Erwin Wurm
Wer ist Erwin Wurm?
Erwin Wurm (* 27.7.1954, Bruck an der Mur) ist ein österreichischer Künstler der Gegenwart (→ Zeitgenössische Kunst). Bekannt wurde Wurm mit seinen „One Minute Sculptures“, für die die Ausstellungsbesucher:innen eine Minute lang absurde Posen einnehmen. Dabei auf einem Sockel platziert, verwandeln sich die Betrachter:innen zu Betrachteten. 2017 vertrat Erwin Wurm gemeinsam mit Brigitte Kowanz Österreich auf der Biennale von Venedig.
„Mein Arbeiten haben mit dem Neuen Realismus zu tun. Mit den Skulpturen und Arbeiten von Kollegen stelle ich zur Diskussion, dass Alles zum Kunstwerk werden kann, nicht nur Alltagsmaterialien, sondern auch die historischen Werke aus der Sammlung.“ (Erwin Wurm, 23.3.2017)
Erwin Wurm lebt und arbeitet in Wien und Limberg (AT).
Ausbildung
Erwin Wurm machte 1973 das Abitur in Graz und begann ein Studium der Kunstgeschichte und Germanistik an der Karl-Franzens-Universität Graz.
Nach einem Jahr inskribierte Wurm Kunst- und Werkerziehung (Bereich Bildhauerei) an der Hochschule für darstellende Kunst, Salzburg, das Studium absolvierte er von 1974 bis 1977.
Dem folgte ein Studium der Gestaltungslehre (Bereich Bildhauerei) an der Universität für Angewandte Kunst, Wien (bei Prof. Bazon Brock) von 1977 bis 1979; bis 1982 ein Studium der Gestaltungslehre an der Akademie der bildenden Künste, Wien. Im Jahr 1983 schloss Erwin Wurm sein Studium mit der Sponsion zum Magister artium ab.
Daraufhin trat er eine Assistentenstelle an der TU, Wien, Institut für plastisches Gestalten, an.
Werke
One Minute Sculptures
Mit den One Minute Sculptures reagierte Erwin Wurm auf eine alte kunstphilosophische Frage, die kurz vor 1800 Lessing und Goethe konfliktreich aufeinandertreffen ließ. Kann der mediale Unterschied zwischen Literatur (Musik) und bildender Kunst durch den Dualismus von Zeitkunst und Raumkunst Lessing’scher Prägung beschrieben werden? Raumkunst, Bildhauerei visualisiere die Zeit, so Lessing. Bereits Goethe widersprach in „Dichtung und Wahrheit“ diesem Konzept, indem er Zeitlichkeit (Konsekutivität) und Bildlichkeit (Simultaneität) zusammenführte.
Erwin Wurms Leistung bestand 1997 darin, die Grenzen der Bildhauerei mit Hilfe des Performativen zu erweitern. Die Idee ist so einfach wie komplex: Erwin Wurm zeichnet Handlungsanweisungen, markiert Orte in Ausstellungen und animiert Besucherinnen und Besucher, sich der körperlichen Erfahrung der teils skurrilen, teils humorvollen, teils körperlich herausfordernden Posen auszusetzen und für einen kurzen Moment zur Skulptur zu werden. Die frühe One Minute Sculpture „Ohne Titel“ (1995) markierte den Beginn der Arbeit Wurms mit der zeitbasierten Skulptur, die sich als Erweiterung des Skulpturenbegriffs manifestiert. Die erste Handlungsanweisung, der sich das Publikum in Graz konfrontiert sieht, lautet:
„MIT BEIDEN BEINEN IN EINEN ÄRMEL EINES PULLOVERS SCHLÜPFEN. OBERKÖRPER NACH VORNE BEUGEN UND DEN REST DES PULLIS ÜBER DEN KOPF ZIEHEN. EINE MINUTE STEHEN BLEIBEN.“1
Was als plakatartiges Bild begann, führte in die „Verkünstlichung“ des Publikums. In dieser Setzung stecken mannigfaltige Fragestellungen nach körperlicher Präsenz, Zeit und Raum, ein introspektiver Moment wie ein exhibitionistischer, eine Körperhaltung und eine Geistesbewegung, eine Grenzauflösung zwischen Kunst und Leben und so fort. Doch wie lässt sich ein so auf den ersten Blick einfaches wie auf dem zweiten Blick hintergründiges Projekt weiterentwickeln?
„Als ich zum ersten Mal bemerkte, dass die Leute über meine Kunst lachen, war ich schockiert. Ich ärgerte mich und dachte: „Was ist denn hier los? Da stimmt etwas nicht! Ich meine es doch ernst!“ (Erwin Wurm über die Reaktion des Publikums auf seine One Minute Sculptures)
Bislang stellte Erwin Wurm dem Publikum Platz und Requisiten zur Verfügung. „Bildhauerei“, so wurde der Künstler nicht müde zu betonen, „ist Arbeit am Volumen“2. Die Entwicklung der One Minute Scultpures aus Pullover- und Gewandarbeiten bzw. Videos vestimentärer und körperlicher Metamorphosen lässt auf die zentrale Fragestellung Wurm’scher Objekte blicken. Es geht ihm mitnichten um den kurzen, manchmal humoristischen Moment einer Verschiebung vom Alltäglichen in eine exponierte Position, sondern um klassische Fragen bildhauerischen Arbeitens. Volumen entsteht aber nicht nur durch Schichten und Legen von Körpern, sondern auch in Form von Klang. Waren die One Minute Sculptures Wurms bislang gedankenschwer aber sprachlos, so transformiert der österreichische Bildhauer seine Erfindung in „Lebende Bilder“. „Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach“ oder „Über ein Bett gehen und dabei einsinken wie im Schnee und eine Spur hinterlassen“ verkünden drei Performer dem Publikum in seiner Ausstellung im Kunsthaus Graz 2017.
Charakteristisch für Wurms Werk ist dessen ironisch-humorvoller Umgang mit Sprachbildern. Denn welches Bild entsteht in den Köpfen, wenn sie „Fußballgroßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach“ hören? Ein Subjekt, dessen Größe und Materialität nachvollziehbar eingegrenzt wird, trifft auf eine bildhafte Ortsangabe. Soll als Verb „liegt“ ergänzt werden, oder „fällt“ oder gar „explodiert“? In der semantischen Verkürzung erinnert der unvollständige Satz an einen Zeitungstitel. Kenner des Werks spüren wohl eine Reminiszenz auf die Vorliebe Wurms für den Fetisch Auto. Wurm aktiviert das Publikum und seine Vorstellungskraft, um „Wahrnehmung als körperliche Aktivität“ (Günther Holler-Schuster) erfahrbar zu machen.
Selbstporträt als Essiggurkerl
Dass Erwin Wurm Selbstironie nicht fernliegt, ist hinlänglich bekannt. Sein „Selbstporträt als Essiggurkerl“ zeigt ihn immerhin in 36-facher Variation als wichtige Zutat der Wurstsemmel. In Graz zeigt Wurm sein Alter-Ego „Der Gurk“ in einer gigantischen Fassung, immerhin 4 Meter 15 Zentimeter hoch, der Robert Rauschenbergs „Door“ (1971) wie einen Rucksack geschultert trägt. Das aus gefundenen Kartonschachteln komponierte Objekt des amerikanischen Künstlers Rauschenberg (1925–2008) verwandelt sich in ein Gepäckstück, an dem der Künstler (schwer) zu tragen hat?
„Man kann alles nach seiner skulpturalen Qualität befragen. Ob was dabei herauskommt, ist eine andere Frage. Gibt es eine Grenze von Skulpturalität, und wenn ja, wo liegt sie? Darüber denke ich seit Jahrzehnten nach. Kann der Begriff der Lächerlichkeit eine Skulptur sein? Ich versuche es immer wieder. Manchmal klappt es, manchmal nicht.“ (Erwin Wurm)
Lehre
- 2007–2010: Professur an der Universität für angewandte Kunst, Wien / Institut für Bildende und Mediale Kunst, Abteilung Bildhauerei und Multimedia
- 2002–2006: Professur an der Universität für angewandte Kunst, Wien / Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften – Kunstpädagogik
- 1996/97: Gastprofessur an der Universität für industrielle und künstlerische Gestaltung (Klasse für Bildhauerei), Linz
- 1993: Gastprofessur an der Ecole des Beaux Arts, Paris (Bildhauerei)
- 1983: Assistent an der TU, Wien, Institut für plastisches Gestalten
Auszeichnungen und Mitgliedschaften
- 2015: Würdigungspreis des Landes Steiermark für bildende Kunst
- 2014: Silbernes Komturkreuz des Ehrenzeichens für Verdienste um das Bundesland Niederösterreich
- 2014: Mitglied des Österreichischen Kunstsenats gewählt.
- 2013: Großer österreichischer Staatspreis
- 2013: Ehrenmitgliedschaft des ADC (Art Directors Club)
- 2007: „Künstler des Jahres 2007“ (gewählt von der Zeitschrift KUNSTJAHR 2007. Die Zeitschrift die Bilanz zieht. Nr. 7, Lindinger + Schmid, Regensburg, Deutschland)
- 2004: Kunstpreis der Stadt Graz
- 1993: Preis der Stadt Wien für Bildende Kunst
- 1991: Kunstpreis der Wiener Allianz
- 1984: Otto Mauer-Preis