Giorgio de Chirico

Wer war Giorgio de Chirico?

Giorgio de Chirico (Vólos 10.7.1888–20.11.1978) war ein italienischer Maler der Pittura Metafisica [ital. Metaphysischen Malerei]. Nach ersten Anfängen Ende 1908, in denen er Arnold Böcklin und Max Klinger folgte, entwickelte de Chirico ab Winter 1909/10 eine Malerei als Form der Erinnerung und indirekte Erzählung einer persönlichen Erfahrung. Es ging ihm mitnichten um das Erfassen der sichtbaren Welt, sondern um die Darstellung von ungewöhnlichen und rätselhaften Aspekten. Gemeinsam mi Carlo Carrà arbeitete Giorgio de Chirico während des Ersten Weltkriegs Bilder, in denen er die Rätsel der Zeit und die Stimmen der Vorahnung anklingen ließ.

Wenn auch seine Malerei in Italien nicht gewürdigt wurde, so übte Giorgio de Chirico während der frühen 1920er Jahre eminenten Einfluss auf die französische und deutsche Künstlerschaft auf. Sowohl die Künstler des Surrealismus wie auch der Neuen Sachlichkeit ließen sich von der Stimmung seiner Bilder wie auch seiner an der italienischen Renaissance geschulten Malweise inspirieren. Vor allem die Lektüre der Zeitschriften „Pittura metafisica“ und „Valori Plastici“ erweiterte die Kenntnis dieser neuen Kunstrichtung in deutschen Künstlerkreisen. Sie wurde wichtig für: Kurt Schwitters („Die Kathedrale“, „MERZbau“), George Grosz, Alexander Kanoldt, Oskar Schlemmer, Rudolf Schlichter, Anton Räderscheidt, Heinrich Hoerle, Gottfried Brockmann, Max Ernst, Salvador Dalí, Yves Tanguy.

Giorgio de Chirico ist auch heute noch vor allem für seine Bilder aus den 1910er Jahren berühmt. Darüber hinaus schuf er auch Druckgrafiken und einige wenige Skulpturen (nach 1940).

Kindheit in Athen und Ausbildung in München

Giuseppe Maria Alberto Giorgio de Chirico (Schreibweisen: Giorgio Di Chirico oder DeChirico) wurde am 10. Juli 1888 in Vólos, Griechenland, geboren. Seine Eltern waren Baron Evaristo Di Chirico (1841–1905), ein sizilianischer Ingenieur mit aristokratischer Abstammung, der im Eisenbahnbau durch Thessalien nach Griechenland tätig war, und Gemma Cervetto de Chirico (1852–1937) aus einer Genueser Adelsfamilie. Giorgio de Chirico hatte eine ältere Schwester namens Adélaïde, die kurz vor der Geburt seines jüngeren Bruders verstarb. Sein jüngerer Bruder Andrea Francesco Alberto de Chirico (1891–1952) wurde in Athen geboren; ab 1914 führte er den Künstlernamen Alberto Savinio und war als Komponist und Schriftsteller tätig. 1896 zog die Familie zurück nach Volos, wo sich der Vater um den Ausbau des Eisenbahnnetzes kümmerte. Der Vater unterrichtete beide Söhne im Zeichnen (ab 1896). Sein erstes Bild schuf Giorgio de Chirico mit „Stillleben mit Zitronen“ im Jahr 1900.

Zwischen 1899 und 1900 wurden Giorgio de Chirico und sein Bruder zuerst im italienischen Jesuitenlyzeum und dann von Privatlehrern ausgebildet. Parallel nahm er Zeichen- und Malstunden bei Émile Gilliéron, einem Mitarbeiter der Archäologen Heinrich Schliemann und Arthur Evans, der außerdem bei der kühnen und fantasievollen Wiederherstellung minoischer Wandmalereien auf Kreta federführend war. Ab dem Schuljahr 1900/01 besuchte de Chirico das Polytechnikum in Athen, wo er bis 1905/06 zum Ingenieur ausgebildet wurde. Seine Noten waren allerdings höchst bescheiden, eine Diploatenlaufbahn - wie sein Vater - war nicht denkbar. Parallel dazu studierte er Malerei bei Georgios Jakobides (1853–1932) an der neuen Hochschule der Bildenden Künste, da zu dieser Zeit die Malereiklasse des Polytechnikums ausgegliedert wurde.

Die Brüder de Chirico erinnerten sich an Volos vor allem als eine an Sagen und Mythen reiche Landschaft. Ihre unmittelbare Begegnung mit den thessalischen Bergen, dem Meer und den Wäldern entwicketen sie die Überzeugung, dass Spiritualität und Rätsel in der Natur selbst, in der irdischen Sphäre angesiedelt sind, nicht in einer inexistenten jenseitigen Welt.

Da de Chiricos Vater am 18. Mai 1905 verstarb, zog die Mutter mit ihren zwei Söhnen nach einem kurzen Aufenthalt in Venedig (20.9.) und dem Besuch der Weltausstellung in Mailand (incl. Besuch der Werkschau der Maler Giovanni Segantini und Gaetano Previati) am 2. Oktober 1906 nach München. Dort erhielten sie eine künstlerische Ausbildung. Der 18-jährige Giorgio bestand die Aufnahmeprüfungen und studierte bis 1909 an der Königlich-Bayerischen Akademie der Bildenden Künste, sein Bruder Alberto galt als Wunderkind und nahm Musikunterricht. Der erste Lehrer Giorgio de Chiricos waren Gabriel Ritter von Hackl (Zeichnung) und später der deutsche Maler und Bildhauer Franz von Stuck (1863–1928 → Franz von Stuck. Sünde und Secession). In München war Giorgio de Chirico von der Antikensammlung fasziniert. Er studierte eindringlich die Gemälde von Arnold Böcklin (1827–1901), Max Klinger (1857–1920), Alfred Kubin (1877–1959). Die ersten erhaltenen Werke de Chiricos datieren von Ende 1908; sie zeigen mythologische Figuren. Im Herbst wendet er sich mythologischen Sujets zu und behandelt sie unter dem Eindruck der deutschen Spätromantiker, allen voran Arnold Böcklin und Max Klinger.1 Zeit seines Lebens wird Giorgio de Chirico auf der Suche nach dem Mysteriösen im Hier und Jetzt sein.

Während dieser Zeit teilte sich de Chirico sein Studentenzimmer mit dem späteren Expressionisten, dem Griechen Jorgos (George) Busianis (1885–1959). Zu seinen Freuden zählte auch der deutsche Maler Fritz Gartz (1833–1960), der später der Stilrichtung des Expressiven Realismus zugerechnet wurde. Gartz fertigte 1908 ein frühes Portrait von de Chirico an. Giorgio de Chirico verließ die Kunstakademie noch vor Ende 1908, nach nur zwei Jahren und ohne Abschluss. Er zog in die Schwanthalerstraße 21, ins Bohèmeviertel der jungen, unabhängigen Künstler, die den akademischen Unterricht ablehnten. Im fünften Stock des Hauses teilte er sich ein Atelier mit seinem Freund Bouzianis. Dort entstand das Frühwerk de Chiricos.

Frühe Werke: Entdeckung der Metaphysik in Florenz (1910–1911)

Ende Mai 1909 zog Giorgio de Chirico zu seiner Familie nach Mailand, ohne dass er sein Studium abgeschlossen hätte. Kurz darauf besuchte er gemeinsam mit seinem Bruder die Biennale von Venedig. Giorgio und sein Bruder arbeiteten intensiv zusammen. Wie sein Bruder interessierte sich de Chirico für Musik und Philosophie. Beide lasen die Schriften von Arthur Schoppenhauer (1788–1860) und Friedrich Nietzsche (1844–1900), allen voran beeinflusste de Chirico „Also sprach Zarathustra“ und „Die Abenteuer des Pinocchio“ von Collodi. Das von seinem Bruder verfasste Melodram „Poema fantastico“ bildete für Giorgio einen Ansatzpunkt, selbst über persönliche Eindrücke und Erinnerungen der Kindheit in Griechenland in Form von mythologischen Metaphern nachzudenken. Die Brüder nahmen ab Ende August bei Domenico Fava, dem stellvertretenden Direktor der Biblioteca di Brera Lateinunterricht. Giorgio war fasziniert vom Klang der toten Sprache. In den fogenden zwei Jahren entwickete der als Maler eine neue Formensprache, inde er mit Versatzstücken der römischen Architektur arbeitete; er sah sie als Fragmente eines verschütteten Idioms, das er zu neuem Leben erweckte.

Im Spätsommer 1909 malte Giorgio de Chirico mit „Serenata“ das letzte Bild seiner sog. Böcklin’schen Phase – allerdings mit Brunnen und Januskopf. Der Kunsthistoriker Paolo Baldacci weist bereits in den im Winter 1908/09 entstandenen Werken nach, dass Giorgio de Chirico die zwei grundlegenden Prinzipien der metaphysischen Malerei entwickelte: „Malerei als Form der Erinnerung und als die indirekte Erzählung einer persönlichen Erfahrung mit emotionalem, intellektuellem oder psychologischem Charakter“2 De Chiricos Ziel war, mithilfe seiner Malerei die Rätsel der Welt, ihre Geheimnisse, ihre Spiritualität sichtbar zu machen. Dazu stellte er mythologische Figuren in Stadtlandschaften und Innenräume. Die Zeit gerinnt in de Chiricos Bildern zur ewigen Gegenwart, die Dinge besitzen eine Seele.

Im Oktober 1909 hatte de Chirico auf der Piazza Santa Croce in Florenz sein erstes „Offenbarungserlebnis“, spontan auftretende Visionen, in denen ihm die Kompositionen künftiger Bilder erscheinen. Im September und Oktober 1909 malte De Chirico, inspiriert durch Nietzsches Beschreibungen von gespenstisch leeren Plätzen mit Arkaden und Statuen sowie die Piazza Santa Croce, zu seinen ersten metaphysischen Bildern: „Das Rätsel des Orakels“ und „Rätsel eines Herbstnachmittags“: „Das Rätsel des Orakels [L’Énigme de l’oracle]“ und „Das Rätsel eines Herbstnachmittags [’Énigme d’un après-midi d’automne]“ (beide Sommer – Herbst 1909, Öl auf Leinwand, 42 × 61 cm, Privatsammlung). Darin übernahm Giorgio de Chirico architektonische Versatzstücke vergangener Epochen wie Arkaden, Tympanon, Turm, Rundtempel usw. und kombinierte sie mit Bildmotiven des nietzscheanischen Denkens sowie symbolischen Licht/Schattenzonen. Im Miteinander entfalten die Bildelemente wie Zeichen ihren psychischen Gehalt. Das Geschaute wird von de Chirico in eine poetische Bildsprache übersetzt, welche die Menschen in Staunen versetzen soll. Erste Versuche, seine Werke in Ausstellungen in Venedig, München und Mailand auszustellen, scheitern.

Ein halbes Jahr später, im März 1910, übersiedelte die Familie de Chirico nach Florenz. Die Architektur der Stadt, vor allem Brunelleschi, beeindruckten Giorgio sehr. In dieser Phase litt er an Anfällen tiefer Depression, die er später als „Schauer der Vorgeschichte“ bezeichnete, und suchte Entsprechungen für seinen Wunsch, das verborgene Wesen der Natur darzustellen. Obschon in diesen frühen Jahren entwickelt, schuf de Chirico in Florenz nur fünf Bilder: „Das Rätsel des Orakels“, „Das Rätsel eines Herbstnachmittags“ (inspiriert von der Piazza Santa Croce in Florenz), „Porträt des Bruders“, „Das Rätsel der Stunde“ (Privatsammlung) und das „Selbstporträt ´Et quid amabo…`“. Die geringe Produktivität liegt zum einen an Giorgio de Chiricos schlechtem Gesundheitszustand – seit dem Tod des Vaters plagen ihn immer wieder Darmleiden psychosomatischen Ursprungs – und zum anderen daran, dass er sich von seinem Bruder zur Mitwirkung an dessen musikalischen Aktivitäten verleiten ließ. Die musikalischen Kompositionen des Malers tragen die gleichen Titel wie seine Gemälde.

Am 15. Januar 1911 reisten Alberto und Gemma nach München, um ein Konzert zu geben. Der erste Auftritt, bei dem Alberto auch Werke von Giorgio spielte, wurde zu einem gänzlichen Fiasko. Der Maler entschloss sich daraufhin, seine musikalischen Experimente einzustellen. Daraufhin entschlossen sich Bruder und Mutter nach Paris zu gehen. Alberto etablierte sich rasch in der reichen griechischen Gemeinde in Paris als Pianist. Giorgio sollte nachkommen. Doch noch malter er im Winter 1910/11 „Das Rätsel der Stunde [L’Énigme de l’heure]“.

Paris (1911–1915)

Im Juli 1911 übersiedelte Giorgio de Chirico gemeinsam mit seiner Mutter nach Paris, wo sich der Bruder Alberto bereits seit Februar befand. Ein Grund dafür war, dass sich der Maler dem zweijährigen Wehrdienst entziehen wollte. Unterwegs hielten sie sich einige Tage in Turin auf. Die geometrische Anlage der Stadt, viele ihrer Bauten und Statuen prägten sich dem jungen Maler ins Gedächtnis ein und lassen sich vielen seiner in den folgenden Jahren entstandenen Gemälde wiederfinden. In Paris wohnte die Familie in der Rue de Chaillot 43. Giorgio de Chirico arbeitete weiter in aller Abgeschiedenheit wie schon zuvor in Florenz und erweiterte die Gruppe der frühen metaphysischen Bilder um „Morgentliche Meditation“, „Herbstliche Meditation“, „Porträt der Mutter“ und „Das Rätsel der Ankunft und des Nachmittags“ (Privatsammlung). Damit knüpfte er an die typisch orakelhaften und nietzscheanischen Themen der italienischen Periode an. Als Grundlage dienten ihm aus Italien mitgebrachte Zeichnungen.

Ab 25. Oktober 1911 galt Giorgio de Chirico als fahnenflüchtig. Kurz darauf wurden Recherchen begonnen, um ihn zu finden, was der Militärbehörde im Februar 1912 gelang. Der Maler musste sich Anfang März in der Kaserne in Turin melden. Da er keine Chance auf Freistellung hatte, floh er am 9. März. Obschon er nach nur wenigen Tagen desertierte, hinterließ die Stadt einprägsame Motive und Stimmungen. Die Bedeutung für den Maler erschließt sich u.a. aus der Geschichte Turins: Friedrich Nietzsche erlebte dort sein letztes Delirium; Carlo Alberto und Vittorio Emanuele II. regierten dort 1848/49.

Piazze d´Italia

Zwischen Mitte März 1912 und Spätfrühling 1914 malte de Chirico in Paris etwa 50 Gemälde und schuf ebenso viele Zeichnungen. Die Werke folgen alle mehr oder weniger dem gleichen kompositionellen Schema und wurden später als „Piazze d´Italia [italienische Plätze]“ zusammengefasst: Stadtlandschaften aus Turin mit Meer oder Mauer im Hintergrund, architektonische Versatzstücke und Figuren (Statuen) im Vordergrund. Melancholie, Nostalgie und Sehnsucht sprechen aus den Bildern.

Im Gegensatz zur Pariser Avantgarde der frühen 1910er Jahre arbeitete er an der Revolution der Inhalte und nicht der Formen (wie Futurismus und Kubismus). Diese Haltung hinderte ihn jedoch nicht daran formale Anleihen zu machen: Die von Linien unterteilten Farbfelder übernahm er von Paul Gauguin, die luftig synthetische Perspektive erinnert an Paul Cézanne, die durch Farbflächen aufgebaute Perspektive hingegen an Henri Matisse. Der frühe Kubismus von Pablo Picasso lehrte ihn die Vereinfachung der Körpermassen. Den Primitivismus von Amedeo Modigliani und Constantin Brancusi muss er ebenso geschätzt haben.

Im März 1913 stellte de Chirico zum zweiten Mal im Salon des Indépendants aus. Er war u.a. vertreten mit den Gemälden „Das Rätsel der Stunde“ und „Das Rätsel der Stunde und des Nachmittags“. Pablo Picasso (1881–1973) und der französische Dichter und Schriftsteller Guillaume Apollinaire (1880–1918) wurden auf ihn aufmerksam. Durch Apollinaire lernte er André Derain (1880–1954) und Constantin Brâncuși (1876–1957), aber auch seinen ersten Kunsthändler, Paul Guillaume, kennen. Über Paul Guillaume traf er Pierre Roy. Im Salon d`Automne verkaufte er sein erstes Bild.

1914 malte Giorgio de Chirico das Bild „Geheimnis und Melancholie einer Straße“ sowie das Porträt von Apollinaire mit der Einschussstelle im Schädel, das er ihm schenkte. Apollinaire widmete dem jungen Maler das Gedicht „Océan de terre“ (in: „Calligrammes“). Im Spätfrühling/Sommer 1914 änderte de Chirico seine Bildthemen und schuf figurative Metaphern für die Poesie als hellseherische Kunst und den Künstler-Poeten als modernen Troubadour, als Gliederpuppe (Schneiderpuppe / ital. manichino).

Im Salon des Indépendants war de Chirico vertreten mit „Die Sehnsucht nach dem Unendlichen“, „Freuden und Rätsel einer seltsamen Stunde“ sowie „Das Rätsel eines Tages“. Im Herbst brach der Erste Weltkrieg aus; Apollinaire wurde eingezogen und die Brüder de Chirico setzten darauf, als sich freiwillig meldende Deserteure Amnestie zu erhalten.

Ferrara (1915–1918): Pittura Metafisica und Erster Weltkrieg

Am 23. Mai 1915 erklärte Italien Österreich-Ungarn den Krieg. Da die Regierung für ehemalige Deserteure der Armee eine Amnestie aussprach, meldeten sich Giorgio de Chirico zusammen mit seinem Bruder Savinio am 31. Mai in Florenz zum Militärdienst. Beide Brüder erhielten den Bescheid, dass sie dem 27. Infanterieregiment in Ferrara zugeteilt wurden. Während Alberto sofort abreiste, blieb Giorgio aufgrund einer Erkrankung noch drei Wochen länger in Florenz. Am 31. Juli schrieb de Chirico an Guillaume, dass er und sein Bruder als untauglich für den Fronteinsatz eingestuft wurden und Schreibtätigkeiten in Ferrara zu verrichten hatten. Die Mutter folgte ihren Söhnen; zu dritt bezogen sie eine gemeinsame Wohnung. Aufgrund seiner militärischen Aufgaben konnte sich de Chirico nur in der Nacht dem Malen widmen. Das ruhige Provinzleben tat Giorgio de Chirico gut, auch wenn er sich in der neuen Umgebung anfangs unwohl fühlte. Kurz nach seiner Ankunft malte er „Das Spielzeug des Prinzen“ (Herbst 1915), mit dem er Abschied vom „Savoyischen Rätsel“ nahm. Die Formate sind nun kleiner als in der Pariser Periode, und die Bilder entstanden bei künstlichem Licht. Außerdem weichen eng anmutende, räumlich verwirrende Innenräume und Raumgefüge den weiten Platzanlagen der frühen metaphysischen Bilder.

„Was mich damals vor allem beeindruckte und auf der metaphysischen Seite inspirierte, waren manche Aspekte von Ferrareser Innenräumen, manche Schaufenster, manche Läden, manche Wohnungen, manche Viertel, wie etwas das alte Getto, wo Süßigkeiten und Kekse von ungeheuer metaphysischen und seltsamen Formen zu finden waren.“

In den folgenden Werken, darunter „Das Lied der Liebe“ (Juni/Juli 1914, MoMA, New York), wandte er sich dem (ortlosen) Stillleben, der „Metaphysik der gewöhnlichen Dinge“ zu, die er in hyperrealistischer Malweise à la trompe-l’œil ausführte, mit gesichtslosen Zeichenpuppen und antiken Statuen bevölkerte. Zudem integrierte de Chirico gerahmte Bilder und ab Ende 1916 naturgetreu gestaltete Landschaften in seine Kompositionen, was u.a. René Magritte und Salvador Dalí ab der Mitte der 1920er begierig aufgreifen werden. Indem er in Fensterausschnitten die „wirkliche Welt“ präsentierte, die unvermittelt auf die dicht gefüllten Innenräume stoßen, wollte er den Irrsinn der Welt an den Pranger stellen:

„Aus unerforschten Horizonten kehrt die schreckliche ist zurück, um in der ewigen Metaphysik, in der schrecklichen Einsamkeit einer unerklärlichen Poesie, etwas festzuhalten / zu fixieren: ein Biskuit, den aus zwei Wänden gebildeten Winkel, eine Zeichnung, die etwas von der Natur der verrückten und sinnlosen Welt evoziert / aufruft, die uns in diesem dunklen Leben begleitet.“3

Im August 1916 lernten die Giorgio de Chirico den Schriftsteller Filippo de Pisis (1896–1956) kennen, der einen ersten Artikel über den Maler veröffentlichte (11. Oktober 1916 in „Gazetta Ferrarese“). Der Maler ließ sich um den 10. April 1917 durch die Vermittlung der Familie Tibertelli de Pisis in das psychiatrische Militärhospital für kriegsbedingte Nervenkrankheiten, die Villa del Seminario, einweisen. Dort lernte er den italienischen Maler Carlo Carrà kennen, einem Hauptvertrer des Futurismus, der sich gerade auf einem neuen Weg befand. Der Leiter Gaetano Boschi ermöglichte ihnen auch künstlerische Tätigkeit; es entstanden einige der wichtigsten Werke der „pittura metafisica“ in diesen Monaten. Giorgio di Chirico arbeitete an einer Reihe von Hauptwerken, in denen große Gliederpuppen im Außenraum, auf der Piazza dominieren. So symbolisiert das Bild „Hektor und Andromache“ den Abschied des einberufenen Soldaten von seiner Braut, bevor er an die Front versetzt wird.

Das Jahr 1918 brachte für Giorgio de Chirico eine Reihe von Ausstellungsbeteiligungen, neue Kontakte mit dem Schriftsteller Giuseppe Raimondi (1898–1985) in Bologna, eine Erkrankung an der Spanischen Grippe (Oktober) und Reproduktionen seiner Gemälde, u.a. in der ersten Nummer der Zeitschrift „Valori plastici“ von Mario Broglio (1891–1948). Damit besaß die Pittura Metafisica ein äußerst wichtiges Verbreitungsorgan, die rasch zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die Zeitgenossen wird wie u.a. die Maler der Neuen Sachlichkeit. Ende des Jahres wurde der Maler nach Rom versetzt, um im Kriegsministerium zu arbeiten.

Metaphysische Schule

Giorgio de Chirico traf sich häufig mit Giorgio Morandi (1890–1964), Carlo Carrà (1881–1966), Ardengo Soffici (1879–1964), Filippo de Pisis und Savinio. Die Gedanken und Gespräche aus diesen Zusammenkünften bilden die Grundlage zu der später so genannten „metaphysischen Malerei“, die in den 1920ern als „scuola metafisica [metaphysische Schule]“ bezeichnet wurde. In ihren Arbeiten verbanden sie reale, imaginäre und traumähnliche Elemente, wodurch sie Kompositionsstrategien der Surrealisten vorwegnahmen. Gleichzeitig wollten die Künstler „den Sinn der jahrhundertelangen Tradition der italienischen Malerei bewahren, die im Laufe der Zeit, von einer tölpelhaften Pfuscherei und sezessionistischer Einfaltspinselei abgelöst wurde“. De Chirico befasste sich mit der Malerei und Architektur der italienischen Renaissance. Dabei ging es ihm vor allem um die exakte Konstruktion der Zentralperspektive und den Trompe-l’œil Effekt, sowie Architekturelemente wie Arkaden und Loggien, die er als Raumbühne verwendete. Seit seinem Frühwerk bediente er sich einer kühlen, präzisen Formgebung, die nicht von allen Malern der Pittura Metafisica übernommen wurde (z.B. de Pisis). Seine Bilder der „Piazze d´Italia“ zeigen eine unmittelbare Nähe zu Pietro della Francescas (1410/20–1492) „die Ideale Stadt“, der Rotunde in Peruginos (1445/48–1523) „Die Hochzeit der Jungfrau Maria“ und auch Raffaels „Sposalizio“.

Von 1919 bis 1925 lebte Giorgio de Chirico in Rom. Seine Ausstellungen wurden in Italien verrissen, seine Kunst nicht verstanden.

Zweiter Aufenthalt in Paris (1919–1925)

De Chirico schloss sich 1926 der konservativen Künstlergruppe „Novecento“ an, die sich erstmals 1922 in Mailand präsentierte. Die Idee der Bewegung war, die sogenannte Rückkehr zur Ordnung „ritorno all´ordine“, die sich an den Sujets des Spätmittelalters und der Renaissance orientierte. Gründerin und Koordinatorin der Gruppe war die Kunstkritikerin, Schriftstellerin und Geliebte Benito Mussolinis, Margherita Sarfatti (1880–1961). Das beherrschende Thema in de Chiricos Bildern war zu dieser Zeit, die des Doppelgängers. In denen er sich neben seiner Mutter, seinem Bruder, oder sich mit einem Spiegel in Szene setzte. Auch Themen der griechischen Mythologie, Pferde, Portraits und Stillleben interessierten ihn. Seine Stillleben bezeichnete er als „schweigsames Leben“.

Die Arbeiten de Chiricos aus diesen Jahren gehören zur Metaphysik „des Lichts“ und sind dem mediterranen Mythos verpflichtet: neue „Gliederpuppen“, die „Archäologen“, die „Pferde am Meer“, die „Landschaften im Zimmer“, die „Möbel in der Ebene“, die „Gladiatoren“. Damit feierte er ab 1927 große Ausstellungserfolge in Europa und den USA.

Späte Werke von de Chirico

Ab 1930 bediente sich Giorgio de Chirico einer betont barocken und pathetischen Malweise im klassischen, akademischen Stil. Da er damit nur wenig wirtschaftlichen Erfolg hatte, wiederholte er seine erfolgreichsten metaphysischen Bilder der 1910er und 1920er Jahre. Diese Selbstreflexion und die Kopistentätigkeit einiger Zeitgenossen erschwert bis heute das Erkennen von "authentischen" Bildern de Chiricos.

Rezeption

De Chirico war unter anderem für Künstler wie René Magritte (1898–1967), Paul Delvaux (1897–1994), Salvador Dalí (1904–1989), Yves Tanguy (1900–1955), Max Ernst (1891–1976), Kurt Schwitters, Oskar Schlemmer und Carel Willink (1900–1983) eine große Inspiration. Max Ernst entdeckte im Spätsommer 1919 in der Münchner Buchhandlung Goltz die Zeitschrift „Valori Plastici“. Kurz darauf veröffentlichte er die Grafikfolge „FIAT MODES“, die er als Huldigung von Giorgio de Chirico verstand. Neben Max Ernst reagierte auch Kurt Schwitter unmittelbar auf den italienischen Künstler, vor allem das Werk „Der große Metaphysiker“ (Herbst 1917). Ab 1923 arbeitete Schwitters in seiner Wohnung in Hannover den MERZbau aus Sperrholz und Fundstücken. Die bis 1937 weiterentwickelte Installation wurde 1943 bei einem Luftangriff mit dem Haus zerstört.

Magritte entdeckte 1923 de Chiricos Bild „Das Lied der Liebe“ in einer Zeitschrift. Er war davon tief beeindruckt und nahm Mitte der 1920er Jahre das Motiv des „Bildes im Bild“ auf, um ein Verwirrspiel zwischen Realität und Irrealität zu initiieren. Dalí besaß in den 1930ern de Chiricos „Metaphysisches Interieur (mit Sanatorium)“.

Literatur zu Giorgio de Chirico

  • Giorgio de Chirico. Magie der Moderne, hg. v. der Staatsgalerie Stuttgart, Paolo Baldacci, Christiane Lange, Gerd Roos (Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, 18.3.–3.7.2016), Dresden 2016.
  • Arnold Böcklin – Giorgio de Chirico – Max Ernst. Eine Reise ins Ungewisse (Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, 3.10.1997–18.1.21998; Haus der Kunst München, 5.2.–3.5.1998; Nationalgalerie Berlin 20.5.–10.8.1998), Bern 1997.

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  1. Annabelle Görgen-Lammers, in: Giorgio de Chirico (Ausst.-Kat. Haburger Kunsthalle), S. 50–65.
  2. Paolo Baldacci, Die drei Metaphysiken von Giorgio de Chirico. Mailand und Florenz – Paris – Ferrara, in: Giorgio de Chirico. Magie der Moderne, hg. von der Staatsgalerie Stuttgart, Paolo Baldacci, Christiane Lange, Gerd Roos (Ausst.-Kat. Staatsgalerie Stuttgart, 18.3.–3.7.2016), Dresden 2017, S. 14–37, hier S. 16.
  3. Giorgio de Chirico, Wir Metaphysiker, hg. v. Wieland Schmied, Berlin 1973, S. 41.