Der Impressionismus fasziniert auch anderthalb Jahrhunderte nach seiner Entstehung weltweit. Vor allem die Malerei mit ihrem lockeren, skizzenhaften Pinselfluss, der reichen und hellen Farbpalette und den alltäglichen Sujets vermittelt ein Gefühl von Aufbruch und Modernität. Bis heute weniger erforscht und einem breiten Publikum unbekannt ist hingegen die Vielfalt des Impressionismus in der Skulptur – und hier setzt die Ausstellung im Frankfurter Städel an. Dabei ist es historisch belegt, dass die Diskussion über den Impressionismus in der Skulptur mit der Präsentation von Edgar Degas’ Werk „Kleine vierzehnjährige Tänzerin“ (1878/81) auf der sechsten Impressionisten-Ausstellung 1881 in Paris ihren Anfang nahm (→ Sechste Impressionisten-Ausstellung 1881). Das Städel Museum startet erstmals einen Dialog zwischen den Medien, indem Skulptur in Bezug zu Gemälden, Papierarbeiten und Fotografien des Impressionismus gesetzt werden.
Deutschland | Frankfurt a. M.: Städel Museum, Ausstellungshaus
9.5 – 25.10.2020
Diese Frage haben sich bereits die Impressionisten selbst gestellt und kontrovers diskutiert. Zentrale Werke wie Degas‘ veristische „Kleine vierzehnjährige Tänzerin“ und Rodins plastisches Werk gehören heute zum Kanon der französischen Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die stilistisch dem französischen Impressionismus nahestehen. Nahestehen? Nun, wer als Definition des Impressionismus nur das helle und leuchtende Kolorit und den schnellen Pinselstrich gelten lässt und bei impressionistischen Werken an (scheinbar) spontane Wiedergabe von Sinneseindrücken (besser: bewusst gesehenes Motiv) denkt, wird bei der Übertragung auf Skulptur prima vista seine liebe Not haben. Die Modernität der impressionistischen Malerei mit dem Bruch der Künstler mit traditionellen Bildthemen und Motivwelten zu erklären, ist den neuen Ansätzen in der Plastik – vor allem in den Werken von Edgar Degas (1834–1917), Auguste Rodin (1840–1917), Medardo Rosso (1858–1928), Paolo Troubetzkoy (1866–1936) und Rembrandt Bugatti (1884–1916) – schon deutlich näher. Damit ist auch schon das Fünfergespann genannt, das die Kuratoren Alexander Eiling und Eva Mongi-Vollmer in vorbildlichen Kunstwerken vorstellt. Ihnen zur Seite stehen Bildhauer wie Antoine Bourdelle, Camille Claudel, Ernesto Bazzaro, Leonardo Bistolfi, Ferruccio Crespi, Paul Gauguin – aber auch der Grafiker Eugène Carrière und italienische „Scapigliati“ wie Giovanni Segantini und Tranquillo Cremona. Die Malerei des Impressionismus ist durch Werke von Edouard Manet, Pierre Bonnard, Mary Cassatt, Max Liebermann, Henri Matisse, Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir, Giovanni Boldini und John Singer Sargent vertreten. Fotografien von Eugène Druet und Jacques-Ernest Bulloz tauchen Rodins Figuren in mystisches Hell-Dunkel.
Impressionistische Skulptur ist, soviel sie an dieser Stelle schon einmal vorausgeschickt, hauptsächlich im Bereich der Plastik anzutreffen, in Wachs oder in Ton modellierten und dann in Bronze gegossenen Werken.1 Ziel der Künstler war es, die vermeintliche Schwere der Materie aufzuheben, indem sie mithilfe einer unruhigen Oberfläche das Lichtspiel zum eigentlichen Thema erhoben. Dem schnellen Pinselstrich entsprechen dabei die Spuren der Finger im feuchten Ton. Dem Aspekt des scheinbar Unvollendeten, Flüchtigen, Skizzenhaften wird durch die sorgsame Ausarbeitung nach dem Guss genauso Rechnung getragen wie der Frage nach dem einzigartigen Meisterwerk innerhalb einer reproduzierenden Kunstform. Ein weiteres Phänomen ist die Unschärfe, mithilfe derer Figur und der sie umgebende Raum miteinander verschliffen werden. Modernität im Sinne einer neuen, an der bürgerlich-städtischen Lebenswelt orientierten Motivwahl lässt sich vor allem bei den Italienern Troubetzkoy und Bugatti feststellen. Während Degas sich seriellen Darstellungen von Tänzerinnen in verschiedenen Haltungen und Posen widmete, schufen Rodin und Rosso Werke mit überzeitlichen Themenstellungen, die dem Symbolismus verpflichtet sind.
Auf den acht Impressionisten-Ausstellungen waren (1874–1886) insgesamt nur 17 Skulpturen zu sehen. Das entspricht 0,9 % der insgesamt rund 2000 Kunstwerke, denn knapp zwei Drittel davon waren Gemälde. Wenig verbindet Paul Gauguins „La Toilette“, präsentiert im Jahr 1886, mit den klassizistischen Skulpturen von Auguste-Louis-Marie Ottin (1811–1890) aus der Ersten Impressionisten-Ausstellung 1874. Zugegeben wirken vor allem Ottins traditionelle Skulpturen, „Büste von Ingres“ (1840) und „Junges Mädchen, eine Vase tragend“ (um 1861?), die in der Ausstellung Monets „Das Mittagessen“ (1868/69) aus dem Städel flankieren, wie fehl am Platz. Auch wenn der erste Raum der Ausstellung mit den Werken von Gauguin und Ottin drei Skulpturen aus den Impressionisten-Ausstellungen vereinen kann, ergibt sich in der Zusammenschau mit den Gemälden und Grafiken ein heterogenes Bild, das mehr verwirrt als klärt.
Neben den Marmor- und Holzskulpturen Gauguins stellt somit Degas‘ „Kleine vierzehnjährige Tänzerin“ aus Wachs und Textilien das wichtigste plastische Werk in allen acht Avantgarde-Schauen dar. Er präsentierte sie in der Sechsten Impressionisten-Ausstellung 1881. Die harsche Kritik an dem Werk ließ keine weitere öffentliche Präsentation auf diesen ersten Versuch mehr folgen. Die vielen plastischen Darstellungen von Tänzerinnen, Badenden, Rennpferden und ihren Jockeys nutzte Degas fortan nur noch in seinem Atelier, um sich um Haltungen und Verkürzungen klar zu werden.
Angesichts der ungewohnten Darstellung der Ballerina rief der Kritiker Jules Claretie 1881 aus: „Guter Gott! Wir werden impressionistische Bildhauer haben!“2 Damit prägte ein Theaterkritiker erstmals die Vorstellung davon, wie eine impressionistische Skulptur beschaffen sein könnte. Dass niemandem ein solcher Ausruf vor Ottins Marmorbüste des Malers Ingres eingefallen ist, lässt sich nicht nur mit dessen akademischem Stil erklären, sondern scheint auch an der Themensetzung und der außergewöhnlichen Materialwahl begründet zu sein. So ist wenig verwunderlich, warum die Frage, ob es eine impressionistische Skulptur gibt, und wenn ja, wie diese aussehen könnte, vor allem in der nachfolgenden Generation gestellt wurde. Eine Vorreiterrolle in diesem Diskurs nahmen Auguste Rodin und Medardo Rosso ein.
Kurz nach 1900 verlagerte sich die Diskussion, was impressionistische Skulptur überhaupt sei, von der Zeitgenossenschaft und/oder Teilnahme an einer der Impressionisten-Ausstellungen auf Stilmerkmale und Themensetzungen, wie Alexander Eiling und Eva Mongi-Vollmer erklären.3
1902 veröffentlichte Edmond Claris die Schrift „De l’Impressionnisme en sculpture“4, die auf einer Umfrage für die Zeitung „La Nouvelle Revue“ fußt und noch im gleichen Jahr auf Deutsch erschien. Kurze Zeit später nahm bereits Julius Meier-Graefe in seiner „Entwickelungsgeschichte der modernen Kunst“ (1904) die Idee des „Malerischen“ in der Skulptur auf und verbreitete sie mit seiner erfolgreichen und einflussreichen Publikation weltweit. Anhand von Rodins Terrakotta „Das Haupt Johannes’ des Täufers“ (1878, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe) ließ und lässt sich nachvollziehen, wie der sichtbare Schöpfungsprozess zum Paradigma impressionistischer Skulptur erklärt wurde: Sichtbare Fingerspuren, eine buckelige Oberfläche, an der sich das Licht brechen kann, das Nebeneinander von non-finito neben ausformulierten Partien, gelten seither als wichtige Stilkriterien impressionistischen Gestaltens. Dennoch nahm Rodin an keiner Impressionisten-Ausstellung teil. Die im Juni 1889 eröffnete Ausstellung in der Pariser Galerie Georges Petit brachte 36 seiner Skulpturen mit 145 Gemälden Claude Monets in einen Dialog („Claude Monet – Auguste Rodin“). Die impressionistische Bewegung war seit Anfang der 1880er Jahre in Auflösung begriffen; Künstler wie Monet und Renoir suchten Anschluss an den Salon oder Ruhm in Einzelausstellungen. Dass Petit Monet und Rodin miteinander in Verbindung brachte, war eine einmalige Leistung. Auch wenn sich Rodin nach 1900 nicht mehr in den Kontext des Impressionismus einordnen lassen wollte, so nahm er doch hinsichtlich der Frage des Kolorits eine interessante Position ein:
„Ist das nicht eine wunderbare Symphonie in Weiß und Schwarz? […] So paradox es erscheint, die großen Bildhauer sind ebenso Koloristen wie die besten Maler oder vielmehr die besten Stecher. Sie beherrschen so geschickt alle Hilfsmittel des Reliefs, sie vermählen so vortrefflich die Kühnheit des Lichts mit der Bescheidenheit des Schattens, dass ihre Skulpturen so zart und köstlich sind wie die feinsten und duftigsten Stiche.“5 (Auguste Rodin)
Die Debatte um die impressionistische Skulptur entzündete sich auch an der Frage der Materialverwendung. Das Konzept von Flüchtigkeit und Modernität schien sich nicht mit dem Werkstoff Marmor in Einklang bringen zu lassen. Stattdessen empfahlen Künstler wie Kritiker zu Ton, Bronze, Wachs und das um 1880 erfundenen Plastilin zu greifen. Den Plastiken konnte man so Fragilität, Lichtdurchlässigkeit (Wachs) und leichte Formbarkeit einhauchen. Der Bronzeguss sollte – wie es Paolo Troubetzkoy exemplarisch zeigt – die Frische der ersten Idee genauso vermitteln wie das Original. Dass dem Gussprozess dafür genauso viel Aufmerksamkeit und Sorgfalt entgegengebracht wurde wie der Formung, liegt auf der Hand. Rembrandt Bugatti wählte Adrien-Aurélien Hébrard in Paris und dessen Produktionsleiter Albino Palazzolo als Gießer seines Vertrauens.
Coronabedingt eröffnet das Städel Museum etwas verspätet vom 9. Mai bis 25. Oktober 2020 der Frage, was es konkret bedeutet, die Eigenschaften der impressionistischen Malerei wie Licht, Farbe, Stimmung, Bewegung – sogar Flüchtigkeit – in feste Materialien zu übersetzen. Mit mehr als 160 Werken gibt die Ausstellung einen umfassenden Überblick über die Möglichkeiten und die Herausforderungen des Impressionismus in der Skulptur.
Der Einstieg in das komplexe Thema gelingt mit einer Gegenüberstellung von Werken aus den acht Impressionisten-Ausstellungen, die in der Präsentation von Degas‘ „Kleiner vierzehnjähriger Tänzerin“ kulminiert. Die Kleinbronzen in handlichem Format, an denen Degas bis zu seinem Lebensende arbeitete, wirken wie ein trainierendes Corps de ballet. Schon früher wurde bemerkt, dass Degas nicht an den Primaballerinen, an der Pariser Oper „étoile“ [Stern] genannt, interessiert war. Stattdessen wandte er sich den Balletttänzerinnen aus dem Corps zu, jenen Frauen, die jahrelang hart trainieren, um in der letzten Reihe zu stehen. Jenen Frauen, die um 1900 einen reichen „Gönner“ brauchten, um von ihrer Arbeit überhaupt leben zu können. Jenen Frauen, die sich voyeuristischen Blicken aussetzen mussten, um tanzen zu können.
Auf die „ausgestellten“ Tänzerinnen, Badenden und Rennpferde folgen die Zootiere von Rembrandt Bugatti. Der Italiener wird in einem Raum mit seinem Onkel Giovanni Segantini ausgestellt, sein Bruder war übrigens der berühmte Automobilkonstrukteur Ettore Bugatti. Der aus einem Künstlerhaushalt stammende Bugatti wandte sich früh dem Tier als wichtigem Motiv zu. Er studierte heimische wie exotische Tiere im Zoo und modellierte en plein air! Die Oberfläche seiner Werke ist weniger buckelig als die seiner Kollegen, doch überrascht er mit spannungsvollen Inszenierungen aus dem Alltag der Tiere.
Medardo Rosso, der als Nachfolger von Rodin galt, wird in Frankfurt gemeinsam mit Eugène Carriere und dem Maler Cremona präsentiert. Beide liebten es, ihre Figuren in einem leonardesken Sfumato verschwinden zu lassen. Der international renommierte Grafiker Carriere wird heute leider allzu oft vergessen. Medardo Rossos in Wachs modellierte Werke sind häufig so fragil, dass sie selten international ausgestellt werden. Die Haptik von Wachs (über einem Gipskern), die transluzide Qualität des Materials, die Verbindung von Figur und Raum, die asymmetrischen Kompositionen bestechen in ihrer hohen künstlerischen Qualität.
Die mondäne Welt der Belle-Époque fing am besten Paolo Troubetzkoy ein. Der „russische Prinz“ wurde zwar in Italien geboren, hatte aber einen russischen Vater und eine Opernsängerin als Mutter. Die kunstsinnige, wohlhabende und polyglotte Familie ermöglichte Paolo sich ganz der Kunst zu widmen. Seine Werke, allen voran die Porträtplastik „Adelaide Aurnheimer (Nach dem Ball)“ (1897) ist eine veritable Kostümstudie. Das daneben hängende Bildnis von Lady Agnew of Lochnaw (1893) des britischen Society-Porträtisten John Singer Sargent oder auch Giovanni Boldinis „Porträt Goursat, genannt Sem“ (1902) ließen sich auch mit so manchem herrschaftlichen Bildnis Degas‘ vergleichen. Troubetzkoy, der in Sankt Petersburg, Mailand und Paris tätig war, hatte riesigen internationalen Erfolg. Umso wichtiger ist seine Wiederentdeckung im Rahmen dieser Ausstellung!
Den Abschluss der Schau bilden die Werke von Auguste Rodin, zweifellos der berühmteste Bildhauer unter den Impressionisten. Im Städel Museum wird seine „Eva“ einem inszenatorischen Kniff unterzogen. Mitten im Ausstellungsraum ist ihre Plinthe in Sand eingegraben, genauso wie es Rodin selbst im Salon de la Société Nationale des Beaux-Arts 1899 getan hatte. Er holte – wie auch von den berühmten Bürgern von Calais bekannt – die Skulptur von ihrem hohen Denkmalsockel und stellte sie in den Alltag. Den impressionistischen Bildern von Boulevards und flanierenden Menschen setzte Rodin eine „alltägliche“ Plastik entgegen. Nicht als Kunstwerk oder Heroin angebetet, sondern als Teil des Lebens sollten seine Figuren empfunden werden. Sie durchleben existentialistische Zustände, steigern sich in pathetischen Gesten oder sinnieren über den Sinn des Lebens. Während Monet die Luft zwischen seinen Augen und der Landschaft malen wollte, verdichtete Rodin Gefühle.
Die Werke von Degas, Rodin, Rosso, Troubetzkoy und Bugatti stehen überzeugend für die Grundfrage nach der Existenz einer impressionistischen Skulptur. Zugleich dokumentieren sie das übergreifende künstlerische Arbeiten in Malerei, Druckgrafik und Bildhauerei. Die Ausstellung vereint wichtige Skulpturen der fünf Künstler und setzt sie in Dialog mit impressionistischen Gemälden, Pastellen, Zeichnungen, Druckgrafiken und Fotografien aus öffentlichen und privaten Sammlungen – darunter eine große Zahl an Werken aus der Sammlung des Städel.
Es gilt aber nicht nur einen spannenden intellektuellen Diskurs über die Möglichkeiten modernen Kunstschaffens um 1900 zu entdecken, sondern auch die Frage nach den nationalen Interpretationen impressionistischen Gestaltens zu stellen. In der Malerei Italiens setzten sich in den 1850er Jahren die sogenannten Macchiaioli durch, die eigentlich dem Realismus zuzurechnen sind. Kurz nach 1900 "springt" die jüngere Generation in den Divisionismus; einzig die Bildhauerei scheint sich bei aller Unterschiedlichkeit der drei zentral ausgestellten Italiener enger an Frankreich und den französischen Impressionismus angebunden zu haben. Der Schwerpunkt auf italienische Künstler ist erfrischend, weil selten in deutschsprachigen Museen thematisiert. Die künstlerische (und auch geografische) Nähe von Mailand und Paris prägte die Moderne der Oberitaliener. Mit Paris im Rücken, könnte man formulieren, schafften sie auch den Sprung nach Amerika, wo Paolo Troubetzkoy höchst erfolgreich ausstellte (übrigens gemeinsam mit dem Spanier Joaquin Sorolla).
Chapeau!
Kuratiert von Dr. Alexander Eiling (Leiter Kunst der Moderne, Städel Museum), Dr. Eva Mongi-Vollmer (Kuratorin für Sonderprojekte, Städel Museum)