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London | Tate Modern: Magdalena Abakanowicz Abakans - zwischen Textil und Skulptur | 2022/23

Magdalena Abakanowicz, Abakan Red 1969 (Tate. © Magdalena Abakanowicz Foundation)

Magdalena Abakanowicz, Abakan Red 1969 (Tate. © Magdalena Abakanowicz Foundation)

In den 1960er und 1970er Jahren schuf die polnische Künstlerin Magdalena Abakanowicz (1930–2017) radikale Skulpturen aus gewebten Fasern. Sie waren nicht hart, sondern weich; mehrdeutig und organisch; hoch aufragende Werke, die von der Decke hingen und eine neue Form der Installation bahnten. Die Textilkünstlerin nannte sie „Abakans“.
Die Ausstellung in der Tate Modern bietet die seltene Gelegenheit, dieses außergewöhnliche skulpturale Werk zu erkunden. Im Zentrum der Präsentation steht die Entwicklung Abakanowiczs in der Zeit von 1955 bis 1965, als sie ihre Werke von der Wand löste und freischwebende, skulpturale Formen entwickelte. Viele ihrer bedeutendsten „Abakans“ werden in einer waldähnlichen Aufstellung im 64 Meter langen Galerieraum des Blavatnik-Gebäudes in der Tate Modern zusammengeführt.

Magdalena Abakanowicz, Textilkünstlerin aus Polen

Magdalena Abakanowicz wurde 1930 in Polen geboren und erlebte in den Zweiten Weltkrieg in ihrer Kindheit. Sie lebte in Polen unter dem rigiden kommunistischen Regime und studierte nach dem Zweiten Weltkrieg Malerei und Weberei. Im Jahr 1954 schloss sie ihr Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Warschau ab.

Obwohl die Kunst in Polen durch das sowjetische Regime zensiert und eingeschränkt wurde, wurden Anfang der 1950er Jahre die Vorschriften gelockert. Dadurch konnten Künstler:innen transmedialen Experimente durchführen. Der staatlich geförderte Verein der polnischen Künstler, dessen Mitglied Abakanowicz war, unterstützte besonders gut Ausdrucksmöglichkeiten für „Handwerk“ oder „Volkskunst“. Dennoch spiegeln Abakanowiczs textile Arbeiten die Stilelemente der polnischen Avantgarde wider, seien es Überlegungen der informellen Kunst (→ Informel) oder des Konstruktivismus. So zeigt die Künstlerin, wie sie sich mit Materie und/oder mit räumlichen und geometrischen Konzepten auseinandersetzte. Obwohl Abakanowicz Experimente mit Objekten für Inneneinrichtungen (Industriedesigns) oder Malerei auf Stoff unternahm, war sie an den Ausdrucksmöglichkeiten des Webens interessiert.

Zusammen mit ihrem Mann lebte Abakanowicz in einer engen Einzimmerwohnung und benutzte die Webstühle der etablierten Künstlerin und Weberin Maria Laskiewicz (1891–1981), um große Werke zu produzieren. Dieser improvisatorische Stil des Webens ohne „Karton“, das heißt ohne Vorlage, schockierte die Kritiker, als Abakanowicz 1962 ihre Arbeit erstmals auf der Biennale von Lausanne ausstellte. Im Jahr 1965 erhielt sie jedoch bereits eine Goldmedaille für angewandte Kunst auf der Biennale von São Paulo und nutzte das Preisgeld, um eine größere Wohnung mit einem Atelier zu kaufen.

Kunst und Natur

Maria Abakanowicz‘ Faszination für die Natur begann als Kind, als sie im Herrenhaus ihres Großvaters aus dem 17. Jahrhundert tief in den polnischen Wäldern lebte. Sie war überzeugt davon, dass „fremde Mächte“ in den Wäldern und Seen wohnten, die ihren Eltern gehörten.

„Erscheinungen und unerklärliche Kräfte hatten ihre Gesetze und ihre Räume […].“

Die Künstlerin pflegte ihr ganzes Leben lang eine starke Verbindung zur Natur und zur biologischen, organischen Materie des Lebens. Die Tate Modern zeigt Kunstwerke und Objekte aus Haus und Atelier von Abakanowicz: Tierhörner, Felle, Muscheln, Kokons und andere Objekte boten ihr Inspiration und wurden manchmal neben Pflanzen- und Tierfasern in die Arbeit integriert.

„Ich sehe Fasern als das Grundelement, das die organische Welt auf unserem Planeten aufbaut […] Aus Fasern sind alle lebenden Organismen aufgebaut, das Gewebe von Pflanzen, Blättern und uns selbst […] unsere Nerven, unser genetischer Code, die Kanäle unserer Venen, unsere Muskeln […] Wir sind faserige Strukturen.“ (Maria Abakanowicz)

Indem sie ab Mitte der 1960er Jahre mit Sisal webte und manchmal auch Wolle und Rosshaar einarbeitete, brachen die Textilien der Künstlerin mit dem rechteckigen Format traditioneller Wandteppiche. Stattdessen begannen die Werke, die Betrachter:innen mit geschwungenen Formen zu konfrontieren, die frei im Raum hingen.

Faseriger Wald

Verblüfft über die Mehrdeutigkeit ihres Werks prägte ein Kunstkritiker 1964 erstmals den Begriff „Abakans“ – in Analogie zum Nachnamen der Künstlerin. Später übernahm Maria Abakanowicz diesen Begriff für ihre monumentalen, dreidimensionalen Werke, die sie in dichten Arrangements präsentierte. Bei der Installation einer Ausstellung bestimmte sie deren Platzierung, wobei sie oft Werke im Dialog miteinander und mit dem umgebenden Galerieraum gruppierte.

„Die Abakans waren meine Flucht vor Kategorien in der Kunst, sie konnten nicht klassifiziert werden. Größer als ich, waren sie sicher wie der hohle Stamm der alten Weide, die ich als Kind auf der Suche nach verborgenen Geheimnissen betreten konnte.“

In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren nahm Abakanowicz an einer zunehmenden Zahl internationaler Ausstellungen teil. Sie bezeichnete ihre Installationen als „Situationen“ und später als „Umgebungen“, in die sie neben ihren handgewebten Formen gefundene Elemente einbrachte. Die Künstlerin interessierte sich für die immersiven Möglichkeiten jeder Anordnung in einem bestimmten Raum und beleuchtete die Kunstwerke, um dramatische Schatten auf den umgebenden Wänden zu erzeugen.

Versteinerte Seile

Abakanowicz begann, Sisal aus Seilen zu verweben, als andere Materialien weniger leicht verfügbar waren. Sie erklärt, wie sie lokale Materialien beschaffte und sie zu Hause in Warschau vorbereitete. Die Künstlerin fand alte, ausrangierte Seile entlang der Weichsel, die sie auch aufgrund ihrer Geschichte schätzte. Aus diesen Seilen zog sie Fäden, wusch sie und färbte sie auf ihrem Gasherd. Später wurden Seile auch zu einem wichtigen Element von Abakanowiczs Formen und Installationen. Sie benutzte sie gelegentlich, um die Betrachter:innen zwischen Räumen zu führen oder sogar verschiedene Gebäude innerhalb einer Stadt zu verbinden.

„Das Seil ist für mich wie ein versteinerter Organismus, wie ein Muskel ohne Aktivität. Indem ich es bewege, seine Position und Anordnung verändere, es berühre, kann ich seine Geheimnisse und die Vielzahl seiner Bedeutungen erfahren […]. Es trägt seine eigene Geschichte in sich, es trägt diese zu seiner Umgebung bei.“

Abakany

Im Jahr 1969 arbeitete Maria Abakanowicz mit dem Avantgarde-Filmregisseur Jarosław Brzozowski (1911–1969) und dem experimentellen Komponisten Bogusław Schäffer (1929–2019), um den Film „Abakany“ zu schaffen. Die seltsame, mond- oder wüstenähnliche Landschaft fand das Trio in den Sanddünen des Slowiński-Nationalparks in Łeba an der polnischen Ostseeküste. Die Künstlerin pflanzte ihre „Abakans“ in den Sand, gestützt von Holzarmaturen. Der Film fängt die Wirkung der Fasern ein, die im Wind wehen. Brozozowski verstarb noch im selben Jahr, weshalb der Film vom Kameramann Kazimierz Mucha (1923–2006) mit Sequenzen von Innenräumen fertiggestellt wurde. Diese zeigen Abakanowicz bei der Arbeit in ihrem Atelier und in ihrer Galerie.

Embryology

Frustriert darüber, als Textilkünstlerin bezeichnet zu werden, begann Maria Abakanowicz in den 1980er Jahren, andere Materialien zu verwenden, obwohl sie weiterhin Sackleinen und Sisal für ihre zunehmend figurative Skulpturen verwendete. 1978 schuf sie eine neue Serie mehrdeutiger Formen mit dem Titel „Embryologie“, die sie aus einer Kombination von Stoffen und Fasern herstellte. Diese bündelte sie zu runden, organischen Massen. 800 dieser Formen wurden ursprünglich zusammen auf der Biennale in Venedig 1980 im polnischen Nationalpavillon gezeigt.

„Embryologie“ ist sowohl der Titel einer Arbeit als auch die Beschreibung einer umfassenderen Idee, die Abakanowicz in ihrer künstlerischen Praxis erforscht hat. Obschon sich Abakanowicz nicht als Feministin bezeichnete, interpretierten Kurator:innen und Autor:innen ihre gewebten Skulpturen als Sinnbilder für kraftvolle weibliche Bilder und künstlerisches Schaffen. Geburt, Leben, Verletzlichkeit und Verfall werden durch Formen angedeutet, die Nestern, Gebärmuttern und Eiern ähneln.

„Der Inhalt, das Innere, das Innere weicher Materie hat mich fasziniert […] Mit ‚weich‘ meinte ich organisch, lebendig. Was ist Bio? Was macht es lebendig? In welcher Region des Pochens beginnt die Individualität der Materie, ihre eigenständige Existenz? […] Sie erfüllten mein körperliches Bedürfnis, Bäuche, Organe und eine erfundene Anatomie zu erschaffen. Endlich eine sanfte Landschaft aus unzähligen Teilen, die miteinander in Beziehung stehen.“

Magdalena Abakanowicz in der Tate Modern

Ziel der Ausstellung in der Tate Modern ist, jene Phase der Veränderung, als Abakanowicz ihre künstlerische Praxis radikal neu definierte, genauer unter die Lupe zu nehmen. Genauer handelt es sich um die zweite Hälfte der 1960er Jahre, als die Künstlerin ihre gewebten Formen von der Wand löste und sie in den Raum übertrug. Mit diesen Arbeiten brachte Abakanowicz weiche, faserige Formen in ein neues Verhältnis zur Skulptur. Die Kuratorinnen Ann Coxon (Tate Modern) und Mary Jane Jacob, unterstützt von Dina Akhmadeeva, wählten einige frühe textile Arbeiten und wenig bekannte Zeichnungen, um zu zeigen, wie sich die Polin sowohl mit Strategien des Konstruktivismus als auch Informel produktiv auseinandersetzte. Es scheint sogar so zu sein, dass sie diese beiden widerstrebenden Konzepte in ihren Werken zur Synthese zu bringen suchte. Geometrische Formen treffen auf experimentelle Webtechniken, subtil kolorierte Papiercollagen führen spontan entstandene Farbflecken zueinander.

Bombastisch wird die Ausstellung mit den hängenden „Abakans“ in leuchtendem Orange-Rot oder gedecktem Senfgelb, teerigem Schwarz oder Erdbraun. Mächtige, rauhe Stoffbahnen formen Körper, ohne narrativ zu sein.
In den 1970er Jahren begann Maria Abakanowicz, ihre Skulpturen in neuen Kombinationen für verschiedene Ausstellungsräume zu gruppieren. Die Tate Modern zeigt ein Paar riesiger, kleidungsstückartiger, hängender Formen miteinander, welche die polnische Künstlerin aus industriell gewebtem Stoff und Seilen schuf, die sich auf den Boden erstrecken. Die hohlen „Kleider“ erinnern an eine schützende Hülle oder einen Mantel, während die verschlungenen Seilfasern die Komplexität des Nervensystems andeuten. Dass sich in dem dunkel gestrichenen Raum voller erdbrauner, schwebender Textilobjekten schnell die Assoziation mit einem Wald einstellt, ist vom Museum durchaus erwünscht.

Mit der konzentrierten Schau in der Tate Modern gelingt dem Londoner Haus einmal mehr, eine spannende Künstlerin auf dem internationalen Parkett zu positionieren, die viele Jahre übersehen wurde. Es bleibt zu hoffen, dass Textilkunst, bzw. gewebte Objektkunst/soft scultpure, als ein wichtiger Beitrag der Skulptur anerkannt wird!

Die Schau wird organisiert von der Tate Modern in Zusammenarbeit mit der Toms Pauli Foundation am Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne.
Kuratiert von Ann Coxon, Kuratorin Internationale Kunst an der Tate Modern, Mary Jane Jacob, unabhängige Kuratorin, und Dina Akhmadeeva, Assistenzkuratorin Internationale Kunst an der Tate Modern.

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