Im Vorwort definiert Direktorin Christiane Lange die Funktionen der Mappenwerke in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Aufmerksamkeitsmaschinen, kollektive Kunstvermarktung, „ideale Form maximaler Publizität“1. In vier Beiträgen arbeiten Susanne M.I. Kaufmann und Corinna Höper diese Qualitäten der Portfolii mit schön gestalteten Einbänden und lose eingelegten, immer aber stilistisch vielfältigen Blättern heraus. Die kurz vor der Jahrhundertwende einsetzende Begeisterung für „Künstlerdrucke“ in Form der Wiederentdeckung der Radierung, des (farbigen) Holzschnitts und der Lithografie hatte, wie man diesem Katalog entnehmen kann, viel mit einem neuen Verständnis von Kunst als die Massen bewegende Kommunikationsform in der Moderne zu tun. Gleichzeitig wird aber nicht auf den ökonomischen und markttechnischen Wert der Mappenwerke vergessen: Als kollektive Unternehmungen repräsentierten sie nicht nur einen programmatischen Zugang der Beteiligten, sondern waren wichtige Verdienstmöglichkeiten für junge, aufstrebende Künstlerinnen und Künstler.
Deutschland | Stuttgart: Staatsgalerie Stuttgart
28.3. - 29.6.2014
An die Stelle von Galeriewerken (→ Barocke Gemäldegalerien und ihre Kataloge), die berühmte Gemälde mittels Holzstichen und ab den 1890ern mit Hilfe von ersten fotomechanischen Reproduktionen in hoher Auflage und großer Schnelligkeit reproduzierten,2 traten ab den 1890ern Originaldrucke. Für diese mussten Künstler:innen den Entwurf, die technische Ausführung aber auch den Abzug eigenhändig bewerkstelligen. Neben der Signatur wurde die Auflage (Nummerierungen) zur wichtigsten Information auf den Blättern.
Diesem neu geweckten Interesse der Konsumentinnen und Konsumenten wie auch der Künstlerinnen und Künstlern kamen Zeitschriften rasch entgegen und wechselten von reinen Gemälde- und Zeichnungsreproduktionen zu Originalgrafiken (z.B. in Form von Jahresmappen), wobei die Leserinnen und Leser damit auch flugs zu Sammlerinnen bzw. Sammler der protegierten Künstler wurden. Neben der Verbreitung von bekannten Positionen ließen sich so auch Neuentdeckungen fördern. Publizität, Vervielfältigung, leichte Verbreitung und Transportierbarkeit, gegenseitige Unterstützung durch Vernetzung und (seltener) Veröffentlichungen von Manifesten – all das waren Gründe, sich einem solchen Projekt anzuschließen. Die beiden Autorinnen listen im Anhang den beachtlichen Bestand an Mappenwerken in der Staatsgalerie Stuttgart akribisch auf. Daraus generell abzuleiten, dass die „Vervielfältigungskünste“ ein „wesentliches Medium der modernen Kunst“ gewesen wären, müsste jedoch noch genauer hinterfragt werden. Es wird sich wohl, wie unten zu zeigen ist, für jede Künstlerin und jeden Künstler ein anderes Bild ergeben. Einen höheren Stellenwert hatten zweifelsohne noch immer die Malerei und die Zeichnung. Dass die Druckgrafik aber eine essentielle Rolle für die ökonomische Situation spielte, und dass Künstler wie Herausgeber von Zeitschriften sie zu propagandistischen, weil die moderne Kunst popularisierenden Zwecken nutzten, steht außer Frage und kann mit den Autorinnen nur unterstrichen werden.
Anhand der „SEMA-Mappe“ mit 15 „Originalsteinzeichnungen“,3 die im April 1912 von der gleichnamigen Gruppierung in München herausgegeben wurde, analysiert Susanne M.I. Kaufmann den Status der Druckgrafik und der Mappenwerke in der Moderne. Sie spricht von einer „Graphik-Welle“, an der die periodischen Zeitschriften nicht ganz unschuldig waren, und an der Künstlerinnen und Künstler begeistert partizipierten. Die Erwerbung der „SEMA-Mappe“ ist für Stuttgart bereits 1914 nachweisbar.
Wie aus den Tagebucheinträgen von Paul Klee geschlossen werden kann, formierte sich die Künstlervereinigung „SEMA“ (griechisch für „Zeichen“) im Sommer 1911 in München und existierte bis Ende 1913. Anfang des Jahres 1912 erschien ihre erste gemeinsame Grafik-Mappe unter dem gemeinsamen Signet mit Beiträgen von Karl Caspar, Maria Caspar-Filser, August Fricke, Robert Genin, Frank S. Herrmann, Fritz Hofmann-Juan, Gustav Jagerspacher, Edwin Scharff, Adolf Schinnerer, Julius Wolfgang Schülein und Carl Schwalbach. Von den beteiligten Künstlern sind heute neben Klee noch Alfred Kubin, Max Oppenheimer und Egon Schiele einem weiteren Publikum bekannt. Obwohl Kubin ohnedies als Grafiker tätig war und Erfahrungen mit dem Drucken mitbrachte, musste er sich – wie auch Klee, Max Oppenheimer und Schiele – erstmals mit der Technik der Kreidelithografie beschäftigen. Egon Schiele umging die technische Herausforderung, indem er zwei Zeichnungen auf Umdruckpapier anfertigte, die in München von Druckern erst in eine Lithografie umgesetzt wurden.4 Während bei Klee diese Beschäftigung eine Phase des Experiments auslöste, wie Susanne M.I. Kaufmann feststellt,5 lässt sich für Egon Schiele diese Aussage nicht treffen! Er fand nachweislich keinen Gefallen an der Druckgrafik, sodass es in seinem Werk nicht mehr als 17 Druckgrafiken gibt, die immer eine Art von Auftragsarbeiten waren.6 Schieles eigener Ansicht nach würde er schneller zeichnen als das Drucken erlernen.
„Ich weiß ja von Kollegen, daß graphische Arbeiten leichter Abnehmer finden als Bilder, besonders wenn letztere über das beliebte „Zimmerschmuckformat“ dimensioniert sind – es möcht` mich auch reizen, graphisch zu arbeiten, und zwar nicht nur des leichteren Verkaufes halbe -, aber ich kann weder radieren noch in Holz schneiden, und diese Technik erst zu lernen, bin ich nicht geduldig genug. Denn in der Zeit, die ich zum Radieren einer Platte brauche, zeichne ich gut und mühelos fünfzig bis sechzig, ja mehr, gewißlich (sic!) an die hundert Blätter. Und dann drängt es mich immer mehr und mehr zur Farbe.“7 (Egon Schiele)
Corinna Höper zeigt anhand von Mappenwerken der ersten Hälfte der 20er Jahre auf, dass sie auch während der Weimarer Republik ihren Stellenwert als ökonomische und werbestrategische Projekte nicht eingebüßt hatten. „Die Schaffenden. Eine Zeitschrift in Mappenform“, die zwischen 1918 und 1932 von Paul Westheim in fünf Mappen mit 220 Holzschnitten, Radierungen, Lithografien und Linolschnitten, limitiert auf 125 Stück Auflage, herausgegeben wurde, leitet die Untersuchung ein.
Für Stuttgart ist die „Üecht“-Gruppe mit ihrer 1919 publizierten Mappe von Bedeutung, wollten die Studenten Willi Baumeister, Oskar Schlemmer, Gottfried Graf u.a. damit die Berufung von Paul Klee an die hiesige Akademie vorantreiben, was trotz der künstlerischen Aktivität jedoch nicht gelang.
Die nächste wichtige Institution für das Protegieren von Druckgrafik und Sammlereditionen war das Bauhaus in Weimar, das von seiner Gründung 1919 bis zum Umzug nach Dessau 1925 eine eigene Druckwerkstatt betrieb. Darin bot sich 1922 dem gerade berufenen Wassily Kandinsky die Möglichkeit, seine zwölf „Kleinen Welten“ zu entwickeln. In ihnen nahm er jene Charakterzuschreibungen von Punkt und Linie vorweg, die er 1926 in „Punkt und Linie zu Fläche“ verschriftlichte: Der Punkt bedeutet Schweigen, und die Linie entsteht aus der Bewegung. Der Kupferstich, so der Künstler im Vorwort, sei aristokratisch, der Holzschnitt lasse gleichwertige Abzüge zu, und erst die mechanische Lithografie wäre demokratisch.
Als erster „Formmeister der Druckerei“ hatte bereits ein Jahr zuvor Lyonel Feininger eine „1. Bauhausmappe“ mit zwölf Holzschnitten herausgegeben. Die teils schon vor seiner Bauhauszeit entstandenen Kompositionen sind besonders reich an Material- und Papierexperimenten.
Mit „Bauhaus-Drucke. Neue Europäische Graphik“ (datiert 1922/23, Produktion bis 1924) wollten die Meister, so Höper, einen Querschnitt durch die internationale Avantgarde ihrer Zeit ziehen. Das ambitionierte Projekt scheiterte nicht nur ökonomisch, sondern zeigt auch die Grenzen der nunmehrigen Meister auf: Als Max Ernst eine „Photographik“ einsandte, wurde diese mit der Begründung abgelehnt, es würde sich hierbei um kein Original handeln.
Obwohl die Inventarbücher der Graphischen Sammlung 1944 verbrannt sind, gelingt es Corinna Höper, die Sammlungsgeschichte in ihren wichtigsten Erwerbungen kurz darzustellen. Die „Sema-Mappe“ wurde von Erich Willrich (1875–1914), der sich persönlich sehr für zeitgenössische Kunst engagierte und 1907 eine „I. Graphische Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes“ in Leipzig organisierte, als erstes modernes Mappenwerk in Stuttgart angekauft. Sie steht damit am Beginn einer intensiven Auseinandersetzung der Stuttgarter Direktoren mit den grafischen Künsten und ihrer Förderung des Kupferstichkabinetts.
Dass die vom Nationalsozialismus und vom Krieg geprägten Jahre nicht spurlos an der Sammlung vorbeigingen, lag v.a. an den Beschlagnahmungen durch das faschistische Regime. Während noch für 1931 der Kauf von Kubins Zeichnung „Die Verzweifelten“ vermerkt wurde, fielen 1937 „neben 355 Einzelblättern auch Mappenwerke von Otto Dix, Rudolf Großmann, George Grosz, Wilhelm Geyer, Karl Hofer, Imre Reiner und Max Beckmann zum Opfer“8. In den Nachkriegsjahren konnte dieser Aderlass durch Erwerbungen von Geyer, Heckel, Beckmann, Grosz und Schmidt-Rottluff abgefangen werden. Nach 1970 wurden Mappen von Oskar Schlemmer, Willi Baumeister, László Moholy-Nagy und seit 1986 von Georg Baselitz, John Cage, Jannis Kounellis, Sol LeWitt, Robert Motherwell, Barnett Newman, Neo Rauch und Cy Twombly angekauft.
Für die Ausstellung gliederte die Kuratorin Susanne Kaufmann die 66 ausgewählten Arbeiten auf Papier in drei Kapitel: Auf die „Sema-Mappe“ folgen „Blätter aus Mappenwerken“ und „Weg zur Graphik“. Von den „Kleinen Welten“ (1922) Kandinskys sind die Blätter I bis VIII zu sehen und aus der „Üecht-Mappe“ (1919) die Blätter von Schlemmer und Baumeister. Lyonel Feininger ist mit mehreren experimentellen Druckgrafiken aus den „Bauhaus-Drucken“ vertreten. Werke von Klee, Heinrich Campendonk, Marc, Schwitters, Chagall, Jawlensky, Beckmann, Grosz, Heckel, Kirchner und Schmidt-Rottluff belegen die hohe Qualität des Projekts und seine Orientierung an der Avantgarde.
Vor allem der letzte Bereich soll wohl dem Publikum auch Zeichnungen und Aquarelle präsentieren, denn nur so lässt sich die Aufnahme von Egon Schieles „Selbstbildnis“ (1914), das nichts mit den existierenden Entwürfen zur „Sema-Mappe“ zu tun hat, begründen. Eine Beziehung zwischen Oskar Kokoschkas „Liegendem Akt mit angezogenem Knie (Savoyardenknabe)“ von 1912 und dem in der 5. Mappe der „Bauhaus-Druck. Neue Europäische Graphik“ als 7. Blatt veröffentlichen „Mädchenkopf“ von 1922 herzustellen, fällt ebenso nicht leicht. Von Umberto Boccioni wählten Kaufmann und Höper hingegen eine Zeichnung, die stilistisch gut zu jener Lithografie passt, die der Italiener in der 4. Mappe der „Bauhaus-Drucke. Neue Europäische Graphik“ (1923) beisteuerte. Franz Marc ist zusätzlich noch mit einem Farbholzschnitt bzw. einer an Kubin gerichtete Postkarte vertreten, die sowohl inhaltlich als auch stilistisch die Drucke für die Mappenwerke ergänzen.
Die Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart lenkt den Blick auf ein unterbelichtetes Thema in der Kunstgeschichte der Moderne. Den Mappenwerken wird selten gesteigerte Aufmerksamkeit gezollt,9 auch wenn, wie in dieser Publikation nachgewiesen werden kann, die Fülle derselben auf eine größere Bedeutung innerhalb des Schaffens von mehreren Generationen von Künstler_innen schließen lässt. Wie Susanne M.I. Kaufmann und Corinna Höper in ihren insgesamt vier Essays ausführen, handelt es sich um eine Publikationsform, die Gruppenbildung unterstützte, leichte Verbreitung von Ideen und grafischen Arbeiten sowie ökonomische Planbarkeit garantierte. Ihr Variantenreichtum und das Diktum von der Zeichnung als „Ur-Phänomen“ des künstlerischen Denkens ließen sie über einen großen Zeitraum erfolgreich werden. Dass durch diese Ausstellung in Stuttgart dieser Kunst- und Publikationsform erneut größere Aufmerksamkeit zugewiesen wird, ist höchst erfreulich.
Ch. Lange im Auftrag der Staatsgalerie Stuttgart (Hg.)
mit Beiträgen von S.M.I. Kaufmann, C. Höper
120 Seiten, 81 Abb. in Farbe
21 x 27 cm, gebunden mit Lesebändchen
München 2014; 29,90 € [D] | 40,00 SFR [CH]
ISBN 978-3-7774-2259-6
HIRMER
Klassisches Design mit großteils ganzseitigen Abbildungen (keine abfallenden Bilder!), hochwertiges Papier, übersichtliche Gestaltung und ein Cover, das den Mappeneinband der „Bauhaus-Drucke. Neue Europäische Graphik“ von 1923 aufnimmt – so präsentiert sich der Ausstellungskatalog zu „Kandinsky, Klee, Schiele… Graphikmappen des frühen 20. Jahrhunderts“ in der Staatsgalerie Stuttgart, der mehr ist als nur ein gelungenes Erinnerungsstück an die jüngste Grafikretrospektive: Für Sammler und Druckgrafik-Experten eine wichtige Bibliografie zu den Mappenwerken sowie den in Deutschland publizierten illustrierten Zeitschriften von 1910 bis 1945 aus der eigenen Sammlung. Bereits beim Durchblättern fällt die Vielfalt an gezeigten Künstlerinnen und Künstler ins Auge.