (© Albertina, Wien)
  • Albrecht Dürer, Das große Rasenstück, 1503 (© Albertina, Wien)
  • Albrecht Dürer, Anbetung der Könige, 1504, Öl auf Holz (Florenz, Gallerie degli Uffizi © Gabinetto Fotografico delle Gallerie degli Uffizi)
  • Albrecht Dürer, Grablegung Christi, 1504, Feder in Grau (Washington, National Gallery of Art, Syma Busiel Fund © Courtesy National Gallery of Art, Washington)
  • Albrecht Dürer, Maria mit den vielen Tieren, um 1506, Feder in Schwarzbraun, Aquarell (© Albertina, Wien)
  • Albrecht Dürer, Betende Hände, 1508 (© Albertina, Wien)
  • Albrecht Dürer, Bildnis eines Afrikaners, 1508, Schwarze Kreide (© Albertina, Wien)
  • Albrecht Dürer, Die Marter der zehntausend Christen, 1508, Öl, von Holz auf Leinwand übertragen (Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie © KHM-Museumsverband)
  • Albrecht Dürer, Bildnis eines bartlosen Mannes mit Barett, 1521, Öl auf Holz (
    Madrid, Museo Nacional del Prado)
  • Albrecht Dürer, Bildnis eines 93-jährigen Mannes, 1521, Pinsel in Schwarz und Grau, mit Deckweiß gehöht (© Albertina, Wien)
  • Albrecht Dürer, Junge Frau in niederländischer Tracht, 1521, Pinsel in Schwarz, Grau, weiß gehöht (Washington, National Gallery of Art, Widener Collection © Courtesy National Gallery of Art, Washington)

Beiträge zu Albrecht Dürer

16. Februar 2024
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Katharina Grosse wird 2023/24 für die Pfeilerhalle der Albertina eine raumgreifende und ortsspezifische Malerei entwickeln.
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Der Maler kündigt für Herbst/Winter 2023/24 eine Einzelausstellung in der Albertina an.
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Michelangelo, Studien für einen sitzenden Männerakt (Ignudo), Detail, 1508–1512, Rote Kreide, Blatt 26.8 x 18.8 cm (Graphische Sammlung Albertina, Wien, 120 SL.6.2017.46.5)

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Die Herbstausstellung 2023 ist dem großen Meister der Renaissance, Michelangelo Buonarroti, und seinem weitreichenden Einfluss in der Kunstgeschichte gewidmet. Mit Werken von Daniele da Volterra, Rosso Fiorentino, Baccio Bandinelli, Francesco Salviati oder Domenico Beccafumi bis zu Egon Schiele.
  1. Julia Zaunbauer, Christof Metzger, Gründung der Werkstatt, in: Christof Metzger (Hg), Albrecht Dürer (Ausst.-Kat. Albertina, Wien), Wien 2019, S. 107.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.