Gerhard Richter und das Rheinland ist eine nunmehr über sechzigjährige Geschichte. 1961 konnte der knapp 30-jährige Maler aus der DDR nach West-Deutschland fliehen und ließ sich überreden in Düsseldorf zu studieren. An der Akademie traf er Gleichgesinnte wie Sigmar Polke und Konrad Lueg, hier lernte er Vorbilder und Reizfiguren wie Joseph Beuys kennen (→ Gerhard Richter: Biografie). Die jungen Galerien in Düsseldorf und Köln zeigten früh Richters Werke, und die Sammler:innen – von Privatpersonen bis zu Unternehmen – ermöglichten ihm ein Leben als Künstler. Was sonst in Privaträumen und rheinischen Museen verstreut hängt, lässt Richters Überzeugungen und Werk, Selbstzweifel und Selbstkritik, Neuanfänge und Endpunkte seiner Kunst reahnen.
Deutschland | Düsseldorf:
Kunstpalast
5.9.2024 – 2.2.2025
Die Ausstellung im Kunstpalast bietet mit etwa 120 Arbeiten aus 40 privaten, großteils ungenannten Sammlungen wahrhaftig eine Einführung in alle Schaffensphasen von Richters Abstraktion. Die Schau beginnt mit der Fotomalerei, führt über strenge wirkende Farbtafeln und "Graue Bilder" zu den "Weichen Abstraktionen" der 1970er Jahre fort. Dazwischen blitzen hyperraelistisch gemalte und gleichzeitig koloristisch verfremdete Wolken auf. Eine Wand versammelt Kleinformatiges oder scheinbar Unvollendetes rund um die enigmatische Edelstahl-Kugel Richters. Ab den 1980er Jahren wird das Werk buntfarbig, danach finden sich Fotoübermalungen und mehrschichtig gerakelte Abstraktionen aus den Jahren vor 2017. Richters monumentalste Gemälde in Düsseldorf können bei ERGO, also hinter dem Kunstpalast, kostenlos besichtigt werden!
"Kuh" (15) von 1964 ist zwar das älteste Werk Richters in der Ausstellung mit retrospektiven Charakter, dennoch wird sie mit dem großformatigen "Fenster" (204) aus dem Jahr 1968 eingeleitet, das dem Kunstpalast selbst gehört. Die Ausstellung mit diesem "Schattenbild" zu eröffnen, macht Sinn, wenn man den Kopf kurz nach oben wendet und die enorme Höhe der Tageslichtgalerie und ihre Fensterkonstruktion betrachtet. In ihr spiegelt sich gleichsam Richters Konzept von "Fenster", das geometrische Formen in abgestuften Grautönen zusammenbringt, so dass die Assoziation mit einem Fensterkreuz entsteht. Oder könnte auch der klassische Topos vom Bilderrahmen als Fenster hier greifen?
Der Kunstpalast ermöglicht einen Blick auf Richters Werk, der vom Geschmack rheinischer Sammler:innen geprägt ist – auch was die unterschiedlichen Rahmungen der Werke angeht. Doch zurück zur Malerei: Hier zeigt sich schnell, dass die verwischte Fotomalerei, die für Richters ab 1962 entstandenes Frühwerk zu Recht charakteristisch ist ("Hundekopf (Lassie)" (80-1), 1965; "Quelle" (145-4), 1967), bei rheinischen Sammler:innen gefühlt zugunsten der "Grauen Bilder" ins Hintertreffen gerät. Umso aufschlussreicher ist das genaue Schauen bei den in ähnlichen Grautönen gestrichenen oder getupften Abstraktionen, vor allem auch im Kontrast zu den expressiver gemalten "Sternenbildern" (1969). Je nach Lichteinfall werfen die Werke unterschiedliche innerbildliche Schatten und lassen die speckig aufgetragene Ölfarbe verschieden aufleuchten.
Dazwischen hängt Kurator Markus Heinzelmann zwei selten zu sehende Gemälde mit erotischen Motiven ("Studentin" (149), 1967; "Schwestern" (153), 1967) sowie fast an Trompe-l'œil-Effekte erinnernde Darstellungen von aufgerissenen oder aufgerollten Blättern sowie leicht geöffneten Türen. Wären sie nicht ebenso in Grau auf Weiß gehalten, könnte man angesichts dieser Arbeiten von Hyperrealismus fabulieren - was dem Künstler keineswegs gerecht würde. Denn nichts liegt Gerhard Richter ferner, als ein Foto genau abzumalen oder von einem subjektiven, von der Tagesverfassung geleiteten Strich zu fabulieren. Ebenso lehnte er (zumindest auf der documenta 1977) die Formulierung von der "Malerei über Malerei" ab.
Zumindest bei "1 Röhre" (59c, 1965/68), für das Richter eine über zwei Meter hohe Pappröhre so bemalt hat, dass sie wie Metall wirkt und Licht reflektiert, kann man ihm Recht geben. Die Schattierung, die in der gegenständlichen Malerei zur Raumdarstellung eingesetzt wird, mutiert in dieser experimentellen Arbeit zu einem Muster, das "1 Röhre" von vorne betrachtet eine helle Vorderseite und zwei dunkle Seitenpartien verleiht - unabhängig vom tatsächlichen Lichteinfall. Handelt es sich also um ein bemaltes Objekt, bei dem der Bildträger dreidimensional in den Raum tritt? Ist es ein Spiel mit der Wahrnehmung? Hinterfragt Richter damit die Konventionen der Malerei und damit die Übereinkunft zwischen Kunst und Betrachter:innen, wie etwas zu lesen und zu interpretieren ist?
Innerhalb des Werks kann "1 Röhre" mit den seit 1964 entstandenen Vorhang-Bildern in Verbindung bringen. Gerhard Richter stellte die "1 Röhre" im Entstehungsjahr in Den Haag aus, wo er gemeinsam mit Lueg und Polke eine Ausstellung zum "Kapitalistischen Realismus" in der Galerie Orez bestritt (10.7.-5.8.1965). Gerhard Richter zeigt sich hier minimalistisch und konzeptuell vielschichtig, existiert diese "Röhre" doch in drei Versionen, die sich in den Dimensionen aber nicht grundlegend in ihrem Aussehen unterscheiden. In den 60er Jahren setzte sich der Maler intensiv mit dem Werk von Marcel Duchamp auseinander und besuchte noch vor der Eröffnung seiner eigenen Ausstellung in Den Haag die Duchamp-Ausstellung in Krefeld (19.6.-1.8.1965). Er griff Duchamps Ready-mades auf und widersetzte sich zugleich dem Konzept, indem er auf seiner Tätigkeit als Maler beharrte. Wie wichtig die "Röhren" für den Maler waren, lässt sich wohl am besten daran ablesen, dass er 1968 eine zweite Serie schuf, die er im folgenden Jahr im Zentrum für aktuelle Kunst in Aachen zeigte. Dort konnte der Künstler einen ersten größeren Sammlerkreis für seine Kunst begeistern.1
Mit Wolkenbildern, komplexen Seestücken, expressiven Parkskizzen, der außergewöhnlich farbigen "Wolkenstudie (abstrakt)" (278) von 1970) im Kontrast zur grautonigen "Weinernte" (195, 1968) aus dem Besitz von Andreas Gursky und dem Großformat "Alpen II" (213, 1968/69) setzt die Ausstellung mit Richters Landschaften fort. Erst mit den beiden Gemälden "1024 Farben (358-1 und 2, 1974), so scheint es, findet leuchtende, ungebrochene Buntfarbe Eingang in das Werk des Malers. Doch ihnen gegenüber stehen die "Grauen Bilder" der frühen 70er Jahren, von denen eingangs bereits die Rede war.
Zu den großen Momenten der Ausstellung gehören für mich die "Weichen Abstraktionen" (1977–1980): "Abstraktes Bild (422, 1977), "Abstraktes Bild" (436, 1978) und "Abstraktes Bild" (430, 1978) im Original zu sehen. Mit ihnen eröffnete sich Gerhard Richter einen völlig neuen Zugang zur Abstraktion, indem er die Farbe unendlich weich verrieb. Gerhard Richter hat in den letzten Jahren mehrfach geäußert, dass er sie als "manieriert" und "unfrei" empfindet2:
"Das einzige, was ich nicht schlecht fand, war, dass die meisten Leute die Bilder nicht verstanden; manche mochten sie, andere nicht, aber verstanden haben sie sie nicht. Das war besser als bei der Ausstellung in Chicago, wo ich die Farbtafeln und die Grauen Bilder gezeigt habe, und die Leute sagten: 'Genau solche monochromen Bilder haben wir auch.'"3
Auch wenn sich ihr Schöpfer von dieser Werkgruppe distanziert hat, so zeugt sie doch von seinem Versuch, Farbe unhierarchisch einzusetzen. Wie und ob dies gelingen kann, bleibt vor allem angesichts der Originale zu diskutieren, in denen leuchtende, reine Gelbtöne schlammigen Brauntönen gegenüberstehen. Mit diesen sogenannten "Weichen Abstrkationen" forderte sich Richter selbst heraus, indem er zunächst Ölskizzen auf Papier dafür anfertigte oder Ausschnitte aus größeren abstrakten Gemälden auswählte - wie für "Ausschnitt (Makart)" (288) von 1971. Diese fotografierte Richter ab - siehe für "Abstraktes Bild" (422) das Blatt 405 im "Atlas" - und übertrug diese Aufnahme dann mit Hilfe eines Diaprojektors in Malerei. So wie er sich zuvor mit der Materialität und Wiedergabequalität von Fotografie auseinandergesetzt hatte, so spielt nun das Projektorlicht und die Schärfeeinstellung des Objektivs für die weichen Konturen eine große Rolle. Damit blieb Richter seinem Konzept treu und öffnete sich dennoch einer neuen Form abstrakten Gestaltens. Wenn Kurator Markus Heinzelmann in seinem Katalogbeitrag anmerkt "Im Rheinland werden sie [die weichen Abstraktionen, Anm. AM] bis heute einfach gemocht", kann ich mich dem nur anschließen.
Mit Richters abstrakten Werken seit 1980 ist der Bann der farbigen Malerei endgültig gebrochen: gerakelte Farbbahnen zwischen Kalkül und Zufall, Kontrolle, Überlagerung und Abtragung. Die in der "Weichen Abstraktion" entstandene Tiefenräumlichkeit der Bilder lässt sich nun in der Gegenüberstellung von Farbnebeln und Farbflächen und -strichen fortsetzen. Das Nebeneinander wird gern zum Übereinander und die zeitliche Dimension des Werkprozesses zur räumlichen Erweiterung des Bildfeldes. Sei es die intensive Farbigkeit, sei es der zum Teil gestische Pinselduktus, diese Bilder sind in den 80er Jahren entstanden und bilden einen Strang im Narrativ des Jahrzehnts der Neuen Wilden Malerei (→ Neue Wilde | Junge Wilde). Umso überraschender muss es für das zeitgenössische Publikum gewesen sein, dass Richter sich nicht allein darauf konzentrieren wollte und neben der Abstraktion auch die Fotomalerei weiterhin betrieb. In Düsseldorf versinken "Troisdorf" (572-2, 1985) und "Geseke" (637-3, 1987) im Nebel, 1994 verwischte er "Rosen" (799-2) und an dem Porträt seines Sohnes "Moritz" (863-3, 2000/2001/2019) arbeitete er fast zwei Jahrzehnte.
Die Ausstellung endet mit Werken aus dem Jahr 2017: "Abstraktes Bild" (950-1) und "Abstraktes Bild" (950-2) schließen den malerischen Werkkomplex Richters ab. Das Kolorit ist gedämpfter, die Strukturen komplexer. Seitdem ist der Künstler noch als Zeichner tätig und überarbeitet Fotografien in Öl. Aber das ist eine andere Geschichte.
Kuratiert von Markus Heinzelmann, Ruhr-Universität Bochum.