Henri Matisse (1869–1954) hat die Kunst des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt – in seinem Heimatland, aber auch international. Der französische Maler, Graphiker und Bildhauer setzte neue Maßstäbe und verblüffte durch unkonventionelle Malerei. Schon um 1905/06 ließen sich zahlreiche Künstler der Avantgarde von seiner farbtrunkenen, expressiven Malerei inspirieren, allen voran André Derain, der mit jugendlichem Ungestüm auch umgekehrt auf Matisse Einfluss ausübte. Im Dezember 2019 jährt sich der Geburtstag von Henri Matisse zum 150. Mal.
Deutschland | Mannheim: Kunsthalle Mannheim
27.9.2019 – 19.1.2020
Die Kunsthalle Mannheim zeigt in ihrer Herbst-Ausstellung mit etwa 100 ausgewählten Gemälden, Plastiken und grafischen Arbeiten die Entwicklung von Matisse als „Künstler für Künstler“. Die Ausstellung verfolgt ein doppeltes Ziel: Zum einen wird die künstlerische Entwicklung von Henri Matisse analysiert (vom Frühwerk bis zur Plastik des „Rückenakts IV“ von 1930, der sich in der Sammlung befindet). Der zweite Erzählstrang ist dem Einfluss des französischen Avantgardisten auf die Malerei in Frankreich und Deutschland gewidmet. Die Schau spürt seinen Anregungen im Werk geistesverwandter Zeitgenossen in drei zentralen kunsthistorischen Feldern nach: im französischen Fauvismus, dem deutschen Expressionismus sowie unter den deutschen Schülerinnen und Schülern der Académie Matisse (1908–1910). Ausgehend vom zentralen Thema der Figur und des Aktes im Raum, weitet sich der Blick auf Landschaftsbilder und mediterrane Szenerien bis zu Porträt und Stillleben.
Neben Matisse präsentiert die Mannheimer Ausstellung deshalb wunderbare Werke von André Derain, Georges Braque, Charles Camoin, Kees van Dongen, Raoul Dufy, Henri Manguin oder Albert Marquet (→ Matisse und die Künstler des Fauvismus) ebenso wie von Ernst Ludwig Kirchner, Alexej von Jawlensky, August Macke, Gabriele Münter und Max Pechstein und schließlich von Rudolf Levy, Oskar und Margarete Moll, Hans Purrmann und Mathilde Vollmoeller.
Insgesamt drei Mal reiste Henri Matisse selbst nach Deutschland: im Sommer 1908 nach Speyer, Heidelberg, Nürnberg und München, um die Jahreswende 1908/09 nach Berlin und Hagen i. Westfalen sowie im Herbst 1910 nach München. Immer wurde er dabei von einem seiner wichtigsten deutschen Schüler, dem Maler Hans Purrmann, begleitet. Er trank im Münchner Löwenbräukeller Bier, sah islamische Kunst und propagierte seine eigene bei deutschen Galeristen und Sammlern wie Karl Ernst Osthaus, dem Begründer des Folkwang Museums in Hagen. Henri Matisse schuf mit seinen seit 1905 am Pariser Salon d‘Automne präsentierten Gemälden eine modernistische Art des Malens, hinter die die deutschen Maler sowohl der „Brücke“ wie auch des „Blauen Reiter“ nicht zurückstecken konnten. Ja, sie suchten ab 1909 den Fauvismus Matisses noch zu übertrumpfen, noch roher zu malen und noch leuchtendere Farben (großflächig) einzusetzen. Der Vergleich mit den Werken der Kollegen, Schülerinnen und Schüler von Matisse macht diese Steigerung deutlich.
Was machte Henri Matisses frühe Werke so innovativ? Dem Kurator der Ausstellung, Peter Kropmanns, zufolge waren es „seine Darstellungsweise, deren Koordinaten Farbe, Form, Fläche, Figur, Raum und ihre Interaktionen“1. Dem „Wesentliche“ von Mensch, Natur und Dingwelt wollte er auf die Spur kommen, in dem er sowohl die Details und das Individuelle reduzierte und gleichzeitig zu einer Synthese von Gesehenem und Gewusstem ansteuerte. Zu den Methoden Matisses zählten beständiges Beobachten und Experimentieren, wie der Matisse-Experte anführt.
Nachvollziehbar wird das in der Mannheimer Ausstellung durch den Vergleich zwischen den Gemälden der 1890er Jahre wie der dunkeltonigen Kopie nach einem „Seesturm“ von Ruisdael im Louvre (Privatsammlung), einem ebenso farbig höchst reduzierten, um nicht zu sagen düsteren Einblick in das „Atelier von Gustave Moreau“ (1895, Privatsammlung), dem naturalistischen „Stillleben mit schwarzen Messern“ (1896, Musée Fabre, Montpellier, Méditerranée Métropole) und den ersten farbigen wie auch modellierten Experimenten (um 1900/01). Ergänzt wird Matisses Suche nach Ausdruck durch frühe Werke von Albert Marquet, André Derain und Raoul Dufy. Zu den schockierenden Momenten in deren Entwicklung muss die Eröffnung der Impressionisten-Galerie im Musée du Luxembourg gezählt haben! Plötzlich finden sich reine, unvermischte Farben in den zuvor tonigen Kompositionen.
Die Phase des Fauvismus ist durch zwei phänomenale Landschaften von Maurice de Vlaminck und André Derain aus dem Arp Museum repräsentiert. Diese reduzierten, durch Farbflächen wirkenden Kompositionen rahmen gleichsam Henri Matisses „Akt im Wald“ von 1906 aus dem Brooklyn Museum. 1905 noch waren die Landschaften aus Collioure deutlich vom Pointillismus und der Malweise von Paul Signac geprägt gewesen. Kurz darauf begannen die Maler die Flächen zusammenzufassen und reine Regenbogenfarben einzusetzen, was auch Matisse-Anhänger wie Georges Braque und Henri Manguin überzeugte.
Weiters wechselte der Hauptvertreter des Fauvismus scheinbar mühelos zwischen den Medien. So ist Matisse heute zwar für seine Malerei berühmt, gleichzeitig beschäftigte er sich aber auch mit Tonplastiken, Zeichnungen und Grafiken, also mit dreidimensionalem Gestalten und Schwarz-Weißer Interpretation.2 Die Mannheimer Ausstellung zeigt deshalb auch relativ viele Bronzen aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Diese sind Gemälden gegenübergestellt, in denen Matisse seine plastischen Werke als Motive noch einmal bildnerisch verarbeitete, wie in „Nu couché, I“ zu sehen ist.
„Ich liebe das Modellieren in gleichem Maße wie das Malen – ich habe keine Vorliebe. Wenn das künstlerische Problem dasselbe ist, wenn mich ein künstlerisches Mittel ermüdet, dann wende ich mich dem anderen zu – und ›um mich zu ernähren‹, stelle ich aus Ton die Kopie eines anatomischen Modells her.“3 (Matisse 1913)
1905 sorgten die Werke von Matisse, Derain, Vlaminck, Camoin, Albert Marquet und Manguin beim 3. Pariser Herbstsalon im Grand Palais, dem Salon d`Automne, für immenses Aufsehen: „Sieh da, Donatello unter den wilden Tieren!“ Die „wilden Tiere“ (franz. „fauves“) wurden zum geflügelten Wort, zum Etikett für eine Gruppe, als deren Zentrum bereits von den Zeitgenossen Matisse und Derain erkannt wurden. Der Saal VII auf der Herbstausstellung 1905 verwandeltet sich in eine „cage aux fauves“, einen „Käfig voller Bestien“, während gleichzeitig die Meisterschaft von Ingres und Edouard Manet in Form von Retrospektiven gewürdigt wurde.
Der Begriff „Fauvismus“ wurde vom Kunstkritiker Louis Vauxcelles im Magazin „Gil Blas“ geprägt aber von den bezeichneten Künstlern immer abgelehnt. Wie die Kunst seiner Freunde war auch Matisses Malerei nicht zu kategorisieren, entzog sich einer Einordnung, bewegte sich außerhalb bekannter Schulen und bediente keine ideologischen Programme. Stattdessen ging es ihm und seinen Freunden für kurze Zeit, um die Erneuerung der Malerei als solche, um die Darstellung der „Wahrheit“ der Landstriche und Objekte.
Wenn auch der „Fauvismus“, wie die kurz aufflammende Phase gemeinsamen Arbeitens und Ausstellens von knapp über einem Dutzend Künstlern bis heute in der Kunstgeschichte genannt wird, nicht mehr als zweieinhalb bis drei Jahre andauerte, sind in dieser Zeit doch Kunstwerke entstanden, die den Ruhm vor allem von Matisse, Derain, Vlaminck und Van Dongen begründeten.
Der deutsche Expressionismus ist ohne den Einfluss der Pariser Kunst - allen voran von Vincent van Gogh und Henri Matisse - nicht vorstellbar.4 „Die Brücke“ konstiutierte sich am 7. Juni 1905 aus Architekturstudenten in Dresden; 1906 wurden auch Emil Nolde (bis 1907) und Max Pechstein Mitglieder, 1908/09 ist Kees van Dongen wie auch zuvor schon Emil Nolde für eineinhalb Jahre aufgenommen worden. Van Dongen stellte damit neben Pechstein, der sich vom 9. Dezember 1907 bis Ende Juli 1908 in Paris aufhielt, auch die personelle Klammer zwischen den Fauves und der „Brücke“ her. Ab dem Jahr 1908 änderte sich der Stil der „Brücke“, die Nolde zuvor noch mit dem Schimpfwort „Vangogherianer“ belegt hatte, zu einer flächigeren Malweise, welche der Leuchtkraft der Farben besonders zuträglich war. Die verstärkte Ausstellungspräsenz der Fauves in Deutschland könnte dafür ein Grund gewesen sein.
Das Verhältnis der „Brücke“-Künstler zu Henri Matisse verdunkelte sich im Laufe ihrer Leben. So suchten sie spätestens nach dem Ersten Weltkrieg den Einfluss des Franzosen auf ihre Entwicklung zu verleugnen. Aussagen von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff konnten in den letzten Jahren als falsch bewiesen werden, haben die jungen Maler doch begierig auf Matisse gesehen und ihn sogar als Mitglied gewinnen wollen. Doch dazu war es nicht gekommen.
Stattdessen bildeten sie sich in Ausstellungen selbständig ein Bild von Matisses Kunst. Im September 1908 waren Werke von Matisse bei Richter in Dresden ausgestellt, im Januar 1909 folgte eine erfolgreiche Matisse-Schau bei Cassirer in Berlin. Kirchner und Pechstein besuchten diese – wie viele andere Künstler auch – und schrieben an Heckel nach Dresden: „Matisse z.T. sehr wüst“ (Max Pechstein an Erich Heckel, 12.1.1909) Cassirer hatte 30 Gemälde, 30 Lithografien, Holzschnitte und Zeichnungen sowie 10 Bronzeplastiken in die Hauptstadt gebracht, darunter den legendären Frauenakt „Nu bleu (Souvenir de Biskra)“ (1907). Obschon dieses Werk nicht in der Ausstellung ist, belegen doch die daraufhin entstandenen Akte der „Brücke“-Künstler den Einfluss des Franzosen. Klobige Formen, starke Drehungen, Betonung des Po können auf Matisse zurückgeführt werden.
Ernst Ludwig Kirchners Holzskulptur „Liegende“ (1911/12, Albertinum/Skulpturensammlung, SK Dresden) vermittelt einen Eindruck davon, wie offen der „Brücke“-Künstler die spannungsreiche Körperdrehung von so manchem gemalten und plastisch geformten Akt Matisses aufnahm. Der Werkstoff Holz begeisterte wiederum den Franzosen kaum, spielte allerdings im Werk der deutschen Expressionisten eine große Rolle. In Arbeiten wie der „Liegenden“ treffen die unterschiedlichsten Einflüsse aufeinander, wird das neue Körperbild doch auch von „primitivistischen“ Überlegungen gespeist.
Dass in den folgenden Jahren die Leuchtkraft der Farben noch gestärkt und die „wilde“ Malerei noch ungestümer gehandhabt wurde, geht ebenfalls auf die Auseinandersetzung mit Matisse zurück. So sahen manche Kritiker im eingeschlagenen Weg auch eine Gefahr für die Jungen zu Adepten und Nachfolgern zu werden. Um sich von diesem Vorwurf zu befreien steigerten die „Brücke“-Maler den Umgang mit den Malmitteln – und lösten sich in Wortspenden vom berühmten Vorbild. Ernst Ludwig Kirchners „Liegender blauer Akt mit Strohhut“ (1909, Privatsammlung) oder Ernst Ludwig Kirchners „Mädchenakt auf blühender Wiese“·(1909, Buchheim Museum der Phantasie, Bernried) führen die Konzepte Matisses augenscheinlich bereits weiter.
Wassily Kandinsky (1866–1944) und dessen Lebensgefährtin Gabriele Münter (1877–1962) lebten von Juni 1906 bis August 1907 in Sèvres, außerhalb von Paris. Obwohl sie sich abseits von der Pariser Kunstszene hielten, studierten sie am Herbstsalon die Werke von Paul Gauguin, Paul Cézanne und Henri Matisse genau. Kandinskys in dieser Zeit entstandenen Holzschnitte erschienen beim Verlag „Tendances Nouvelles“ im Jahr 1907 unter dem Titel „Xylographies“ und machten den russischstämmigen Künstler aus München auch in der Seine-Metropole bekannt. In ihnen verarbeitete er Erinnerungen an seine russische Heimat und ihre Märchen, verband alles mit einer musischen Note, die typisch für Kandinsky ist.
Die folgenden Jahre malten Kandinsky und Münter gemeinsam mit Alexej von Jawlensky (1864–1941) sowie Marianne von Werefkin (1860–1938) im kleinen Dorf Murnau, südlich von München. Im Jahr 1908, als Matisse seine „Notes d`un peintre“ erstmals veröffentlichte5, arbeiteten die zukünftigen Künstler des „Blauen Reiter“ an Stillleben und Landschaften in deutlich expressionistischer Manier. Jede und jeder behielt dabei seinen persönlichen Zugang: Kandinsky eroberte sich leuchtende Farben, Gabriele Münter hingegen nutzte gedecktere Töne. Werefkins Kompositionen sind dynamisch bewegt, und Jawlensky entwickelte seine Bildsprache rasant von einem lyrischen Expressionismus zu einer abstrahierenden Formreduktion. Das Kristalline (→ Kristallvisionen in der Kunst) fanden die Künstler_innen des Blauen Reiter vor allem in der Kunst von Robert Delaunay (1885–1941), den sie wie Matisse und Rousseau zu ihrer ersten Ausstellung 1911 in die Münchener Galerie Tannhauser einluden.
Sehr „fein“, nahezu bürgerlich geht August Macke mit den fauvistischen Farbexperimenten um. Sein „Sitzender Akt mit Kissen“ (1911, Lehmbruck Museum, Duisburg) wird konfrontiert mit Henri Manguins „Les Gravures [Die Druckgrafiken]“ (1905, Madrid). Sowohl der Motivkreis wie auch die Malweise Manguins findet bei dem Maler aus Bonn seinen Widerhall. Mehrere Werke in der Mannheimer Ausstellung zeigen, wie nach ersten Anfängen ab 1905, impressionistischen Kompositionen 1908 (beides leider nicht zu sehen) im Jahr 1910 plötzlich das Vorbild Matisse und der Fauvismus rezipiert wird.6
Neben Macke beschäftigte sich Alexej von Jawlensky ausnehmend mit Matisse, wie biografisch nachzuweisen ist. Sein „Stillleben mit violetter Schale“ (1912, Städel Museum, Frankfurt am Main) deutet bereits die Abstraktion an – und findet seine Entsprechung in Stillleben des Franzosen der folgenden Jahre. Während seines Aufenthalts in Issy schuf Matisse einige außergewöhnliche Kompositionen, in denen er die Grenze zur Ungegenständlichen Kunst dann doch nicht überschritt. Ähnliches vollzog auch Jawlensky als Reaktion auf seine erzwungene Emigration in die Schweiz. Doch das ist eine andere Geschichte. Umso mehr erstaunt, wie sehr die Matisse-Schüler Oskar Moll und Hans Purrmann bei allem Mut in Bezug auf Farbigkeit dann doch im Changieren zwischen Beschreibung kompakter Formen und Formauflösung verharren.
Abgesehen von seinen drei Reisen nach Deutschland (1908, 1908/09, 1910) und zahlreichen internationale Ausstellungsbeteiligungen seit 1907 prägte Henri Matisse deutsche Künstlerinnen und Künstler auch durch seine Pariser Aktivitäten.7 Die Académie Matisse zählt zu den wichtigsten Vermittlungsinstanzen seiner künstlerischen Ideen.
Peter Kropmanns vermutet, dass er die Konkurrenz von Seiten Pablo Picassos ein wichtiger Auslöser für die Gründung der Malschule gewesen sein könnte. Ende 1907 waren Picasso und Georges Braque im Begriff, den Kubismus zu erfinden und damit der Cézanne-Nachfolge einen neuen Aspekt abzuringen. Die Anfang 1908 eröffnete Académie Matisse etablierte sich rasch als Ausbildungsstätte vor allem junger Amerikaner, Skandinavier und Deutscher. Das Fehlen von Dokumenten lässt nur Vermutungen über Anzahl und Herkunft der Schülerinnen und Schuler zu. So dürfte Henri Matisse an die 40 angehende Kunstschaffende unterrichtet haben, von denen ein Drittel Frauen waren. Allerdings erlosch Matisses Interesse am Unterrichten rasch (Herbst 1909) und er zog in den Pariser Vorot Issy-les-Moulineaux bei Clamart, weshalb der Unterricht nur bis Frühjahr 1910 oder 1911 stattgefunden haben dürfte. 8
Die wichtigsten deutschen Schülerinnen und Schüler der Académie Matisse waren Oskar und Margarethe Moll, Hans Purrmann und seine spätere Frau Mathilde Vollmoeller sowie Rudolf Levy. Da die Kunst des jüdischen Malers Rudolf Levy aufgrund seiner späteren Diffamierung, Verfolgung und Ermordung kaum nachvollziehbar ist, gelten Hans Purrmann und Oskar Moll heute als die bedeutendsten Schüler von Matisse in Deutschland.
Hans Purrmann lernte Henri Matisse bereits 1906/07 über die Familie Stein kennen. Der enge Kontakt und Purrmanns Organisationstalent machten ihn zum massier der Académie Matisse, d.h., er war der für die Organisation zuständige Atelieraufseher. Zudem unternahm er gemeinsam mit Matisse Malreisen nach Cassis und Collioure sowie als Gefährte auf den drei Deutschlandreisen des Fauvisten. So dürften auch die Kontakte zu Karl Ernst Osthaus und Paul Cassirer über die Empfehlung von Purrmann zustande gekommen sein. Seine spätere Ehefrau Mathilde Vollmoeller befand sich ebenfalls seit 1906/07 in Frankreich und nahm an zahlreichen Pariser Ausstellungen teil.
Hans Purrmann „Stillleben mit Vasen, Apfelsinen und Zitronen“·(1908, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie) kommt Matisse sehr nahe. Der Einsatz von dekorativen Stoffen und die dadurch erzielte Verunklärung des Raums sind charakteristisch für Matisses „anti-kubistischtes“ Denken. Dass hinter all dem Paul Cézannes Stillleben stehen, darauf verweist Henri Matisses „Stillleben mit Früchten“ (Galerie Rosengart, Luzern) aus dem Jahr 1898. An solche pittoresken Zusammenstellungen fand offensichtlich Mathilde Vollmoeller-Purrmann Gefallen. Ihr „Stillleben mit Kamelie“ (1913, Purrmann-Haus Speyer) überzeugt durch ein spannungsreiches Arrangement und eine lockere Pinselschrift.
Der Kulturaustausch zwischen Deutschland und Frankreich reduzierte sich vor 1914 deutlich darauf, dass sich Frankreich – und hier fast ausschließlich Paris als zentralisierte Metropole des Ausstellungswesens und des Kunstmarkts – in einer gebenden Rolle und Deutschland in der nehmenden befanden. Während Matisse zwar 1910 München besuchte, um eine Ausstellung zu orientalischer Kunst zu sehen, und er sich deutlich bemühte (aus Verkaufsgründen) auf deutschen Ausstellungen vertreten zu sein, richtete sich sein künstlerisches Interesse nachweislich auf nordafrikanische Gefielde. So ist die Wirkung nicht nur der Fauves, sondern der modernen Kunst Frankreichs allgemein und bis hin zu den Kubisten, kaum zu überschätzen.
Mit dem Aufkommen von Kubismus und Futurismus wurde aus dem „Künstler für Künstler“ ein „Klassiker der Moderne“. Matisse entwickelte nach 1911 sein Werk als einen individuellen Beitrag zur Moderne weiter. Mit einem kompromisslosen Interesse an Verdichtung erreicht er die für ihn typische sinnbild- und zeichenhafte Reduktion seiner Formensprache. Als Maler und Bildhauer erforschte er die Grenzen zur Abstraktion. Die Ausstellung schließt mit den vier lebensgroßen Rückenakten in Bronze, die ihn zwei Jahrzehnte beschäftigten. Sie gelten als ein Höhepunkt des Werks von Henri Matisse (→ Henri Matisse. Der Plastiker).
Kuratiert von Dr. Peter Kropmanns (Paris), Dr. Ulrike Lorenz.
Peter Kropmanns: Matisses Weg vom Revolutionär zum „Künstler für Künstler“
Peter Kropmanns: Matisses Weiterentwicklung 1910 bis 1930 zum Klassiker der Moderne
Christian Weikop: Einfluss von Matisse auf die deutschen Expressionisten
Jacqueline Munck: Auswirkungen Matisse auf die Fauves und „die Erprobung der Mittel“
Ina Ewers-Schultz: Deutsche Schüler der Académie Matisse von 1908 bis 1910
Isabelle Monod-Fontaine: Rückenfiguren bei Matisse als Leitmotiv in seiner Malerei und Grafik
Mit weiteren Beitragen von Simon Kelly, Simone Klein, Astrid Köhler sowie Colin Lemoine
PRESTEL