Yayoi Kusama bringt ihr bisher größtes immersives Environment nach Manchester. „Yayoi Kusama: You, Me and the Balloons“ wurde speziell für die luftigen Räume von The Warehouse in Manchester konzipiert. Die Künstlerin feiert mit der Installation drei Jahrzehnte aufblasbare Kunstwerke, die in dieser Ausstellung zum ersten Mal zusammengeführt werden. Die Aviva Studios laden sein, durch Kusamas psychedelische Kreationen zu reisen: Riesige Puppen, spektakuläre Rankenlandschaften und eine riesige Konstellation gepunkteter Kugeln. In Manchester stellt Kusama elf großformatige Werke aus, einige davon sind über 10 Meter hoch.
Großbritannien | Manchester:
The Warehouse, Aviva Studios
19.7. – 28.8.2023
Kusama ist bekannt und beliebt für ihre surreale Welt aus Punkten, Kürbissen und anderen künstlerischen Motiven. Ihre halluzinatorischen Gemälde, Skulpturen und immersiven Environments, wie zum Beispiel ihre Infinity Mirror Rooms, vermitteln das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Die Japanerin ist einzigartig in ihrer Fähigkeit, Staunen hervorzurufen und gleichzeitig größere Fragen über die menschliche Existenz zu stellen.
Die biomorphen Formen von „The Hope of the Polka Dots Buried in Infinity Will Eternally Cover the Universe“ erinnern an Wurzeln, Tentakel oder sogar Nervenbahnen im Gehirn. Kusamas Arbeiten bewegen sich oft zwischen dem Abstrakten und dem Gegenständlichen, zwischen dem Fremden und dem Vertrauten. Die japanische Künstlerin wuchs in einer Gärtnerei und Saatgutfarm in der Provinz auf. Sie beschreibt, wie sie mit ihrem Skizzenbuch zwischen den Feldern rund um ihr Haus saß und „eine kräftige Offenbarung aus der Natur empfing“. Seither inspirieren sie die Strukturen und Kreisläufe der Natur. Dabei reicht Kusamas Blick von zellulär bis galaktisch, von Mustern in der Natur und ihrer Verbindung zu den „unsichtbaren Kräften“, von denen die Künstlerin glaubt, dass sie dem Universum Leben verleihen.
Für Yayoi Kusama, die auch Gedichte schreibt, sind Titel äußerst wichtig. Der Titel „The Hope of the Polka Dots Buried in Infinity Will Eternally Cover the Universe“ bezieht sich auf wichtige Themen und Motive in Kusamas Werk – Hoffnung, Polka Dots, Unendlichkeit, Ewigkeit und das Universum.
„Dots Obsession“ (1996) war die erste von Kusama geschaffene Balloninstallation. In der Matratzenfabrik in Pittsburgh baute die Künstlerin einen gelben, mit schwarzen Tupfen bedeckten Raum und füllte ihn mit drei riesigen, organisch geformten gelben Luftballons, die ebenfalls mit schwarzen Tupfen bedeckt waren und den Raum physisch und visuell dominierten. Sie setzte die Serie mit der rosa-schwarzen „Dots Obsession“ (1996/1998) – ihrer ersten hängenden Installation – und der rot-weißen „Dots Obsession“ (1998) fort, der ersten Arbeit, in der sie aufblasbare Objekte und einen Spiegelraum kombinierte. Diese riesigen Kunstwerke brachten Kusamas einzigartige Bildsprache auf ein monumentales neues Niveau.
Yayoi Kusama beschreibt ihre Kunst als „obsessionelle Kunst“. Schon in jungen Jahren hatte sie visuelle und akustische Halluzinationen, die ihr das Gefühl geben, zu verschwinden oder sich aufzulösen. Sie nennt es „Selbstvernichtung“ und beschreibt es sowohl als eine erschreckende Erfahrung – der Unwirklichkeit – als auch als eine transzendente Erfahrung – der Einheit mit dem Universum. Ihre Kunst – ihre Prozesse und Ideen, ihr Einsatz von Wucherung und Wiederholung – ist sowohl ein Ergebnis von Kusamas psychischem Zustand als auch eine Auseinandersetzung damit.
Die Entwicklung der „Dots Obsession“ markierte 1996 einen wichtigen Wendepunkt in Kusamas Karriere. Sie war in den späten 1960er Jahren in Amerika ebenso bekannt wie Andy Warhol. Nachdem sie sich 1973 wieder nach Japan zurückgezogen hatte, wurde es einige Jahrzehnte still um die Künstlerin. Ihre Wiederentdeckung durch Ausstellungs- und Kunstmarkt begann in den 1990er Jahren. Eine große Retrospektive in den USA 1989 und ihr gefeierter japanischer Pavillon für die Biennale von Venedig im Jahr 1993 machten ihre Arbeiten wieder weltweit bekannt.
Die institutionelle Anerkennung und die große Nachfrage des Publikums nach den Werken der Künstlerin – insbesondere nach ihren großformatigen Environments – führten zu einer kühnen Verspieltheit in ihrer Arbeit und einer Suche nach neuen Materialien, um immer spektakulärere Installationen zu schaffen.
Kusamas Werk kann sowohl kraftvoll als auch Ausdruck von Verletzlichkeit sein. Die großen Yayoi-chan-Figuren, junge Mädchen mit Zöpfen, sind eine „kawaii“-Vision einer glücklichen Mädchenzeit, die die Künstlerin nie erlebt hat.
Kusama wuchs während des Pazifikkrieges auf. Jeder dritte Soldat ihrer Heimatstadt wurde getötet. In Japan war es eine Zeit des Ultranationalismus und des sozialen Konservatismus. Ihrer Familie ging es gut, aber sie war unglücklich, denn ihre Mutter misshandelte das sensible Kind. Im Alter von 15 Jahren wurde Kusama für den Kriegseinsatz rekrutiert und arbeitete in einer Fallschirmfabrik. Sie war 16, als die USA zwei Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abwarfen und Hunderttausende Menschen töteten. Diese Erfahrungen trugen zu psychischen Problemen bei, mit denen sie ihr ganzes Leben lang bereits lebt. Auf die Frage, was sie zu ihrem zehnjährigen Ich sagen würde, antwortete Kusama:
„Als ich ein Kind war, gab es Krieg, und seit diesen elenden Kindheitstagen war Kunst immer meine Hoffnung und Unterstützung. Ich würde ihr sagen, dass sie, egal in welcher Umgebung sie sich befindet, das Leben als Künstlerin leben soll, um sich an die Arbeit und die Kämpfe der Menschheit zu erinnern.“
Die cartoonartige aufblasbare Hundeskulptur „Toko-Ton“ von 2013 erinnert daran, dass Kusamas Bildsprache zwar von der Natur inspiriert ist, aber vor allem Ausdruck ihrer Fantasie ist. „Toko-Ton“ ist Teil des ausgeklügelten, persönlichen Universums der Künstlerin voller visueller Motive und Symbole. Kusamas lebendige Farben und verträumte Formen sind Ausdruck ihrer Persönlichkeit. „Toko-Ton“ erinnert daran, dass die Welt immer wieder neu gedacht werden kann. Kusama fordert von ihrem Publikum:
„Repräsentative Kunst? – Nein, das Leben ist Kunst – es muss ständig erschaffen und neu erschaffen werden. Beteiligen Sie sich daran, es mit Ihrem Körper und Ihren Gefühlen zu erschaffen und zu machen; Das Leben ist nicht das, was du hast – es ist das, was du tust; Das wirkliche Leben muss ständig neu erfunden werden.“
Kusama hat mehrere Versionen ihrer „Clouds“ erstellt; jene in Manchester ist eigens für die Ausstellung gefertigt worden; man kann auf dem Werk sitzen. Die „Clouds“ wurden sowohl als Konstellationen wunderschön reflektierender skulpturaler Formen als auch als bauschige, aufblasbare Objekte realisiert. Diese neue Version von „Clouds“ wurde speziell für die Ausstellung in Manchester angefertigt. Erstmals kann das Publikum darauf sitzen. Die Wolken sind allerdings zerbrechlich und können reißen.
Kusamas Wolken schweben aber nicht an der Decke wie etwa Andy Warhol es mit seinen „Silver Clouds“ gemacht hat, sondern sind am Boden platziert – ein Beispiel für den subversiven Humor und die Fantasie in Kusamas Werk. Die Künstlerin lädt ein, gleichsam über den Wolken zu wandeln.
Yayoi Kusamas Kunst nutzt oft schillernde optische Effekte, um Bewusstsein und Wahrnehmung zu erforschen. Die Infinity Mirror Rooms der Künstlerin können als eine Visualisierung des Einsseins mit dem Universum interpretiert werden, da sich das eigene Selbst endlos in der kosmischen Umgebung widerspiegelt. Die Kuppel mit Guckloch bietet ein ähnliches Erlebnis; eine kleine Öffnung gibt den Blick auf einen kaleidoskopischen Raum frei, der sich scheinbar bis ins Unendliche erstreckt.
„In Kusamas Welt einzutauchen bedeutet, zu der impliziten Erkenntnis zu gelangen, dass die Art und Weise, wie wir der Welt begegnen, nur eine von vielen Möglichkeiten ist und dass wir sie aus etwas konstruieren – und dass das Selbst auch Teil der Konstruktion ist. [In Zeiten der sozialen Fragmentierung wird dies immer dringender.] Wenn Sie Menschen zusammenbringen wollen, müssen Sie zunächst die Anerkennung dafür fördern, wie unterschiedlich wir uns alle sind, und eine Art Demut gegenüber jeder unserer unterschiedlichen Sicht- und Glaubensweisen entwickeln.“1 (Anil Seth)
Im Jahr 1968 inszenierten Yayoi Kusama und einige nackte Tänzer:innen eine Performance vor der Alice-im-Wunderland-Skulptur im Central Park, New York. Die Künstlerin nannte sich selbst „die moderne Alice im Wunderland“ und lud Menschen ein, sich ihrer „Welt der Fantasie und Freiheit […] und dem abenteuerlichen Tanz des Lebens“ anzuschließen.
Wie in Lewis Carrolls fiktivem Wunderland erlebt man in der Ausstellung „You, Me and the Balloons“ schwindelerregende Perspektiv- und Maßstabswechsel, vom Augenloch der Gucklochkuppel bis hin zu den gigantischen Yayoi-chan-Puppen und übergroßen schwebenden Ballons. Wie in Alices Abenteuer besteht Kusamas künstlerische Untersuchung darin, zu verstehen, wer sie ist und welchen Platz sie in einer manchmal rätselhaften Welt einnimmt.
Kusama hat davon erzählt, wie in ihrer Kindheit Hunde, Kürbisse und Blumen begannen, mit ihr zu sprechen. Diese frühen halluzinatorischen Erfahrungen inspirieren sie bis heute. Bei ihrer obsessiven künstlerischen Praxis geht es jedoch nicht nur um ihre persönlichen Erfahrungen. Kusama verbindet ihre Kämpfen mit Problemen der Gesellschaft. Bereits 1964 erklärte sie:
„In der Kluft zwischen den Menschen und dem seltsamen Dschungel der zivilisierten Gesellschaft liegen viele psychosomatische Probleme. Meine künstlerischen Ausdrucksformen erwachsen aus der Anhäufung dieser. Ich interessiere mich immer sehr für die Hintergründe von Problemen im Verhältnis von Mensch und Gesellschaft.“
Ihre Mutter verstand die psychischen Erkrankungen ihrer Tochter nicht und war auch nicht damit einverstanden, dass sie Künstlerin werden wollte. Die Kluft, die sie als Frau in der Kunstwelt zwischen sich selbst, ihrer traditionellen Familie und der breiteren Gesellschaft verspürte, trug zu ihrem starken Gefühl bei, eine Außenseiterin zu sein. Zu Beginn ihrer Karriere signierte Yayoi Kusama ihre Werke mit „Avantgarde-Künstlerin Yayoi Kusama“. Damit verwies sie bewusst auf das zukunftsweisende Potenzial ihrer Arbeiten.
Kusama wurde 1929 geboren. Im selben Jahr veröffentlichte Edwin Hubble, der als „Pionier der fernen Sterne“ bekannte Astronom, seine Beweise für die Existenz anderer Galaxien als der Milchstraße. Wenn man über die planetenähnlichen Ballons Kusamas, ihre Sternbilder aus Punkten und die Bedeutung des Universums und der Unendlichkeit für ihre Arbeit nachdenkt, ist es naheliegend, dass Kusama in einer revolutionären Zeit wissenschaftlicher und astronomischer Entdeckungen aufgewachsen ist. Der Ballon – der sich aufbläst und ausdehnt – ist eine der häufigsten Analogien zur Beschreibung des Urknalls.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermöglichten Entdeckungen, die komplexen Systeme im Inneren von Pflanzen, im menschlichen Körper und im expandierenden Universum zu erkennen. Dieser neue Blick auf die Welt prägten Kusamas visuelle Bildersprache und Philosophie – ihren Glauben an die Verbundenheit zwischen Menschen, der Natur und dem Kosmos.
Dieses Video zeigt die Künstlerin, wie sie ein Lied über ihre Erfahrungen im Umgang mit Depressionen singt. Sie hat sich selbst bei der Aufführung des Liedes gefilmt und es in verschiedenen Phasen ihrer Karriere in Installationen präsentiert.
„Swallow antidepressants and it will be gone / Tear down the gate of hallucinations / Amidst the agony of flowers, the present never ends / At the stairs to heaven, my heart expires in their tenderness / Calling from the sky, doubtless, transparent in its shade of blue / Embraced with the shadow of illusion / Cumulonimbi arise / Sounds of tears, shed upon eating the colour of cotton rose / I become a stone / Not in time eternal /But in the present that transpires.
[Schlucken Sie Antidepressiva und es wird verschwinden / Reiße das Tor der Halluzinationen ein / Inmitten der Qual der Blumen endet die Gegenwart nie / Auf der Treppe zum Himmel erlischt mein Herz in ihrer Zärtlichkeit / Zweifellos ein Ruf vom Himmel, transparent in seinem Blauton / Umarmt vom Schatten der Illusion / Es entstehen Cumulonimbi / Geräusche von Tränen, die beim Essen der Farbe von Baumwollrosen vergossen werden / Ich werde ein Stein / Nicht in ewiger Zeit / Aber in der Gegenwart geschieht das.“ (Yayoi Kusama)
„Manhattan Suicide Addict“ ist auch der Titel von Kusamas Debütroman, der 1978 veröffentlicht wurde. Es ist eine fiktive Erinnerung an ihre Zeit in New York und wurde geschrieben, nachdem sie freiwillig in eine psychiatrische Klinik in Tokio gezogen war. Sie lebt weiterhin im Krankenhaus und arbeitet in einem nahegelegenen Atelier.
„Mit meiner Arbeit gebe ich meinem Leben ein System. Ich gebe Bedeutung, Kapitel für Kapitel, Schritt für Schritt […] Ich fühle mich glücklich, glücklich, diese Krankheit und all ihre Ideen zu haben. Wissen Sie, es gibt zwei Dinge, die Sie gegen eine Zwangserkrankung tun können. Die eine besteht darin, es zu überwinden, indem man die Zwänge aufgibt, die andere besteht darin, ihre Forderungen anzunehmen und zu akzeptieren. Glücklicherweise kann meine [Erkrankung] mit dieser künstlerischen Produktion gestillt werden.“ (Yayoi Kusama)
„Als ich [Kusama] zum ersten Mal einen Kürbis sah, war ich in der Grundschule und ging mit meinem Großvater zu einem großen Samenerntegebiet […] da war er: ein Kürbis von der Größe eines Männerkopfes […] es begann sofort auf die lebhafteste Weise mit mir zu sprechen [...] Kürbisse erwecken nicht viel Respekt, aber ich war von ihrer charmanten und gewinnenden Form verzaubert. Was mich am meisten ansprach, war die großzügige Schlichtheit des Kürbisses. Und sein solides spirituelles Gleichgewicht.“ (Yayoi Kusama)
Kusama hat sich ihr ganzes Leben lang mit Kürbissen identifiziert; und der Kürbis ist seit langem eines der visuellen Leitmotive der Künstlerin. Ihr beeindruckender „Mirror Room (Pumpkin)“ (1991) rückte sie auf der Biennale von Venedig von 1993 wieder ins internationale Rampenlicht. Seitdem ist die Künstlerin für ihre Kürbisse ebenso bekannt wie für ihre Polka Dots.
Für Kusama ist der Kürbis eine Selbstdarstellung, ein sich entwickelndes Selbstporträt. Sie sind auch ein „Geist“. Kusama ist zwar nicht religiös, aber sie hat eine persönliche Spiritualität und glaubt, dass ihre künstlerische Mission darin bestünde, die „besondere Schönheit“ und das Geheimnis der „unsichtbaren Kraft“ sichtbar zu machen. Für Kusama ist das Erschaffen von Kunst eine persönliche Notwendigkeit. Sie glaubt auch an die kollektive Heilkraft der Kunst, eine Kraft, die Menschen vereinen kann, denn:
„Schönheit ist der Prototyp der Liebe.“