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Paris | Musée d’Orsay: Edvard Munch Ein Liebesgedicht über Leben und Tod | 2022/23

Edvard Munch, Rot und Weiß (Rødt og hvitt), Detail (Munchmuseet, Oslo, Norvège ©Munchmuseet, Oslo, Norvège / Halvor Bjørngård)

Edvard Munch, Rot und Weiß (Rødt og hvitt), Detail (Munchmuseet, Oslo, Norvège ©Munchmuseet, Oslo, Norvège / Halvor Bjørngård)

Das Musée d'Orsay widmet dem berühmten norwegischen Maler Edvard Munch (1863–1944) eine längst überfällige Ausstellung in Frankreich. Gezeigt wird sein Werk in seiner ganzen Breite – 60 Jahre Entstehungszeit –, das zwar bekannt und dennoch in seiner Komplexität teilweise unbekannt geblieben ist. Möglich wurde dieser tiefgehende Einblick durch die Zusammenarbeit mit dem Munch Museet in Oslo, wo der aus etwa 1.000 Gemälden bestehende Nachlass des Künstlers verwahrt wird.

Symbolist an der Wende zur Moderne

Munchs Werk nimmt einen zentralen Platz in der Klassischen Moderne ein (→ Klassische Moderne). Der Maler und Grafiker schöpfte aus dem 19. Jahrhundert, um in den 1890er Jahren als einer der ersten in die Moderne zu wechseln. Darüber hinaus ist sein gesamtes Werk von einer einzigartigen Vision der Welt durchzogen, die ihm eine kraftvolle symbolistische Dimension verleiht (→ Symbolismus). Diese Beobachtung kann nicht auf die wenigen Meisterwerke reduziert werden, die Munch in dichter Folge während der 1890er Jahre geschaffen hat. Der norwegische Künstler nutzte seine frühen Ideen und Kompositionen, um sie zum Rückgrat seiner Arbeit zu machen und seinem Werk durch Wiederholung und Variation eine große Kohärenz zu verleihen.

 

Vom Intimen zum Symbol

Die Munch-Ausstellung setzt ein mit der Wandlung des jungen, kaum an der Akademie geschulten Malers vom Naturalisten zum Impressionisten und Symbolisten. Paris spielte dafür eine herausragende Rolle, konnte sich der früh antdeckte Munch doch mit mehreren Arbeitsstipendia zwischen 1889 und 1892 für längere Zeit in der Kunstmetropole aufhalten. Das noch naturalistische Gemälde „Am Abend“ von 1888 (Thyssen) zeigt zwar mit der melancholisch auf das Meer blickenden Frau und dem Liebespaar im Hintergrund zwar bereits Motive, die der reife Munch intensivieren und weiterführen wird, die Handschrift ist noch fleckig und das Kolorit lichterfüllt. Weitere Porträts der Schwester Inger zeigen sie im bürgerlichen Habitus aber mit leicht melancholischem Gemüt. Diesen weiblichen Bildnissen steht Munchs Selbstporträt mit Zigarette aus dem Jahr 1895 diametral gegenüber: Der Maler taucht aus dem Dunkel des Raumes auf, sein Gesicht wird hell angestrahlt. Auch wenn Haltung, Kleidung und Zigarette eine gewisse Nonchalence ausströmen, so wirkt der gedankenverlorene Blick mit der Nachdenkfalte an der Stirn doch wenig von sich selbst überzeugt. In dieser Phase malte Edvard Munch seine berühmtesten Bilder, darunter die Göteborger Fassung von „Das kranke Kind“ (1896), „Pubertät“, (1894/95, Oslo), „Verzweiflung“, 1892 (Stockholm), „Der Kuss“ (1897, Oslo). Der Symbolist Munch suchte nach Symbolen für das Leben, die Liebe und den Tod - und fand sie in höchst subjektiven Erlebnissen, die mit seiner Familie aufs Engste verbunden sind (dem frühen Ableben sowohl seiner Mutter als auch einer Schwester, der Depression seines Vaters → Edvard Munch: Biografie).

 

Munchs Zyklen zu Leben, Tod und Wiedergeburt

Sein einzigartiger Schaffensprozess führte dazu, dass Munch viele Variationen desselben Motivs, aber auch mehrere Versionen desselben Themas schuf. Der symbolistische Begriff des Zyklus spielte somit eine Schlüsselrolle in Munchs Denken und Kunst. Das greift auf mehreren Ebenen in seine Arbeit ein, wenn er bestimmte Motive in seinen Gemälden und Druckgrafiken regelmäßig wiederholte. Mensch und Natur waren für Edvard Munch im Kreislauf von Leben, Tod und Wiedergeburt vereint. In diesem Zusammenhang entwickelte er eine originelle Ikonographie, die weitgehend von den vitalistischen Philosophien Friedrich Nietzsches und Henri Bergsons inspiriert wurde. Munch selbst betonte dies in seinem Lebensfries:

„Diese Bilder, die zwar relativ schwer zu verstehen sind, werden […] leichter zu verstehen sein, wenn sie in ein Ganzes integriert werden.“

Munchs bekannteste Motive finden sich zum Lebensfries vereint: Tanz am Strand (bei Mittsommer), Vampir, Melancholie, Die Rote und die Weiße, Abend an der Karl Johan Strat (1892), Angst, Geschrei (die Druckgrafik-Version von Der Schrei), Am Totenbett, Madonna, Eifersucht, Loslösung.

 

Wiederholung und Selbstreflexion

Es wäre keine Munch-Ausstellung, wenn nicht eine Sektion dem druckgrafischen Werk des Norwegers gewidmet wäre. Hier zeigt sich der Erfindungsreichtum des Künstlers, der zeitlebens bestrebt war, seine hauptsächlich während der 1890er Jahre gefundenen Bildthemen immer wieder zu verdichten und neu zu formulieren. Dabei nutzte er die Druckgrafik nicht nur als Technik der Vervielfältigung, sondern vor allem als Experimentierfeld. Indem Munch individuelle Abzüge machte, ist jeder Druck - so scheint es - ein Unikat. Diese Haltung zeigt sich auch im Umgang mit dem Material: Munch war einer der erfindungsreichsten Techniker der Jahrhundertwende. Indem er der künstlerischen Handschrift wie auch dem verwendeten Material (z.B. Holzmaserung) Platz einräumte, eröffnete der Norweger einen Weg, der ihn zu einem Vorreiter des Expressionismus werden ließ.

Unter dem Titel Inszenierung und Innensicht versammeln die Ausstellungsmacher zum Schluss noch die persönlichsten Äußerungen des Künstlers: seine Selbstporträts mit und ohne Verkleidung. Um 1920 malte sich Munch in höchst unterschiedlichen erscheinungsbildern: „Schlaflose Nacht. Selbstbildnis in innerer Qual“ (1920) zeigt ihn gealtert und gebückt vor einer tiefen Zimmerflucht. Zur selben Zeit tritt er als Maler mit Modell auf, als an der Spanischen Grippe Erkrankter oder als Nachtwandler (1923/24).
Fast 20 Jahre zuvor hatte der Maler das traumatische Ende seiner Beziehung zu Tulla Larson in Serien zum Tod des Marat und dem Grünen Zimmer verarbeitet (ab 1902). Munch identifiziert sich mit dem ermordeten Revolutionshelden bzw. starrt mit weit geöffneten Augen aus dem bühnenhaft geschrumpften Innenraum, gequält von Eifersucht oder aufs Sofa geworfen. Besonders spektakulär wirkt aber auch sein Selbstporträt in der Hölle von 1903. Dem stellt das Musée d'Orsay das vermutlich letzte Selbstbildnis des Künstlers gegenüber: In dem zwischen 1940 und 1943 entstandenen Selbstporträt scheint sich bereits der Schatten vom kaum mehr wiedererkennbaren Munch zu lösen. Die Sternennacht (1922-1924), eine Antwort auf die berühmte Komposition Vincent van Goghs (→ Munch : Van Gogh), gibt dem irdischen Leben des Künstlers eine metaphysische Rahmung.

 

Edvard Munch in Paris 2022/23

Die Ausstellung präsentiert rund 100 Werke, Gemälde, aber auch Zeichnungen, Lithografien und Holzschnitte, die die Vielfältigkeit von Munchs künstlerischer Praxis widerspiegeln. Diese groß angelegte, von Claire Bernardi kuratierte Retrospektiver stellt die gesamte Karriere des Künstlers vor. Das Musée d‘Orsay lädt seine Besucher:innen ein, das Werk des norwegischen Malers in seiner Gesamtheit kennenzulernen und folgt dabei einem stets erfinderischen Bildgedanken: ein Werk, das sowohl von Grund auf kohärent als auch obsessiv ist und gleichzeitig ständig erneuert wird.

Das Munch Museet in Oslo trennt sich für die Ausstellungsdauer von einer vertiablen Anzahl seiner Ikonen. Dadurch ist die Pariser Schau eine mustergültige Präsentation des Vaters der Moderne, wie Munch häufig genannt wird. Das Revolutionäre seines Frühwerks macht nach 1900 einer malerisch spannenden Abfolge von Wiederholungen, Wiederaufnahmen, Neuinterpretationen seiner Bildformeln Platz. Indem die Kuratorin die Kohärenz des Werks hervorstreicht, gelingt es ihr, den späteren Arbeiten jene Bedeutung zu verleihen, welche die frühen, symbolistischen Werke zweifelsfrei in einer breiten Öffentlichkeit haben.

Kuratiert von Claire Bernardi, Chefkuratorin am Musée d’Orsay
Die Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit dem Munch-Museum in Oslo.

 

Munch in Paris: Bilder

  • Edvard Munch, Rot und Weiß (Rødt og hvitt), Detail (Munchmuseet, Oslo, Norvège ©Munchmuseet, Oslo, Norvège / Halvor Bjørngård)

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Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.