London | National Gallery of Art: Tizian: Poesie | ARTinWORDS
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Tizian: Poesie Venedigs Renaissancemeister interpretiert Ovid: Liebe, Verlangen und Tod

Tizian, Raub der Europa, Detail, 1562, Öl/Lw, 178 x 205 cm (© Isabella Stewart Gardner Museum, Boston)

Tizian, Raub der Europa, Detail, 1562, Öl/Lw, 178 x 205 cm (© Isabella Stewart Gardner Museum, Boston)

Erstmals seit mehr als 400 Jahren vereint die National Gallery in London die sechs Bilder der „Poesie“ von Tizian (um 1488–1576) – eine einzigartige Gelegenheit dem späten mythologischen Werk des venezianischen Renaissance-Meisters näherzukommen.Tizians zwischen etwa 1551 und 1562 geschaffenen „Poesie“ gehören zu den originellsten bildnerischen Interpretationen des klassischen Mythos der Renaissance und sind aufgrund ihrer ausdrucksstarken Darstellung Meisterwerke der europäischen Malerei, wie Kurator Matthias Wivel betont.

Titian: Love Desire Death

Großbritannien | London: National Gallery of Art, Main Floor Galleries
16.3.–14.6.2020
verlängert bis 17.1.2021

Tizian und Philipp II.

Im Dezember 1548 traf der etwa 60-jährige Tizian den damals 21-jährigen Philipp II. vermutlich zum ersten Mal in Mailand und reiste dann in dessen Gefolge zum Reichstag in Augsburg, wo sie am 21. Februar 1549 ankamen.1 Philipp war von seinem Vater Kaiser Karl V. (1500–1558) auf eine Grand Tour durch Europa geschickt worden, um ihn auf die Übernahme der Kaiserwürde vorzubereiten. Tizian hatte bereits Karl V. gedient, weshalb der junge Potentat die Werke Tizians aus der königlichen Sammlung bestens kannte und den Maler im habsburgisch regierten Mailand treffen wollte. Kurz zuvor hatte der Venezianer auf dem Augsburger Reichstag von 1548 das große Reiterporträt von Karl V. (Prado) gemalt und ihn als Sieger über den Schmalkaldischen Bund gefeiert. Berichten zufolge war das Verhältnis von Kaiser und Maler außergewöhnlich „intim“. Der Legend nach soll sich der mächtigste Herrscher Europas sogar gebückt haben, um einen Pinsel Tizians aufzuheben. Allerdings war Karl V. hauptsächlich an Porträts interessiert und machte Tizian zu einem Werkzeug seiner Repräsentation (mit zugegeben starker persönlicher Beteiligung des venezianischen Malers).

Der Habsburger Philipp II. (1527–1598), Prinz und — ab 1556 — König von Spanien, gab 1550/51 bei Tizian Gemälde in Auftrag, und dieser durfte die Themen, die Formate und die Interpretation der etwa 18 gelieferten Werke selbst bestimmen, darunter die Serie von sechs Gemälden der „Poesie“. Wivel geht von der Annahme aus, dass der Auftraggeber an mythologischen Werken interessiert war und dem Künstler freie Hand gab, um dessen künstlerische Fähigkeiten zu „befreien“.2 Außerdem besaß der Prinz bereits zwei heute verlorene Mythologien von Tizian: „Venus und Amor“ (1548) und „Mars und Venus“.

Die „Poesie“ für Philipp II. basieren auf einer umfangreichen Kenntnis Tizians der literarischen Quellen. Die Werke zeigen Liebesgeschichten zwischen Göttern bzw. Göttinnen und Sterblichen aus der Klassischen Mythologie mit meist tragischem Ausgang. Aus heutiger #MeToo-Perspektive ist vor allem der englische Titel der Europa interessant: Als „The Rape of Europa“ betitelt, wird schon am Objektschild auf die Vergewaltigung der Königstochter verwiesen. Tizian scheint dies durch die Bewegung der Entführten anzudeuten, denn sie dreht sich zu ihren Gefährtinnen um, wodurch ihr rechter Arm das Gesicht verdeckt. Schönheit der Malerei, Enthüllung nackter weiblicher Körper und Grausamkeit im Umgang mit Frauen treffen im Werk Tizians unvermittelt aufeinander.

Tizian schöpfte die Ideen zu den „Poesie“ hauptsächlich aus den Metamorphosen des römischen Dichters Ovid – auch wenn seine Lateinkenntnisse limitiert gewesen sind! Tizians Freund, der Humanist Lodovico Dolce (1508/10–1568), gab 1553 in Venedig eine an Kaiser Karl V. gewidmete Übersetzung der Metamorphosen unter dem Titel „Le Trasformationi“ heraus, die der Künstler vermutlich intensiv studierte. Weitere Quellen sind Bocaccio, Achielleus Tatios, Diego Hurtado de Mendoza. Ovids Metamorphosen waren im 16. Jahrhundert bereits sehr bekannt, weil sie auch in einer Übersetzung von Ludovico Dolce in Venedig publiziert worden waren. Tizian sah seine Bilder als visuelle Entsprechung zur Poesie und nannte sie deshalb 1553 in einem Brief „Poesie“. In ihnen destillierte er das Wissen über Malerei und visuelles Geschichtenerzählen, das er sich über fünf Jahrzehnte als Künstler angeeignet hatte, um einige seiner tiefgreifendsten Aussagen zu menschlicher Leidenschaft und Irrationalität, zu Liebe und Tod zu machen. Tizians Bildquellen sind genauso reichhaltig wie die literarischen Quellen, darunter antike Skulpturen, Kameen, Gemälde Michelangelo Buonarrotis, Correggios und Parmigianinos, Stiche nach Werken der Fontainebleau-Künstler, Primaticcio, Rosso Fiorentino. Maler wie Anthonis van DyckPeter Paul Rubens und Diego Velázquez, aber auch Edouard Manet und Pablo Picasso schätzten und bewunderten die Meisterwerke der Renaissance.

Tizians Maltechnik: vollendet unvollendet

Da Philipp an dem heute wohl verschollenen Porträt, das Tizian anlässlich ihres ersten Treffens in Mailand 1548 von ihm gemalt hatte, die skizzenhaft Ausführung der Rüstung beklagt hatte, wollte der venezianische Maler offensichtlich die Gemälde der „Poesie“ weniger „unvollendet“ erscheinen lassen. Zudem kündigte der Maler die Werke als Bildpaare an, deren Kompositionen bewusst als „contraposti“ entwickelt worden wären. Daraus wird geschlossen, dass die Bilder für einen speziellen Raum geschaffen worden sein könnten. Dieser wurde jedoch nie realisiert und die Werke binnen weniger Jahrzehnte in verschiedene Sammlungen, heute in verschiedene Länder zerstreut.

Die vom Prinzen und späteren König dem Künstler zugestandene künstlerische Freiheit inspirierte den bereits über 60-jährigen Tizian zu einem außergewöhnlich freien Umgang mit dem Pinsel und motivisch erfindungsreichen Interpretationen der Metamorphosen. Indem Tizian innerhalb eines Bildes geschickt freie Malerei mit stärker ausdifferenzierten Partien kontrastierte, führte er kurz nach Mitte des 16. Jahrhunderts das Konzept der sprezzatura und des non finito, der scheinbar mühelosen Malerei und des Unvollendeten, auf einen noch nie gesehenen Höhepunkt.

Tizians Poesie

Der Prado besitzt mit „Venus und Adonis“ das einzige Gemälde der Serie in Madrid. „Perseus und Andromeda“ war das erste der „Poesie“, das Spanien verließ und fand schließlich seinen Platz in der Wallace Collection in London. Die Darstellung der „Raub der Europa“ ist seit über einem Jahrhundert im Isabella Stewart Gardner Museum in Boston und gilt als wichtigstes Gemälde Alter Meister in den USA. Zwei Gemälde, „Diana und Actaeon“ sowie „Diana und Callisto“, gingen von den Orléans in die Bridgewater-Sammlungen weiter. Beide Bilder wurden 2009 bzw. 2012 gemeinsam von der National Gallery in London und den National Galleries of Scotland in Edinburgh erworben. Bis dato sind diese Tizian-Gemälde die teuersten Kunstwerke, die jemals von öffentlichen Museen in Großbritannien erworben wurden. Die Wellington-„Danaë“ war bis vor einigen Jahren ein weitgehend unbekanntes Werk. In der Zwischenzeit konnte festgestellt wurde, dass dieses Londoner Bild eines der sechs „Poesie“ war. Die „Danaë“ im Prado wurde in der Zwischenzeit als ein Spätwerk Tizians erkannt. Der „Tod des Actaeon“ in der National Gallery London wurde vermutlich als Erweiterung der „Poesie“ gedacht aber nie vollendet.

Wurden Tizians „Poesie“ von der älteren Generation noch als „Liebschaften“ gedeutet, hat sich der Blick auf die Geschichten verändert. Das Bewusstsein für die erzwungenen und für die Sterblichen fatal endenden Liebesgeschichten bzw. Vergewaltigungen macht die „Poesie“ zu Exempla für Verlangen, Macht und Ohnmacht, Schuld und Unschuld, wobei in der Antike bereits das Schicksal zur Verantwortung gezogen wurde.

Danaë – Venus und Adonis

Das erste an Philipp II. gesandte Bildpaar waren die „Danaë“ (1551–1553, The Wellington Collection, Apsley House) und „Venus und Adonis“ (Prado). Für die „Danaë“ konnte Tizian auf eine bereits gefundene Komposition zurückgreifen, während er „Venus und Adonis“ neu erfand. König Philipp II. schätzte Kunst – nicht wie sein Vater Karl V. vorrangig als Mittel kaiserlicher Repräsentation – sondern als kreative Leistung.

Wird in der älteren Literatur noch darüber spekuliert, ob die „Danaë“ aus dem Prado oder die der Wellington Collection mit der ersten Bildersendung identifiziert werden sollte, haben die Forschungen der letzten Jahre zugunsten der Wellington-Danaë gesprochen.3

Die Figuren hatte Tizian bereits um 1545/46 in einer Darstellung der „Danaë“ (Museo di Capodimonte, Neapel) für Kardinal Farnese entwickelt – allerdings zeigt sie sich in dieser Fassung noch mit einem weißen Schleier am Schoß und einem abgehenden Amor. Die „Urmutter“ ist die „Venus von Urbino“ aus Tizians Frühwerk. Die Sinnlichkeit der Prinzessin wurde in der Literatur als Anspielung auf die Geliebte des Kardinals gedeutet, wobei sogar deren Gesichtszüge den Maler inspiriert haben sollen.

Die „Danaë“ aus dem Prado ruht nackt und bildparallel auf einem Bett. Die alte Dienerin hält ihre Schürze auf, um den Goldregen, der sich aus einer Wolke ergießt, einzufangen. Ein kleiner Hund hat sich am Kopfende des Bettes zusammengerollt und schläft. Die „Danaë“ für den spanischen König ist nun gänzlich nackt, blickt mit leicht geöffnetem Mund zum Goldregen. Das Inkarnat der Danaë wirkt strahlend hell und unterscheidet sich grundlegend von der dunkleren Hautfärbung ihrer betagten Dienerin resp. Wächterin. Deren Handlung deutet auf die käufliche Liebe hin. Ursprünglich war das Gemälde größer. Dass die „Danaë“ durch die offene Malweise besondere Sinnlichkeit ausstrahlen würde, wird in vielen Analysen zu Tizians Spätwerk herausgestrichen.

1554 sandte Tizian „Venus und Adonis“ (Prado) an den spanischen König. Vielleicht erhielt Tizian die Anregung zu diesem Bild vom spanischen Botschafter in Venedig, Diego Hurtado de Mendoza. Der Humanist besaß drei Ausgaben der „Metamorphosen“ des Ovid und erwarb 1556 in Antwerpen Wandteppiche mit Szenen aus Ovids Werk, die er als „Poesie“ bezeichnete.

„Venus und Adonis“ aus dem Prado zeigt nun eine Göttin, die vergeblich versucht, ihren Geliebten von der gefährlichen Jagd abzuhalten. Wie auch die „Danaë“ basiert auch dieses Werk auf einer bereits genutzten Komposition, weshalb vermutlich die Unterzeichnung schematischer ausgefallen ist als bei den späteren Gemälden. Die beteiligten Restaurator*innen heben in ihrem Katalogbeitrag hervor, wie dünn Tizian der Kreidegrund und dann die Ölfarbe aufgetragen hat. Der Venezianer bevorzugte es offenbar, damit nur die Löcher zwischen den Fäden zu füllen, um die Werke für den Transport noch rollen zu können. Die sehnsüchtig an ihrem Liebhaber hängende Venus und der entschlossene Schritt des Adonis haben dieses Werk zu einem der bekanntesten Bilder Tizians gemacht. Wie der Untertitel der Londoner Ausstellung sagt, ging es dem Maler nicht um die Darstellung der Verwandlung, wofür die Metamorphosen eigentlich stehen, sondern um die Balance zwischen Liebe und Tod, zwischen tragischem Entdecken, Verurteilung und Rettung.

Perseus und Andromeda

1556 bekam der König „Perseus und Andromeda“ (Wallace Collection) übermittelt; eine erste Nachricht von dem Bild findet sich in einem Brief von 1554. Da die Malerei deutlich freier und experimenteller als in den beiden früheren „Poesie“ ist, zeigt Tizian eine stilistische Entwicklung. Das dritte Bild der Serie ist deutlich schlechter erhalten als die beiden folgenden oder gar das Bild aus Boston. Grund dafür war ein neues Blau-Pigment, das Tizian ab Ende der 1540er Jahre nutzte: Smalto basiert auf mit Kupfer eingefärbtem Glas, das deutlich günstiger war als der exklusive Lapislazuli. Der Maler konnte nicht wissen, dass Jahrhunderte später die leuchtenden Blautöne verblasst und seine Bilder dadurch zu brauntönigen Kompositionen verwandelt sein würden. Vor allem „Perseus und Andromeda“ hat heute einen grau-braunen Grundton, der die Darstellung der Felsen zu einer einheitlichen Masse reduziert. Ursprünglich dürfte das Gemälde genauso geleuchtet habe wie der „Raub der Europa“, das nun an seiner Seite hängt. Vermutlich hätte es als Pendant „Medea und Jason“ erhalten sollen, doch verfolgte Tizian aus unbekannten Gründen dieses Konzept nicht weiter und schickte dem nunmehrigen König von Spanien der „Raub der Europa“. Damit stellt das Bildpaar eine Rettung und eine Entführung zweier Königstöchter einander gegenüber.

Röntgenbilder und Macro-XRF Scans zeigen, wie der Maler die Komposition von „Perseus und Andromeda“ mehrfach veränderte. Im Gegensatz zum ersten Bildpaar beschäftigte sich Tizian mit der Geschichte der Rettung der Andromeda zum ersten Mal. Auffallend ist der buntgekleidete Perseus, der im Sturzflug über das Seeungeheuer Ceto kommt, während die nur mit einem weißen Schleier bekleidete Andromeda am linken Bildrand in Ketten und einer fast tänzerischen Haltung gezeigt wird. Ursprünglich plante Tizian sie in einer gewundenen Haltung wiederzugeben. Doch dann entschied er sich einen verführerischen Akt als Gegengewicht zum kämpfenden Helden zu inszenieren. Für die dramatische Verkürzung des Perseus konnte er in einem Relief von Benvenuto Cellini aus den 1550er Jahren (Bargello) möglicherweise ein Vorbild finden. Tizian hatte den Florentiner Bildhauer 1446 in seinem Atelier in besucht und bald danach einen Gegenbesuch in Venedig erhalten. Noch schlagender ist allerdings der Hinweis auf den jungen Jacopo Tintoretto, der 1548 das „Wunder des hl. Markus“ (Gallerie dell’Accademia, Venedig) in der Scuola Grande di San Marco ausgeführt und damit unmittelbaren Erfolg erzielt hatte. Die Bedeutung des Bildes für Tizian wird in einem ricordo in Montauban vermittelt, den Vasari vermutlich in der Werkstatt des Venezianers 1566 gesehen und gelobt hat. Kurz darauf bot Tizian das Gemälde (oder eine Version davon) Kaiser Maximilian II. in Wien vergeblich an.

Diana und Aktaion – Diana und Kallisto

1559 schickte Tizian „Diana und Aktaion“ sowie „Diana und Kallisto“ (beide National Gallery of Scottland, Edinburgh) nach Spanien. Die beiden Werke werden in der National Gallery London Seite an Seite präsentiert, bilden sie doch den Kern der Ausstellung. Am 19. Juni 1559 waren die Gemälde vollendet, nachdem er – auch in einem Brief an seinen Auftraggeber – davon sprach, mehr als drei Jahre an ihnen gearbeitet zu haben. Ob das der Wahrheit entsprach, darf in Zweifel gezogen werden. Zumindest hat Tizian während des Sommer 1559 noch kleiner Veränderungen vorgenommen, wie der spanische Botschafter García Hernández seinem König berichtete. Gemeinsam mit Murano-Glas sowie zwei weiteren Gemälden (einer „Grablegung“ und einem Bild einer Türkin) erreichten die Werke erst im Herbst 1560 ihren Bestimmungsort.

„Diana und Aktaion“ zeigt eine Szene, in der Sehen und Verhüllen eine große Rolle spielt. Der Jäger Aktaion verirrt sich im Wald und entdeckt zufällig Diana und ihre Nymphen beim Bad. Daraufhin wird er von der verärgerten Göttin in einen Hirsch verwandelt, und seine eigenen Hunde zerreißen den Unglücklichen.

„Diana und Kallisto“ zeigt, wie die Schwangerschaft der arkadischen Königstochter Kallisto entdeckt und sie zur Strafe – für die Vergewaltigung und anschließende Schwangerschaft – aus dem Gefolge der Diana verstoßen wird. Die Nymphe hatte das Gebot der Jungfräulichkeit gebrochen und sich von Zeus, der sich ihr in Gestalt der Diana genähert hatte, verführen lassen. Die eifersüchtige Juno (Gera) verwandelte Kallisto in eine Bärin.4

Gleichzeitig kündigte Tizian die Zusendung des Gemäldes „Tod des Aktaion“ (The National Gallery, London) an, das jedoch erst später ausgeführt und vielleicht nicht vollendete wurde.

Der Raub der Europa

1562 sandte Tizian das Gemälde „Raub der Europa“ (Isabella Stewart Gardener Museum, Boston) nach Spanien. Die literarische Quelle könnte Achilleus Tatios‘ Roman „Leukippe und Kleitophon“5 aus dem Besitz des spanischen Botschafters in Venedig, Diego Hurtado de Mendoza, sein. Dass er anstelle von „Medea und Jason“ diese Komposition entwickeln würde, war Tizian vermutlich ab 1559 bewusst. Die erste Nachricht über das Bild erfährt man aus einem Brief vom 19. Juni dieses Jahres, in dem er die Vollendung des „Diana“-Paares ankündigte. Gemeinsam mit einem „Christus im Garten Gethsemane“ (1558–1562; Museo del Prado, Madrid) und dem „Tod des Aktaion“ wollte er sich nun ganz der Ausführung des Werks widmen. Erst am 10. April 1562 waren der „Raub“ und das neutestamentarische Bild abgeschlossen und verpackt.

Tizians „Raub der Europa“ gehört zu den besterhaltenen Bilder der Serie. Die verblauende Landschaft erinnert spontan an William Turners oder Claude Monets atmosphärische Kompositionen und feiert Malerei als reine Malerei. Der lieblich gestaltete, weiße Stier blickt direkt aus dem Bild heraus, während sich sein Opfer zu seinen Gefährtinnen am Strand umdreht. So führte Tizian zum einen eine spannende Drehbewegung mit Betonung des weiblichen Leibs ein und zum anderen das Verdecken des Gesichts der Entführten, was Spielraum für Interpretationen lässt.

Tizians „Poesiae“ in London

Aus dem ursprünglichen Zyklus von sechs Gemälden wird die Ausstellung die Bilder „Danaë“ (1551–1553, The Wellington Collection, Apsley House) mit „Venus und Adonis“ (1554, Prado, Madrid), „Diana und Actaeon“ (1556–1559) sowie „Diana und Callisto“ (1556–1559, National Gallery und National Galleries of Scotland) und „Raub der Europa“ (1562, Isabella Stewart Gardner Museum, Boston) wiedervereinen. Der „Tod von Actaeon“ (1559–1575) der National Gallery in London wurde ursprünglich als Teil der Serie konzipiert, aber erst viel später ausgeführt und nie ausgeliefert.

Dass die Serie der „Poesie“ jemals in einer Ausstellung zu sehen sein würden, war bis vor kurzem unvorstellbar. Erst die Änderung des Leihverhaltens der Wallace Collection in London ermöglichte die Leihe von „Perseus und Andromeda“ (um 1554–1556 → XX). Dieses Werk wird allerdings nur in der Londoner Ausstellung zu sehen sein.

Kuratiert von Dr Matthias Wivel, Kurator der Italienischen Malerei des 16. Jahrhunderts an der National Gallery.
Weitere Stationen der Ausstellung:

  • Scottish National Gallery, Edinburgh (11.7.–27.9.2020 → abgesagt)
  • Prado, Madrid (20.10.2020–10.1.2021 → verschoben auf 2021)
  • Isabella Stewart Gardner Museum, Boston (11.2.–9.5.2021)

Tizian, Poesie: Bilder

  • Tizian, Venus und Adonis, 1554, Öl/Lw, 186 × 207 cm (© Museo Nacional del Prado, Madrid)
  • Tizian, Danae, um 1554–1556, Öl/Lw, 114,6 x 192,5 cm (Wellington Collection, Apsley House, London © Stratfield Saye Preservation Trust)
  • Tizian, Perseus und Andromeda, um 1554–1556, Öl/Lw, 175 x 189.5 cm (The Wallace Collection, London © The Wallace Collection, London)
  • Tizian, Diana und Actaeon, 1556–1559, Öl/Lw, 184,5 x 202,2 cm (© The National Gallery London, The National Galleries of Scotland)
  • Tizian, Diana und Callisto, 1556–1559, Öl/Lw, 187 × 204.5 cm (© The National Gallery London / The National Galleries of Scotland)
  • Tizian, Raub der Europa, 1562, Öl/Lw, 178 x 205 cm (© Isabella Stewart Gardner Museum, Boston)
  • Tizian, Der Tod des Actaeon, um 1559–1575, ÖlLw, 178.8 x 197.8 cm (© The National Gallery, London)

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  1. Vermutlich wurde Tizian auf dieser Reise von seinem Sohn Orazio (vor 1525–1576) und sicher von dem ebenfalls sehr geschätzten Bildhauer Leone Leoni (um 1509–1590) begleitet.
  2. In einem Gespräch mit der Autorin am 12. März 2020. Er benennt als Vorbilder für den Prinzen bzw. König: Correggios vier sensualistische Bilder von den „Lieben Jupiters“ (frühe 1530er) für Federico II. Gonzaga, Herzog von Mantua (1500– 1540), als Geschenk an Karl V. Tizian kannte Correggio und seine Gemälde vermutlich gut. Perino del Vaga (1501–1547) entwarf eine Serie von Tapisserien mit den Jupiter-Lieben für den Palazzo Doria in Genua. Tizian selbst hatte eine Serie von „Furien“ für Königin Maria von Ungarn, Statthalterin der südlichen Niederlande, gemalt.
  3. 2004 hatte Paul Joannides die Prado-Danaë als kaum vor 1565 datierbar bezeichnet. Er schloss daraus, dass eine andere Darstellung, nämlich jene der Wellington Collection mit der gesandten „Danaë“ identisch ein müsste. Paul Joannides, Titian and Michelangelo, Michelangelo and Titian, in: P. Mailmann (Hg.), The Cambridge Companion to Titian, Cambridge 2004, S. 121–124.
  4. Das Gemälde „Diana und Kallisto“ im Kunsthistorischen Museum in Wien ist eine Replik dieser Komposition. Während der Restaurierung von 1912 wurde auf der originalen Rückseite der Leinwand die durchgedrungene Vorzeichnung entdeckt, die der Edinburgher Fassung entspricht. Sie wird meist mit der Werkstatt Tizians assoziiert. Diese Zeichnung diente als riccordo, den Tizian zurückbehielt, nachdem die schottische Fassung der „Diana und Kallisto“ nach Spanien abgeliefert war. Die Veränderungen der Wiener Fassung wurde während des Malprozesses entwickelt. Siehe: Wencke Deiters, Natalia Gustavson, Diana und Kallisto, in: Sylvia Ferino-Pagden (Hg.), Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei (Ausst.-Kat. Kunsthistorisches Museum, Wien, 18.10.2007–6.1.2008; Gallerie dell’Accademia, Venedig, 1.2.–21.4.2008) Wien 2007, S. 238.
  5. Falomir 2003.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.