Carol Rama

Wer war Carol Rama?

Carol Rama (Turin 17.4.1918–25.9.2015 Turin) war eine italienische Malerin des 20. Jahrhunderts. Rama war Autodidaktin und beschäftigte sich vorwiegend mit erotischen Motiven. Sie begann Mitte der 1930er Jahre zu malen; ihre erste Ausstellungsbeteiligung fand zehn Jahre später statt.

Heute ist Carol Rama vor allem für ihre surreal-erotischen Aquarelle der Frühzeit bekannt. Sie entrüstete als Zwanzigjährige mit ihrer erotischen Aquarellserie „Appassionata [Die Leidenschaftliche]“ das Publikum. Seit 1937 entstand eine eigene Ausdruckswelt drangsalierter Körper, seit den 1970er Jahren schuf Rama Materialbilder, die voller phallischer Phantasien stecken. Ihre späteren Arbeiten zeigen eine stärkere Großzügigkeit in der Linienführung und der Komposition. Carol Rama war wenig bekannt, bis Kuratorin Lea Vergine die Künstlerin 1980 in der bedeutenden Ausstellung „L’altra metà dell’avanguardia“ zeigte. Der daraufhin eintretende Erfolg ermutigte Rama, sich erneut mit ihrem Aquarell-Stil der 1930er Jahre auseinanderzusetzen.

Kindheit

Olga Carol Rama wurde am 17. April 1918 in Turin als jüngste Tochter von Marta Pugliaro (1889–1972) und Amabile Rama (1890 – 1942) geboren. Ramas Eltern waren erst ein Jahr zuvor nach Turin übersiedelt, nachdem sie zuvor sechs Jahre in Argentinien gelebt hatten. Amabile Rama war ein kleiner Hersteller in der Maschinenbauindustrie, der Automobile unter der Marke „Sintesi“ sowie ungewöhnliche Unisex-Fahrräder unter der Marke „OLT“ produzierte.

Ein Großteil von Ramas frühesten Erinnerungen stammt aus dem Fabrikleben. Während eines Großteils der 1920er Jahre florierten das Unternehmen. Die Familie gehörte zum gehobenen Mittelstand, und Carol Rama nahm Reitunterricht. Sie erinnerte sich an eine unbeschwerte Zeit, in der die Familie zu Hause Opernarien sang und sich verkleidete. Unter den Mitarbeitern von Ramas Fabrik in der Via Digione 17 in Turin befand sich Vittorio Valletta, der 1927 die „Sintesi“ verließ, um seine Talente in den Dienst von FIAT zu stellen. Und nach der Gründung von FIAT ging es mit der Firma von Carol Ramas Vaters wirtschaftlich schwierig zu werden; als Carol noch ein Kind war, ging die Firma in Konkurs.

Es folgten harte Jahre für die zuvor wohlhabende Familie Rama, die auch gesellschaftlich ausgegrenzt wurde. Rama bemerkte: „Ich begann, Ablehnung und Spott aus denselben Kreisen zu erfahren, die mich zuvor mit Privilegien überhäuft hatten.“ Nachdem Marta eine kurze Zeit lang an einer neurologischen Störung gelitten hatte, die zu einem Krankenhausaufenthalt in der Klinik „I due pini“ in Turin führte, war sie gezwungen, ihre eigene Tätigkeit zu gründen, die 1933 als „Einzelhandel mit Modeaccessoires und Neuheiten, Kleidungsstücken und Pelzen“ registriert wurde. .

Ausbildung

Während des Nervenzusammenbruchs ihrer Mutter war Rama noch eine Heranwachsende. Häufige Besuche in der Anstalt erwiesen sich für ihre weitere Entwicklung als ausschlaggebend:

„Ich habe mich in dieser Umgebung wohl gefühlt. Dort begann ich, Manieren und Erziehung ohne kulturelle Vorbereitung oder Etikette zu entwickeln.“

Die Beobachtung der ungewöhnlichen, weltfremden Charaktere in der Anstalt und das Aufsaugen dieser Atmosphäre hat auf die angehende Künstlerin eine befreiende Wirkung, die ihre gesamte Ästhetik und Weltanschauung prägte. Obschon sie Rama an der Kunstakademie eingeschrieben hatte, fand sie dort keine Anleitung. Sie schwänzte den Unterricht und brach schlussendlich das akademische Training ab.

1942 starb Carol Ramas Vater, dem sie sehr nahestand, vermutlich beging er Selbstmord. Von ihm sind nur noch wenige Aquarellporträts erhalten, die in den unmittelbar vorangegangenen Jahren entstanden waren. Zwischen 1942 und 1943, als Turin das Ziel schwerer Bombenangriffe war, wurden Carol, ihre Schwester Emma und ihre Mutter aus Case Rama evakuiert. Ihr malerisches Schaffen ging in diesen schwierigen Jahren drastisch zurück.

Werke

Die als exaltiert geltende Rama bewegte sich jahrzehntelang außerhalb des Kunstbetriebs. Sie kann keiner Kunstrichtung zugeschrieben werden, bewegte sie sich doch zwischen den Positionen. Ramas Kunst steht in Beziehung zur organischen Abstraktion, zum Surrealismus, zur Konkreten Kunst und Porno Brut.

Gleichzeitig konnte sie ihre Präsenz stets bekräftigen: Carol Rama stellte über ein halbes Jahrhundert lang regelmäßig aus und präsentierte fast jedes Jahr Einzelausstellungen, hauptsächlich in Norditalien. Ramas übergeschlechtliche, vulgäre, schmutzige und entstellte Körper brachten Anstand und strenge Normen in Aufruhr und stellten die rechtsextreme nationale Politik der damaligen Zeit direkt in Frage.

Frühe Aquarelle

1933 arbeitete sie an ihren ersten Bildern. Von Anfang an besaß Carol Rama intuitiv einen selbstbewussten Stil, ihre eigene Linienführung, ihr Thema und ihre verdrehte Perspektive. Als Medium der Verdünnung und Verschmutzung, des Ausblutens und Verschüttens war die Aquarelltechnik genau das Richtige für die junge Künstlerin, die von Körpern, Körperöffnungen, Flüssigkeiten und ihrem intersubjektiven Austausch fasziniert war. In ihren frühen Aquarellen wird die Farbe im Allgemeinen sparsam aufgetragen, in blassen Lasuren oder kaum, mit strategischen, lebendigen Interpunktionen, die die Aufmerksamkeit auf wichtige erogene Zonen lenken: Münder, Zungen, Brustwarzen, Vagina und Phallus aber auch dem Anus. Von allen Körperöffnungen bevorzugt Rama den Mund, da er – ihrer Ansicht nach – das Verlangen am meisten repräsentiere. Ihre Aquarelle gestalten die menschliche Anatomie neu, amputieren und ordnen Gliedmaßen neu, richten Körperöffnungen neu aus und bringen physiologische Funktionen durcheinander. Ramas Frauen werden oft ohne Arme, ohne Beine oder beides dargestellt und wirken gebrochen wie beschädigte klassische Ruinen aus der antiken Vergangenheit Italiens.

Selbstporträts

1940 war der Beginn einer lebenslangen Beziehung zum Maler Felice Casorati. Ende der dreißiger Jahre malte Carol Rama auch etwa 20 Ölbilder auf Leinwand mit einem weniger rauen Inhalt. Es handelt sich vor allem um Selbstporträts, bei denen die Coulees zunächst flach aufgelegt sind, in einer Weise, die an einige der frühen Gemälde von Felice Castorati erinnert. Die Künstlerin stilisierte die Gesichtszüge jedoch so stark stilisiert, dass sie verschwinden; Gesicht und Körper reduzierte sie auf klumpige Farbkleckse. Im Jahr 1945 wurde die Eröffnung einer Ausstellung eine Reihe früher Aquarelle in der Galerie Faber in Turin durch Polizei verhindert. Der Vorwurf an die Künstlerin war, dass ihre Bilder obszön, abscheulich und überaus beleidigend seien.

Abstraktion

Seit 1946 pflegte Carol Rama eine enge Freundschaft zu dem Dichter Edoardo Sanguineti. 1948 nahm sie erstmals an der Biennale in Venedig teil. 1950 erfolgte eine Zusammenarbeit mit der Gruppe „Movimento Arte Concreta“ und entstanden Kontakte zu den Neo-Surrealisten wie Italo Cremona (1905–1979).

In den frühen 1950er Jahren verband Carol Rama bewegte Rauten und Quadraten zu unregelmäßigen geometrischen Kompositionen. Oft waren die Formen durch lange Spinnenlinien verbunden oder bildeten ein gerichtetes Feld angedeuteter Bewegung. Bücher aus dieser Zeit in ihrem Regal bestätigen formale Nähe zu Paul Klee und Wassily Kandinsky sowie den Einfluss des Kubismus, insbesondere von Pablo Picasso, dessen große Ausstellung 1953 in Mailand in der italienischen Szene für Aufsehen sorgte.

Innerhalb des Jahrzehnts entwickelte sich ihre Abstraktion zu eher malerischen, pastosen, gestischen Leinwänden, die mit dunklen, strukturierten Formen durchzogen sind, die wie Wunden oder Narben wirken, siehe das schwarze Monochrom mit dem Titel „Melodramma“ (1960). Um die Mitte der fünfziger Jahre begann Rama, die geometrischen Konventionen der konkreten Kunst nach und nach aufzubrechen. Bewegung und gleichzeitiges Experimentieren mit neuen Materialien und Techniken.

Carol Rama wurde in den 1960er Jahren stark von der experimentellen sprachlichen und visuellen Poesiebewegung von Novissimi beeinflusst. Viele der Autorinnen dieser Bewegung beanspruchten den „weiblichen“ Blick als Werkzeug zur Kritik der vorherrschenden Ideologie, die Szene war paradoxerweise männlich.

Assemblagen mit Fahrradschläuchen

Ab 1970 begann Rama, Fahrradschläuche in ihre Arbeit zu integrieren. Sie schnitt sie in Stücke, breitete sie flach aus, hängte sie an ein Gemälde und drapierte sie schlaff über skulpturale Strukturen, schlaffe Bündel langer, hohler Paspeln. Die Reifen, deren Farbe von Schwarz bis zu sattem Rostocker reicht, waren immer mit Erinnerungen an ihren toten Vater und seine Fabrik verbunden; formal spiegeln sie auch die überfüllte Vielzahl von Schwänzen und Schlangen in ihren frühen Aquarellen sowie allgemeinere Bedeutungsträger wider von Mobilität, Durchblutung, Klempnerarbeit und Abschwellung. Mit Titeln wie „Le Guerra e astratta [Krieg ist abstrakt]“, „Arsenal“ und „Presagi di Birnam [Omen von Birnam]“ werden Ramas Gummicollagen und -assemblagen in Bezug zu Kampfkraft, Trümmern, Massenwaffen und Massentod gesetzt.

Nachdem Carol Rama mehr als 30 Jahre lang abstrakt gemalt hatte, kehrte sie zur Figuration zurück. 1979 waren ihre zuvor von den Behörden zensierten Arbeiten der 1930er und 1940er Jahre erstmals in einer Ausstellung mit einem Dutzend früher Aquarelle in der Galleria Matano in Turin zu sehen. Während ihrer Rückkehr zur figurativen Bildgestaltung, die bis zu ihrem Tod im Jahr 2015 andauerte, wurde Rama vom Rinderwahnsinn [bovine spongiforme Enzephalopathie] inspiriert, die Ende der neunziger Jahre zu einem weltweiten Medienrummel führte. Sie schuf eine Reihe collagierter Gemälde mit dem Titel „La Mucca Pazza [Die verrückte Kuh]“, in denen aufgedunsene Euterformen aus Leder und Gummi dominiert und auf gebrauchten Postsäcken angeordnet sind.

Die Fondazione Sandretto brachte mehr als 150 Werke von Carol Rama in ihrer Sammlung unter. 2010 wurde die Associazione Archivio Carol Rama gegründet, die sich der Dokumentensammlung und Forschung zu Carol Rama widmet.

Carol Ramas Atelier

„Schwarz ist die Farbe, die mir beim Sterben hilft. Ich würde am liebsten alles schwarz anmalen, es ist eine Art Verbrennung, eine Art wunderbare Qual […]“ (Carol Rama)

Die Decken der Wohnung sind hoch und dunkel. Anthrazitgraue und altbeige Wände sorgen im Zusammenspiel mit den dunklen Holzböden, Türen, Möbeln und Artefakten für zusätzlichen Schatten in den Räumen. Vor ihren Fenstern waren schwere schwarze Vorhänge zugezogen. Der Blick auf die Alpen habe sie von ihrer Arbeit abgehalten, begründete Carol Rama einmal die Verwandlung ihrer Dachgeschosswohnung in der bürgerlichen Via Napione in eine „Höhle“ der Kreativität und zugleich der Angst. Nichts ist seit ihrem Tod in den vier Räumen verändert worden.

Über siebzig Jahre lang wohnte Carol Rama in dieser Wohnung in der Via Napione 15 in Turin und wurde zu einer Erweiterung ihrer selbst, ihrer Persönlichkeit und ihrer einzigartigen künstlerischen Visionen. An einem festen Tag in der Woche öffnete sie ihre Werkstattwohnung für Freund:innen und Intellektuelle. Seit 2019 ist das Wohnatelier von Carol Rama nun wieder öffentlich zugänglich.

Teils Museum, teils Anstalt, teils Apotheker, teils Reliquienschrein, teils anthropologisches Archiv: Ramas Zuhause ist überfüllt mit kleinen Skulpturen, Talismane, Reliquien, Masken, exotischen Figuren, Puppen, Miniaturanhängern, ungewöhnlichen Tchotchkes, Artefakten, Schuhen und Schuhformen, Gefäßen, gläsernen Parfümflaschen, Perlenstränge, von ihr hergestellte Schmuckstücken, hängenden Ornamenten, Ausstellungsplakaten, Radierungen, Gemälden und Bildern. Kisten, Kisten, Schubladen und Regale sind vollgestopft mit Gummistreifen, Maßbändern, Hämmern, Scheren, Pinseln, Markern, Bleistiftspitzen, Aquarellkuchen, Pastellkreiden, Pigmentfläschchen, Tintengläsern und Flashe-Farbe. Scheinbar zufällige Objekte erhalten eine allegorische Aufladung und spiegeln Aspekte ihrer Persönlichkeit wider.

An den Wänden hängen Fotografien der Künstlerin mit berühmten Kolleg:innen: Andy Warhol, Marcel Duchamp, Man Ray, Pier Paolo Pasolini, Liza Minelli oder Meret Oppenheim, mit ihnen allen lichtete sich die Autodidaktin ab.

Ausstellungen

  • 1980: „L’altra metà dell’avanguardia [Die andere Hälfte der Avantgarde]“, Palazzo Reale in Mailand, kuratiert von Lea Vergine
  • 2003: Carol Rama erhielt den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk auf der Biennale Venedig.
  • 2004: Carol Rama, Retrospektive in der Fondazione Sandretto Re Rebaudengo in Turin
  • 2004/05: „Carol Rama – Appassionata“, TAXISPALAIS Kunsthalle Tirol, Innsbruck (4.12.2004–30.1.2005)
  • 2009: Carol Rama, Galerie Isabella Bortolozzi in Berlin
  • 2012: „Carol Rama. Böse Zungen“, Kunsthalle Düsseldorf (21.4.–24.6.)
  • 2014/15: Carol Rama, MACBA Barcelona (31.10.2014–22.2.2015)
  • 2015: Carol Rama, Musée d'Art Moderne de Paris
  • 2017: „Carol Rama: Antibodies“, New Museum in New York (26.4.–10.9.2017)
  • 2022: Carol Rama, Lévy Gorvy, Paris (17.3.–23.4.2022)
  • 2023: „Action, Gesture, Paint: Women Artists and Global Abstraction 1940–1970“, Fondation Vincent van Gogh, Arles (3.6.–22.10.2023); Whitechapel Gallery in London; Kunsthalle Bielefeld
  • 2024: Carol Rama, Schirn Kunsthalle Frankfurt

Tod

Carol Rama starb am 25. September 2015 in Turin. Die Künstlerin wurde 97 Jahre alt.

Literatur zu Carol Rama

  • Carol Rama: Antibodies, hg. v. Helga Christoffersen und Massimiliano Gioni (Ausst.-Kat. New Museum), New York 2017.
  • Anne Dressen, Teresa Grandas e Beatriz Preciado, The Passion According to Carol Rama, Barcelona 2014.
  • Maria Cristina Mundici, Bepi Ghiotti, Carol Rama. Il magazzino dell’anima, Mailand 2014.
  • Gianna Besson, Carol Rama casta sfrontata stella, Turin 2012.
  • Marco Vallora (Hg.), Carol Rama, Mailand 2008.
  • Alexandra Wetzel (Hg.), Catalogo ragionato dell’opera incisa, Turin 2006.
  • Guido Curto e Giorgio Verzotti (Hg.), Carol Rama, Mailand 2004.
  • Luigina Tozzato und Claudio Zambianchi (Hg.), Edoardo Sanguineti – Carol Rama, Turin 2002.
  • Cristina Mundici (Hg.), carolrama, Mailand 1998.
  • Achille Bonito Oliva, Carol Rama, dal presente al passato, 1994–1936, Mailand 1994.
  • Paolo Fossati (Hg.), Carol Rama, Turin 1989.
  • Lea Vergine (Hg.), Carol Rama, 1985 Mailand.