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Bethlehemitischer Kindermord nach Raffael – eine Majolika-Schale aus dem MAK Raffaels erste Zusammenarbeit mit Marcantonio Raimondi als glasierte Keramik

Anonym, Bethlehemitischer Kindermord, nach Raffael und Marcantonio Raimondi, Detail, Urbino 1535 bis 1555, Schale (MAK, Glas und Keramik, Inv.-Nr. KE 3597)

Anonym, Bethlehemitischer Kindermord, nach Raffael und Marcantonio Raimondi, Detail, Urbino 1535 bis 1555, Schale (MAK, Glas und Keramik, Inv.-Nr. KE 3597)

Diese Schale mit der Darstellung des Bethlehemitischen Kindermord befindet sich in der Glas und Keramik-Sammlung des MAK. Die glasierte und mit charakteristischen Gelb- und Blautönen bemalte Keramik stammt aus der Frühzeit der italienischen Majolika, der Renaissance. Als „Vater“ der Kunstrichtung wird Luca della Robbia genannt, der sie zwar nicht erfand, aber sie zu einer Kunstform erhob, indem er plastische Arbeiten in glasiertem Ton anfertigte. Nach dem Tod von Raffael dürfte Meister Giorgio Andreoli in Gubbio erstmals Motive aus dessen Druckgrafiken als Inspirationsquellen verwendet haben. Eine in die zweite Hälfte der 1520er Jahre datierte Schale in Sèvres' Cité de la céramique zeigt eine Kompilation aus Raimondis Stichen nach einem antiken Relief und Raffaels „Urteil des Paris“ (Inv.-Nr. 2470.5).1 Guidobaldo II. della Rovere (1514–1574), Herzog von Urbino (reg. 1538–1574), ließ dezidiert Keramiken nach Druckgrafiken des Meisters bemalen. Die hier gezeigte Schüssel gehört zu den seltenen Stücken.

Farbige Majolika aus Italien, wie diese hier gezeigte, diente den Eliten zum täglichen Gebrauch und wurde vor allem in Urbino und Castel Durante (heute Urbania) mit Motiven aus Druckgrafiken von Albrecht Dürer, Michelangelo Buonarroti und Raffael, aber auch Illustrationen in historischen Abhandlungen bemalt.2 Nicola da Urbino (um 1480–1540/1547) wurde nicht ohne Grund der „Raffael der Majolica“ genannt.3

Raffael lässt sich stechen

Zu Lebzeiten Raffaels und vor allem auch nach seinem frühen Tod 1520 entstanden in der Werkstatt des Druckgrafikers Marcantonio Ramondi etwa 140 Kupferstiche nach den Werken bzw. Motiven Raffaels. Neben der florierenden Malerei und der Großbaustelle Sankt Peter sowie weiterer Projekte im Dienste zahlreicher Auftraggeber betrieb der aus Urbino stammende Maler ein erfolgreiches Geschäft mit Stichen nach seinen Zeichnungen. Allerdings gibt es keine schriftlichen Quellen, wie man sich die Zusammenarbeit zwischen dem hochaktiven Künstler und dem Kupferstecher Marcantonio Raimondi vorzustellen hätte. Genauso wenig ist über Vertrieb, Käufer, Preise bekannt. Insgesamt hat Marcantonio Raimondi mit seinen Mitarbeitern ein Konvolut von ca. 140 Stichen angefertigt, was an sich schon ein Hinweis auf die gute Marktlage gedeutet werden kann. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die Zeichnungen Raffaels nicht mehr nur für die Vorbereitung seiner Werke innerhalb des Werkprozesses eine Rolle spielen, sondern für so wertvoll erachtet werden, dass sie als Druckgrafiken verbreitet werden: Zeichnungen, die zur Vorbereitung eines Gemäldes entstanden sind, wurden als Kupferstiche „zweitverwertet“.4 Damit konnten Raffaels „Ideen“, die „Zeugnisse seiner Inventionskraft“ (Anne Bloemacher) materialisiert und vermarktet werden. Die Genese des „Bethlehemitischen Kindermords“ ist dafür besonders aufschlussreich.

Raffaels Biograf Lodovico Dolce (1508–1568) berichtet, dass der in Rom ansässige Künstler in Austausch mit Albrecht Dürer auch dessen Druckgrafiken – Holzschnitte und Kupferstiche – kennengelernt und diese in seinem Atelier aufgehängt hatte. In der Folge zog auch er in Betracht, seine Zeichnungen und Entwürfe in Druckgrafik zu übersetzen. Marcantonio Raimondi hatte in seinem Frühwerk Dürers Holzschnittfolge „Marienleben“ in Kupferstichen kopiert; in Rom arbeitete er weiter nach Dürer. Damit schulte sich Raimondi an Dürer und wurde um 1510 der führende Spezialist auf diesem Gebiet in Rom. Von den heute erhaltenen mehr als 630 als eigenhändig akzeptierten Zeichnungen Raffaels stehen etwa 48 in Zusammenhang mit Kupferstichen Raimondis. Davon haben nur 15 Zeichnungen den Charakter einer Modellzeichnung wie „Der Bethlehemitische Kindermord“. Ein Blick auf die letzte Studie zeigt, wieviel Spielraum Marcantonio Raimondi zur Vollendung der Komposition gelassen wurde!

Bethlehemitischer Kindermord: die Bildgenese

Die Bildidee des „Kindermords“ geht auf Raffaels Arbeit in der Stanza della Segnatur zurück, wie in der derzeit zu sehenden Raffael-Ausstellung in der Albertina dargelegt wird (→ Raffael in der Albertina). Er überlegte, ob er nicht ein Urteil des Salomo an der Decke darstellen könnte. Dafür entwickelte er die Figur eines dramatisch ausholenden Schergen, der das salomonische Urteil vollstrecken sollte. Das Thema wurde für die Stanza verworfen, doch die Figur fand Eingang in die Komposition zum „Bethlehemitischen Kindermord“. In mehreren querformatigen Blättern bereitete Raffael die Figurenanordnung vor, der Hintergrund bleibt ungestaltet. In einer vorbereitenden Zeichnung aus dem British Museum wurden die Konturen nur jener Figuren durchstochen, mit denen weitergearbeitet wurde.

Um 1510 bis 1512 stach Marcantonio Raimondi den „Bethlehemitischen Kindermord“. Da von einer Kupferplatte nur 60 bis 200 Abzüge in sehr guter Qualität angefertigt werden können, stach er vermutlich zwei oder drei Jahre später eine zweite Fassung mit leicht veränderter Form (z.B. Fehlen der Tanne rechts). Vielleicht gehen die Korrekturen, die Raimondi vornahm noch auf Raffael selbst zurück, da sie für die Kohärenz der Komposition bedeutend sind.

Im Stich verwendete Raimondi erstmals die Bezeichnung „inve.“ für „invenit [erfunden]“. Allerdings kombiniert er es noch mit seinem eigenen Monogramm. Erst in den folgenden Druckgrafiken ist die vollständige Beschriftung „RAPH URBI INVE ●MA●“ zu finden, womit die Trennung zwischen Erfinder der Bildidee und dem (nur) ausführenden Stecher nachvollzogen werden kann. Dass sich die Zusammenarbeit zwischen Raffael und Raimondi auch wirtschaftlich rentiert haben muss, belegt die hohe Anzahl von Grafiken, die auch noch nach dem frühen Tod Raffaels 1520 erschienen: In 30 Jahren stach Raimondi ca. 300 Stiche, davon ca. 140 nach Raffaels Zeichnungen. Auf das an Druckgrafiken interessierte Klientel kann nur noch über andere Quellen geschlossen werden. Jedenfalls gab es eine enge Verbindung zwischen Künstlern und Humanisten, die ihre Werke – auf visuelle oder literarische Art – austauschten. Vielleicht waren frühe Sammler von Druckgrafiken auch Kunstkenner und/oder Liebhaber von Zeichnungen, die so vervielfältigt wurden.5 Die hohe Nachfrage nach diesen berühmten Kompositionen bewirkte, dass sich auch in anderen Gattungen vervielfältigt wurden: die italienische Majolika, ein bemaltes Luxusgut, eignete sich vorzüglich für die weitere Popularisierung des „Bethlehemitischen Kindermords“. Spätestens ab den 1520er Jahren wurden in Urbino und Pesaro massenhaft mit Raffael-Motiven nach Kupferstichvorlagen bemalt.

Literatur

  • Timothy Wilson, Italian Maiolica and Europe. Medieval, Renaissance, and later Italien pottery in the Ashmolean Museum, Oxford, with some examples illustrating the spread of tin-glazed pottery across Europe (Ausst.-Kat. Ashmolean Museum, Oxford, 2017) Oxford 2017.
  • Françoise Barba, Majolique. L’age d’or de la Faïence italienne au XVIe siecle, Paris 2016.
  • Gudrun Knaus, Invenit, incisit, imitavit. Die Kupferstiche von Marcantonio Raimondi als Schlüssel zur weltweiten Raffael-Rezeption 1510–1700, Berlin 2016.
  • Anne Bloemacher, Die Idee als Ware. Marcantonio Raimondis Kupferstiche nach Raffael: Luxusprodukt oder Massenware?, in: Christof Jeggle, Andreas Tacke, Markwart Herzog, Mark Häberein, Martin Przybilski (Hg.), Luxusgegenstände und Kunstwerke vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Produktion – Handel – Formen der Aneignung, Konstanz/München 2015, S. 155–184.
  • Timothy Wilson, Coupe. Le Jugement de Pâris, in: Majolique. La faïence italienne au temps des humanistes 1480–1530 (Ausst.-Kat. Musée national de la Renaissance, château d’Ecouen, 11.10.2011–6.2.2012), Paris 2011, S. 114.
  • Michael Bury, The Taste for Prints in Italy to c. 1600, in: The Print Quarterly 2 (1985), 12–26.

Bethlehemitischer Kindermord nach Raffael: Bilder

  • Anonym, Bethlehemitischer Kindermord, nach Raffael und Marcantonio Raimondi, Detail, Urbino 1535 bis 1555, Schale (MAK, Glas und Keramik, Inv.-Nr. KE 3597)
  • Anonym, Schale mit der farbig gemalten Szene des Kindermordes in Betlehem, vor einer Brücke stattfindend, im Hintergrund eine Stadtansicht, nach einem Vorbild aus der Raffael-Werkstatt, Urbino, 1535 bis 1555 (MAK, Glas und Keramik, Inv.-Nr. KE 3597)
  • Marcantonio Raimondi, Der Bethlehemitische Kindermord, Feder, 33 x 49,3 cm (Albertin, Inv.-Nr. 343)
  • Marcantonio Raimondi nach Raffael, Der Bethlehemitische Kindermord, um 1510, Kupferstich, 27,4 x 42,7 cm (Albertina, DG1970/270)

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  1. Timothy Wilson, Coupe. Le Jugement de Pâris, in: Majolique. La faïence italienne au temps des humanistes 1480–1530 (Ausst.-Kat. Musée national de la Renaissance, château d’Ecouen, 11.10.2011–6.2.2012), Paris 2011, S. 114.
  2. Siehe: Timothy Wilson, Italian Maiolica and Europe. Medieval, Renaissance, and later Italien pottery in the Ashmolean Museum, Oxford, with some examples illustrating the spread of tin-glazed pottery across Europe (Ausst.-Kat. Ashmolean Museum, Oxford, 2017) Oxford 2017, S. 131–145, besonders S. 139.
  3. Françoise Barba, Majolique. L’age d’or de la Faïence italienne au XVIe siecle, Paris 2016, S. 130.
  4. Es finden sich keine (sic!) Reproduktionsstiche nach ausgeführten Werken! Deshalb sind sich nicht als Reproduktionsstiche zu benennen. Siehe: Anne Bloemacher, Die Idee als Ware. Marcantonio Raimondis Kupferstiche nach Raffael: Luxusprodukt oder Massenware?, in: Christof Jeggle, Andreas Tacke, Markwart Herzog, Mark Häberein, Martin Przybilski (Hg.), Luxusgegenstände und Kunstwerke vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Produktion – Handel – Formen der Aneignung, Konstanz/München 2015, S. 155–184, hier S. 157.
  5. Michael Bury, The Taste for Prints in Italy to c. 1600, in: The Print Quarterly 2 (1985), 12–26, hier S. 22.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.