Herbert Boeckl

Wer war Herbert Boeckl?

Herbert Boeckl (Klagenfurt 3.6.1894–20.1.1966 Wien) gilt als einer der wichtigsten österreichischen Künstler des Expressionismus. Seine Weiterführung des sog. Frühexpressionismus des „malerischen Expressionismus“ (Gerhard Schmidt) gehört zu den interessantesten Positionen expressiver Gestaltungsmöglichkeiten der 1920er Jahre. Boeckls bildimmanenter Diskurs operiert dabei mit den klassischen Themen der Kunst – Porträt, Landschaft und Stillleben.

Zu seinen Hauptwerken zählen heute „Die Verlobten“ (1918), „Liegender Frauenakt“ (1919), „Gruppe am Waldrand“ (1920, Leopold Museum), „Eichelhäher“ (1922), „Die Anatomie“ (1931), die Erzberg-Serie (ab 1942), der Gobelin „Die Welt und der Mensch“ (1956–1958) sowie die Fresken der Engelskapelle der Abtei Seckau (1952–1960). Zeitlebens waren Studienreisen in viele Länder Europas und nach Nordafrika für Boeckls künstlerische Entwicklung und Inspiration von größter Bedeutung.

Kindheit

Herbert Arthur Paul Boeckl wurde am 3. Juni 1894 in Klagenfurt, Kärnten, geboren.1 Er war der älteste Sohn des Staatsgewerbeschullehrers und Maschinenbauingenieurs Leopold Böckl (1856–1930) und seiner Frau Paula (geb. Münichsdorfer, 1870–1954). Er hatte drei Brüder namens Willy Böckl (1893–1975), ein bekannter Eiskunstläufer, Fritz Böckl (1896–1944) und Paul Böckl (1897–1979).

Herbert Boeckl besuchte das Realgymnasium in Klagenfurt (1904–7.7.1912). Zu Weihnachten 1908 bekam er seine ersten Ölfarben geschenkt, am folgenden Tag malte er seine erste Landschaft in Öl (verloren). Seine frühesten Werke von 1911 zeigen eine Orientierung am Secessionsstil (linear und flächig).

Ausbildung

Nachdem seine Bewerbung an der Wiener Akademie 1912 abgewiesen worden war, immatrikulierte Herbert Boeckl am 13. November an der Bauschule der Technischen Hochschule (heute: Technische Universität Wien). Zwischen 1912 und 1914 studierte Boeckl Architektur; er blieb bis zum Ende des Sommersemesters 1919 inskribiert.

Während dieser Zeit nahm Boeckl Privatunterricht bei Adolf Loos. Schon während der Studienjahre beeindruckte sein zeichnerisches Talent. Bereits 1913 stellte Herbert Boeckl erstmals drei Arbeiten im Wiener Salon Pisko aus. Nach anfänglichen Versuchen in Anlehnung an Werke österreichischer Maler des 19. Jahrhunderts griff Boeckl bald Einflüsse des Symbolismus und Postimpressionismus auf (→ Postimpressionismus | Pointillismus | Divisionismus). Sein rasanter Entwicklungsprozess wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrochen.

Boeckl im Ersten Weltkrieg

Ab Mai 1915 war Herbert Boeckl im schweren Feldartillerieregiment Nr. 28 bei Malborgeth im Kanaltal stationiert. Er fand trotz schwieriger Umstande immer wieder Gelegenheit, sich künstlerisch zu betätigen. Zudem lernte er an der italienischen Front den Kunsthistoriker Bruno Grimschitz (ab 1919 Mitarbeiter der Österreichischen Galerie, 1939 bis 1945 Direktor des Hauses) kennen, der später einer seiner wichtigsten Förderer werden sollte. Herbert Boeckl schuf bereits 1915 ein Porträt des Kunsthistorikers und Freundes, das er im April 1916 in der „Decenium-Ausstellung“ des „Österreichischen Künstlerbundes“ ausstellte (gemeinsam mit Tina Blau, Johann Victor Krämer, Karl O’Lynch of Town, Fritz Zerritsch, Alfred Zoff). Noch im gleichen Jahr erhielt er die Bronzene Tapferkeitsmedaillle und lernte bei einem Heimaturlaub seine spätere Ehefrau Maria Plahna (1898–1992) kennen, die Tochter eines Drogeriebesitzers.

Im Jahr 1917 nahm Boeckl an zwei Ausstellungen in Klagenfurt und bei der Kunsttruppe des Kriegspressequartiers teil. 1918 konnte er sein Architekturstudium wieder aufnehmen und absolvierte am 10. Juli die Erste Staatsprüfung.

Als Autodidakt war Boeckl frei von jeglichem akademischen Konservatismus und ging mit großer Selbstständigkeit ans Werk. Bereits ab 1915 machten sich Einflüsse des Expressionismus bemerkbar. Neben Egon Schiele und Oskar Kokoschka wurde vor allem Paul Cézanne Boeckls wichtigster Impulsgeber.

Avantgarde um 1920

Nach Kriegsende kehrte Boeckl wieder nach Klagenfurt zurück, gab aber im Juni 1919 sein Architekturstudium endgültig zugunsten einer Karriere als Maler auf. Am 19. Juli 1919 heiraten Herbert Boeckl und Maria Plahna. Die Hochzeitsreise führte das Paar u.a. nach Nötsch, wo es Anton Kolig besuchte (→ Anton Kolig: Werk und Leben). Zwischen 1920 und 1941 kamen neun Kinder zu Welt: Martina (1920–1993), Maria (1924–1998), Felicitas (1926–1997), Charlotte (1928–2000), Leopold (* 1931), Oskar (1932–2010), Leonore (1935), Henriette (1938) und Richard (1941).

Boeckl bezog ein Atelier in Klagenfurt, das er bis 1923 benutzte. Vermutlich stand Maria Plahna für den „Liegenden Frauenakt“ (1919, Leopold Museum, Wien) Modell. Ende des Jahre 1918 entwickelte der Kärntner Maler einen charakteristischen Stil, der von einer schwarzen Umrisslinie und bunten Farbflecken auf weißem Grund gekennzeichnet ist. Boeckl arbeitete an der Grenze zu Ungegenständlichkeit, ohne diese je zu übertreten.

Mit seinen Beiträgen zur Überblicksausstellung der Moderne Österreichs im heutigen MAK (initiiert von Josef Hoffmann), darunter „Liegender Frauenakt (Weißer Akt)“, konnte Herbert Boeckl erstmals in Wien Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In der Kritik wurde ein Bezug Boeckls zu Johannes Itten hergestellt und eine „klassische Beruhigung“ festgestellt. Im folgenden Sommer malte Boeckl am Wörthersee das großformatige Ölgemälde „Gruppe am Waldrand“ (1920, Leopold Museum, Wien).

In Boeckls Zeichnungen der frühen 1920er Jahre spiegeln sich die Vehemenz und Kompromisslosigkeit, die Dynamik und expansive Gestik wider, die seine zeitgleich entstandenen expressiven Gemälde charakterisieren. Die für das malerische Werk Boeckls kennzeichnende Tendenz zu Materialverdichtung und Autonomie der Farbkörper lässt sich auch in seinem zeichnerischen Schaffen eindrucksvoll verfolgen. Bezeichnend ist etwa die Verschmelzung autonomer Farbflecken mit rudimentären grafischen Strukturen. Im Medium der Zeichnung und der Gouache erzielte Boeckl auch in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder höchst innovative Lösungen. Boeckls Arbeiten auf Papier lassen die Entwicklung des Künstlers von einer expressiven Gestaltungsweise über eine an Cézanne orientierte Beruhigung der Formen bis zu einer ab den 1940er Jahren zu beobachtenden Auflösung der Formen in organisch-amorphe Farbfelder exemplarisch nachvollziehen.

Berlin (November 1921–April 1922): Hinterhöfe und revolutionäre Stillleben

Bruno Grimschitz vermittelte den jungen Künstler an den bedeutenden Kunsthändler Christian Nebehay. 1918 schloss Boeckl mit dem Wiener Kunsthändler einen Kommissionsvertrag ab, der bis 1931 Bestand hatte. Nebehay zahlte Boeckl ein monatliches Fixum, damit dieser sich ohne wirtschaftlichen Druck entwickeln konnte. Nach einem ersten Berlin-Besuch vom 1. Mai bis zum 31. Oktober 1921, ermöglichte Nebehay Boeckl einen längeren Studienaufenthalt in Berlin (1.11.1921–April 1922).

Im November 1921 dürfte Herbert Boeckl die in der Galerie von Paul Cassirer organisierte Cézanne-Ausstellung besucht haben. Vermutlich setzte er sich intensiv mit dem Werk von Lovis Corinth (1858–1925) auseinander, der Ende der 1910er Jahre zu seinem späten, aufgelösten Stil gefunden hatte. Der Wiener Maler schloss sich keiner der Künstlergruppen in Berlin an (wie vergleichsweise der aus Vorarlberg stammende Maler Rudolf Wacker), sondern beschäftigte sich mit Selbststudium und Malexperimenten in Ostberlin. Dort fand er die Motive wie „Berliner Fabrik“ (1921, Leopold Museum, Wien) oder „Berliner Hinterhäuser“ (1922, Belvedere, Wien) am Spittelmarkt und malte avantgardistische Stillleben.

In Berlin nutzte Boeckl eine Art pastosen Fleckenstil, womit er eine höchst eigenständige Form des Expressionismus erprobte. Mit zurückgenommenem, meist dunklem Kolorit baute er eine dicke, pastose, fast dreidimensionale, teilweise direkt aus der Tube aufgetragene Farblandschaft auf. Die Materialität der Farbe erhält dabei autonomen Charakter und drängt die Mimesis in den Hintergrund. Die Bilder wirken mehr modelliert als mit den dunklen, erdigen Farbtönen gestaltet, ihre Themen sind kaum mehr erkennbar.

„Es waren eigentlich damals alles aufgeregte Bilder, heute schaut das so ruhig aus, das ist das Groteske, ganz still und ruhig. Ich erinnere mich, dass ich das alles mit Vehemenz gemalt hab, ganze Schichten hab ich stellenweise mit einem Stoß neu mit Farbe bedeckt. Durch die vielen Übermalungen ist es sehr konzentriert und nuanciert geworden. Deformierungen habe ich auf das Mindestmaß zurückgenommen. Also alles: Die Zeichnung habe ich immer weiter vereinfacht, beruhigt (meist nahm ich das, was ich an Details in dem Bild untergebracht hatte, wieder hinaus, hab mir gedacht, dass eine einfache Fläche viel anständiger sei, als da solch ein Theater zu veranstalten, nicht?), und die Farbe ist verdichtet worden.“2 (Herbert Boeckl über seine Stillleben von 1921)

Paris (April–Juni 1923)

Bereits 1921 war Boeckl zu einem Endpunkt dieser malerischen Gestaltung gekommen, die sich in den fast undurchdringbaren Dunkelheit gesenkten Farben Bahn brach. Boeckl hellte daraufhin seine Palette merklich auf und konturiert die Bildgegenstände wieder. Er begann sich erneut mit der Körperlichkeit und Tektonik seiner Sujets zu beschäftigen und führt die schwarze Kontur als wichtiges gestalterisches Mittel ein.

Als Boeckl im April 1922 nach Kärnten zurückkehrte, begann seine intensive Auseinandersetzung mit dem Werk von Paul Cézanne. Er setzte sich vorwiegend mit Cézannes Naturauffassung, den Kompositionsgesetzen sowie mit seinem Bildaufbau aus der subtilen Modulation der Farbtöne auseinander. Sein Interesse für die französische Moderne – und das Geld von Nebehay – führte den Maler Anfang Februar 1923 nach Paris. Er skizzierte im Louvre nachweislich nach Poussin und Théodore Géricault. Neben Diego VelázquezFrancisco de Goya oder Rembrandt van Rijn begeisterten den durchaus frankophilen Boeckl der Impressionismus und der Postimpressionismus. Mit dem Bildhauer Ossip Zadkine schloss er Freundschaft. Das „Pariser Selbstbildnis“ (1923, Belvedere, Wien) wurde noch im gleichen Jahr von der Österreichischen Galerie (heute: Belvedere) angekauft.

Palermo (November 1923–Mai 1924)

Im November 1923 reiste Herbert Boeckl mit seiner Familie nach Sizilien, wo sie für sechs Monate in Palermo blieben. Der Kärntner Maler beschäftigte sich in diesem halben Jahr vor allem mit Landschaftsdarstellungen. „Große sizilianische Landschaft“ (1924, Leopold Museum, Wien) präsentierte er ein Jahr später auf der „VI. Kunstschau des Bundes österreichischer Maler“ im Wiener Künstlerhaus. Boeckl lernte in Sizilien die Schweizer Maler Edwin Hunziker und Max Gubler kennen. Ob er auch Jean Egger aus Klagenfurt getroffen hat, ist nicht geklärt. Jedenfalls besuchte Boeckl einen Vortrag von Filippo Tommaso Marinetti. Im Mai 1924 kehrte Boeckl wieder nach Kärnten zurück. Der Kunsthistoriker und Kustos der Albertina Otto Benesch (1896–1964) verfasste eine erste kunsthistorische Würdigung von Boeckls Werk.

Über das Studium der Stillleben und der Badenden von Paul Cézanne gelangte Boeckl zur Klärung des Raumes und der Plastizität der Figuren. Zu sehen ist diese Veränderung sowohl in den sizilianischen Landschaften wie auch in den zeitgleich entstandenen Stillleben, darunter „Großes Stillleben mit Orangen und grünen Zitronen“ (1924, Museum der Moderne Salzburg).

Kärnten

Nachdem Herbert Boeckl im Winter 1924/25 in Wien das Atelier von Felix Esterl (1894–1931) gearbeitete hatte, zog er mit seiner Familie im Herbst 1925 in die Villa Egger in Pörtschach (bis Juni 1926). Danach wohnten sie in St. Georgen am Längsee (Juni–Winter 1926) und Maria Saal (Winter 1926–Sommer 1929).

Erste Erfolge

Ende 1927 fand innerhalb der Herbstausstellung der Wiener Secession mit 30 Ölgemälden die erste monografische Schau des Künstlers statt (28.11. Eröffnung). Für die konservative Wiener Kritik stand Boeckls pastoser Malstil in Beziehung zu Kokoschka und Lovis Corinth; man hebt vor allem den Kolorismus der Bilder hervor.

Von Januar bis Februar 1928 beteiligte sich Boeckl an der „Ausstellung österreichischer Kunst 1700–1928“ an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin (unter Präsident Max Liebermann). Zur selben Zeit waren ab Februar in der Berliner Galerie Matthiesen 96 Arbeiten von Edouard Manet zu sehen. Der Ausstellungskatalog befand sich in Boeckls privater Bibliothek, ebenso wie das Kunstbuch „Edouard Manet“, das 1923 im Verlag Paul Cassirer erschienen war. Die Erfolge machten einen Umzug von Herbert Boeckl nach Wien nötig. Er fand in der Argentinierstraße 42 ein Atelier im 4. Wiener Gemeindebezirk, das er 36 Jahre lang behielt und in dem er auch teilweise lebte (erhalten).

Seine Ehefrau und die Kinder blieben weiterhin in Maria Saal. Erst im Mai 1930 zog Boeckl mit seiner Familie nach Perchtoldsdorf bei Wien, um schließlich 1937 ganz in die Hauptstadt zu ziehen. Als der Künstler den Sommer 1928 in Kärnten verbrachte, spendete er dem mittelalterlichen Dom das Fresko „Errettung Petri aus dem See Genezareth“ – vielleicht angeregt durch die Arbeiten von Kolig, Anton Faistauer und Swibert Lobisser. Das Werk löste bei den Krichgehern heftige Kritik aus. Gründe dafür waren zum einen der moderne Stil und zum anderen die angebliche Ähnlichkeit Petri mit Lenin. Bischof Adam Hefter entschied sich, das Fresko verhängen zu lassen.

Der „Bund österreichischer Künstler – Kunstschau“ veranstaltete unter seinem Präsidenten Hans Böhler eine Ausstellung in der Wiener Secession, Herbert Boeckl, der mit Robin Christian Andersen, Böhler, Ernst Huber und Franz Zülow im Ausstellungskomitee saß, stellte seine erste Plastik aus: das Plastilinmodell von „Springes Pferd“ von 1929 – zeigt in seiner Skulpturenauffassung wie auch Oberflächengestaltung ähnliche Gestaltungsprinzipien wie die Gemälde: Der Körper wird aus dem weichen Ton durch Anfügen kleiner Stückchen von Innen her aufgebaut.

1929/30 beschreiben die Kunsthistoriker Bruno Grimschitz, Karl Ginhart und André Meller mehrfach die Werkentwicklung des Malers. In der Österreichischen Galerie (heute: Belvedere) waren ab 1930 vier Bilder von Boeckl in der Dauerausstellung zu sehen. Gegen Ende des Jahrzehnts beruhigte Boeckl seine „gemauerte“ Malerei wieder. Linie, Flache und Kontur gewannen zunehmend an Bedeutung. Daneben widmete sich der Künstler mit besonderer Hingabe dem zeichnerischen Metier und schuf unzählige Aquarelle, Kohle- und Bleistiftzeichnungen. Die teilweise Schwere seiner Ölgemälde findet dabei ein ungewöhnliches Pendant in der minimalistischen Schwerelosigkeit seiner Papierarbeiten. Boeckl blieb ein expressionistischer Maler selbstständiger Prägung, dessen Spätwerk kubistische und abstrakte Tendenzen aufweist. Weiterhin war sein Œuvre breit gefächert – neben Landschaften und Stillleben beschäftigte er sich mit Porträts und Aktdarstellungen.

Reife Werke: „Die Anatomie“ & „Hymnus an Maria“

Während die Arbeiten der 20er Jahre vor allem über ihre pastose Malweise beschrieben werden können, wirken die Bilder ab 1930 glatter und dadurch „klassischer“ bzw. „realistischer“. Die deutliche Beruhigung im Duktus wird von einer Aufhellung der Farben begleitet. Das Hauptwerk dieser Phase ist „Die Anatomie“ (1931, Wien Museum). Der Primararzt des Wiener Kaiser-Franz-Joseph-Spitals lud Herbert Boeckl ein, im Seziersaal zu zeichnen. Am ausgeführten Gemälde verblüfft nicht mehr die Gestaltung, sondern das Thema. Das Ausweiden des Leichnams erscheint umso wuchtiger und geschäftsmäßiger als zwei beistehende Ärzte gleichsam ungerührt auf den toten, jungen Mann herabblicken.
Eine Vielzahl von großformatigen Zeichnungen - über 70 Zeichnungen, davon sind nur zwei nicht im Besitz der Albertina - und Ölstudien belegen, dass das Bild nicht innerhalb von wenigen Stunden einfach an die Leinwand „geworfen worden“ ist, wie ein Augenzeuge berichtet. Akribisch bereitet Boeckl die Komposition in der Prosektur des Franz-Josef-Spitals vor – und bricht damit nicht nur formal mit all den Möglichkeiten des Expressionismus. Malerei ist hier keine spontane Gefühlsäußerung, keine gefühlte Farbigkeit, kein experimenteller Raum mehr. Die Zeichnungen belegen, dass sich der Maler mit den dort liegenden Toten – Männer, Frauen, Kinder – in unterschiedlichen Stadien der Leichenöffnung auseinandersetzte. Manchmal zeichnete er den ganzen Körper, mitunter in perspektivischer Verkürzung; manchmal konzentrierte er sich auf Details, die er besonders herausarbeitete oder wiederholte. Still beobachtend schuf er Studien, die ihm die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz vor Augen führte und zu einer neuen Beziehung zur Religion brachten:

„Nachdem ich die Anatomie gemalt habe, überkam mich eine große Verlassenheit.“ (Herbert Boeckl)

Schonungslose Klarheit und Licht bestimmen das Werk, für das der Wiener Stadtrat Julius Tandler 30.000 Schilling dem Künstler direkt anbot. Da Boeckl den Verkauf direkt und nicht über seinen Galeristen Christian Nebehay abwickelte, stellte dieser die Zahlungen ein, um die Vorschüsse der letzten elf Jahre wieder hereinzuholen. Als das Werk im Rahmen der Ausstellung „Österreichische Kunst“ des Wiener Künstlerhauses gezeigt wurde, verfügte Nebehay, dass aus der Schau kein Werk Boeckls veräußert werden durfte. Nachdem der Künstler seine Werke dem Galeristen überschrieben hatte, lebten er und seine Familie in einer äußerst finanziell angespannten Lage.

Nach der Machtübernahme durch Engelbert Dollfuß wandte sich Boeckl religiösen Sujets zu: „Heiliger Stephanus I“ (1933) und nach der Ermordung Dollfuß sein „Hymnus an Maria“ (1934) als Mitteltafel eines geplanten Marienaltars. Mit dem „Hymnus“ gewann Boeckl 1934 den Großen Österreichischen Staatspreis, da es die Zielsetzung des katholisch-konservativen Schuschnigg-Regierung erfüllte. Darüber hinaus vertrat der Maler Österreich drei Mal bei der Biennale in Venedig (1932 [zehn Gemälde und die Plastik], 1934 [zwei Gemälde] und 1936 [zehn Bilder]). Anfang 1933 war erstmals ein Gemälde Boeckls in den USA ausgestellt (Worcester Art Museum), und er nahm an der Weltausstellung in Brüssel (1935) teil. Zu seiner eigenen Überraschung – er hatte sich mit seiner Familie im Spätsommer 1935 zu Werner Berg nach Unterkrain begeben – 1935 zum Professor an der Allgemeinen Malerschule der Wiener Akademie der bildenden Künste ernannt.

Boeckl, der Abendakt und die NS-Herrschaft

Die Folgen des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich bekam Herbert Boeckl sehr direkt zu spüren. Zum einen lebte er in einer Dienstwohnung im zweiten Wiener Gemeindebezirk, der die höchste Dichte jüdischer Bevölkerung aufweist. Im November wurde der Tempel niedergebrannt und vollkommen zerstört. Ab 1941 registrierte er die Deportation der Juden in Richtung Osten. Zum anderen wurde sein Förderer Franz Martin Haberditzl als „Freund ‚entarteter Kunst‘ und mit einer Halbjüdin verheiratet“ als Direktor der Österreichischen Galerie entlassen – und durch Boeckls langjährigen Freund Bruno Grimschitz ersetzt.

1939 legte Herbert Boeckl die Leitung seiner Meisterklasse nieder und lehrte im verpflichtenden, täglich stattfindenden „Abendakt“. Von 1943 bis 1945 zählte Maria Lassnig zu seinen Studentinnen. Der Maler zog sich in die innere Emigration zurück und arbeitete ab 1940 am „Großen Familienbild“ und an Landschaften. Am 1. Januar 1941 trat Boeckl der NSDAP bei – in seinem künstlerischen Schaffen machte er keine Zugeständnisse. Die erste Serie an Bildern des Erzbergs entstand 1942, eine zweite fünf Jahre später. Als „politisch unzuverlässig“ wurde er am 14. September 1944 gemeinsam mit dem Akademiekollegen Sergius Pauser und dem Burgschauspieler Curd Jürgens für Schanzarbeiten an einem „Südostwall“ gegen die anrückende Rote Armee bei Schloss Halbenrain des Grafen Stürgkh nahe Bad Radkersburg (südliche Steiermark) eingesetzt. Im März 1945 konnte er wieder nach Wien zurückkehren und in seinem (unzerstört gebliebenen) Atelier weiterarbeiten.

Expressiv bis zum Ende

Am 19. April 1945 wurde Herbert Boeckl, der als einer von drei Akademieprofessoren die Endphase des Zweiten Weltkriegs in Wien erlebte, vom Generalreferat für die Wiener Kunsthochschulen, Staatstheater, Museen und Volksbildung zum provisorischen Rektor ernannt. Boeckl wohnte in der von Bomben getroffenen Akademie und begann am 23. April mit dem Unterricht. Er berief den in die Schweiz geflohenen Bildhauer Fritz Wotruba (1907–1975) und den Maler Albert Paris Gütersloh (1887–1973) nach Wien. Seine erste Retrospektive fand 1946 ebenfalls in der Wiener Akademie statt (7.4.–19.5.). Kurz darauf, im Juni, wurde der Kärntner von seinem Rektorenposten abberufen, da er es versäumt hatte, sich als ehemaliges NSDAP-Mitglied registrieren zu lassen. Sein Nachfolger wurde Robin Christian Andersen. Von 1962 bis 1965 leitete er erneut die Akademie als Rektor.

Eine ähnliche Debatte brach 1947 noch einmal los, als es um die Aufnahme Herbert Boeckls in die österreichische Sektion des Internationalen Art Club ging. Nur die von der NS-Zeit unbelasteten Künstler wurden zum Beitritt aufgefordert, darunter Edgar Jene, Boeckl, Gütersloh, Carl Unger, Wander Bertoni, Maria Biljan-Bilger, Heinz Leinfellner, Wotruba. Boeckl und Wotruba traten nach dem Streit wieder aus.

Erst nach 1945 ist wieder ein neues Konzept im Werk Boeckls feststellbar. Er beschäftigt sich in Serien wie dem „Erzberg“ (1947/48), den zwölf Porträts der „Dominikaner“ (1948), dem „Toten Gebirge“ (1950) mit dem analytischen Kubismus. Die Form wird zunehmend zersplittert und in Farbschollen aufgeteilt („Fliegender Specht II“, 1950).

Die erste Ausstellung der Galerie St. Stephan ist 1954 Boeckl gewidmet. Im Jahr 1964 untersagte Unterrichtsminister Theodor Piffl-Perčevic die Teilnahme von Leherb (Helmut Leherbauer) auf der Biennale von Venedig (Kommissar Wilhelm Mrazek) und schickt Boeckl und Alfred Hrdlicka. 1964/65 zeigte das Wiener Museum des 20. Jahrhunderts eine umfangreiche Retrospektive des Künstlers (18.12.1964–14.2.1965). Im selben Jahr hatte Boeckl einen Schlaganfall erlitten und war arbeitsunfähig geworden.

Die Apokalypse – ein Fresko für Seckau

Am 3. September 1949 schlug Benedikt Reetz, der Abt von Stift Seckau vor, das ausständige Schulgeld für den Sohn Oskar in Form eines Kunstwerks zu bezahlen. Um die Wandmalerei ausführen zu können, plante der Maler 1951 eine Studienreise zu den berühmtesten mittelalterlichen Sakralkunstwerken in Spanien. Im Herbst war die Reise möglich und finanziert. Nach dem Besuch des Katalonischen Nationalmuseums mit seiner Sammlung romanischer Fresken in Barcelona, einer Rundreise durch Spanien und einem Aufenthalt im Kloster lebte Herbert Boeckl bis Endes März 1952 in Madrid. Dort arbeitete er an einem großen Papierentwurf für die Altarwand des Seckauer Freskos. Von April bis Juli hielt sich der Künstler in Sevilla auf, wo er zahlreiche Stadtansichten malte. Mitte Juli reiste er direkt von Spanien nach Seckau, um am 15. September 1952 mit der Ausführung der Wandmalerei zu beginnen. Im Sommer 1953 arbeitete er an der Nordwand der Engelkapelle. Bis 1963 kehrte der Maler jeden Sommer in die Basilika der Abtei Seckau zurück.

„Das Werk des heute Sechzigjährigen ist eine Apotheose der Welt, ihrer Leidenstiefe und ihres jubelnden Glanzes, aus dem Symbolgehalt der Farbe; es ist eine neue, vielleicht ungewohnte, doch beglückende Deutung der Offenbarung des Johannes, eine Deutung, die in einer Epoche apokalyptischer Schrecken zu einem seltenen Symbol der Weltfreudigkeit wird.“3 (Werner Hofmann, in: Das Kunstwerk, 1954)

Im Mai 1955 arbeitete Boeckl wieder an den Fresken in Seckau. In diesem Jahr reiste er mit seiner Frau nach Griechenland, wo er die Hauptwerke der minoischen und klassischen Kunst und Architektur studierte – einmal mehr in Hinblick auf die Verwendung in der Engelskapelle. Anfang des Jahres 1959 besuchte er gemeinsam mit Marcile Boog Ägypten, wo er die Grabkammern u.a. von Tut Anch Amun besichtigte und Aquarelle von den Wandmalereien anfertigte. Die Einweihung der Engelskapelle fand am 7. Dezember 1963 statt.

Gleichzeitig entstand der monumentale Gobelin „Die Welt und der Mensch“ (1956–1958) für die Wiener Stadthalle, ein Auftrag der Stadt Wien. Der Maler betätigte sich selbst als Weber und schuf den zwölf Meter langen Gobelin gemeinsam mit den Webern Fritz Riedl, Josef Schulz und Veronika Schmid in einem Stück. Seine erste Präsentation erlebte das Werk auf der Brüsseler Weltausstellung in der Schau „50 ans d’art moderne“ 1958. Danach war das Werk auf der 5. Kunstbiennale in São Paulo zu sehen.

Tod

Im April 1962 war bei Herbert Boeckl eine Diabetes-Erkrankung festgestellt worden. In der Nacht vom 29. auf den 30 Oktober 1964 – er hatte am Abend zuvor den Ehrenring der Stadt Wien erhalten hatte – erlitt der Maler einen schweren Schlaganfall. Er erholte sich nie mehr davon und konnte auch das Bett nicht mehr verlassen.

Am 20. Januar 1966 starb Herbert Boeckl in Wien, er wurde am 25. Januar in einem Ehrengrab der Stadt beigesetzt.

Literatur und Links

Beiträge zu Herbert Boeckl

Wien | Belvedere: Herbert Boeckl


Herbert Boeckl (1894–1966) gilt als einer der wichtigsten österreichischen Künstler der Zwischenkriegszeit. Seine Weiterführung des sog. Frühexpressionismus gehört zweifelsohne zu den interessantesten Positionen expressiver Gestaltungsmöglichkeiten der 20er Jahre. Boeckls bildimmanenter Diskurs ob der Möglichkeiten des „malerischen Expressionismus“ (Gerhard Schmidt) operiert dabei mit den klassischen Themen der Kunst – Porträt, Landschaft und Stillleben.
  1. Die biografischen Angaben stammen aus: Herbert Boeckl. Retrospektive (mit einem Werkverzeichnis der Ölbilder, Skulpturen, Fresken und Gobelins) , hg. v. Agnes Husslein-Arco (Ausst.-Kat., Österreichische Galerie Belvedere, Wien, 21.10.2009–1.1.2010), Wien 2009.
  2. Zit. n. S. 404
  3. Werner Hofmann, Herbert Boeckls Seckauer Fresko, in: Kunst in Österreich. Sonderausgabe der Zeitschrift „Das Kunstwerk“, Baden-Baden 1954, S. 44–45.