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Picasso war ein Afrikaner! Afrikanische Kunst und Primitivismus in der Moderne

Pablo Picasso, Frau mit gefalteten Händen, 1907, Musée national Picasso – Paris (links); Mutter mit Kind, 1907, Musée national Picasso – Paris (rechts), Ausstellungsansicht „Fremde Götter. Faszination Afrika und Ozeanien“ im Leopold Museum 2016/17, Foto: Alexandra Matzner © Bildrecht.

Pablo Picasso, Frau mit gefalteten Händen, 1907, Musée national Picasso – Paris (links); Mutter mit Kind, 1907, Musée national Picasso – Paris (rechts), Ausstellungsansicht „Fremde Götter. Faszination Afrika und Ozeanien“ im Leopold Museum 2016/17, Foto: Alexandra Matzner © Bildrecht.

Drei Erzählstränge führen in der Schau „Fremde Götter. Faszination Afrika und Ozeanien“ die Besucherinnen und Besucher zur Frage: Was bedeutet(e) die Entdeckung der afrikanischen Kunst und etwas später der ozeanischen Kunst für die Entwicklung der Moderne in Europa? Die brüske Antwort Picassos lautete 1923: „Afrikanische Kunst? Die kenne ich nicht!“ Dass diese harsche Abwehr mitnichten des Pudels Kern beschreibt, ist in den letzten Jahren auch durch Ausstellungsprojekte vielfach herausgearbeitet worden. Der hohe Grad an Stilisierung und Abstraktion, der allerdings nicht als Zeichen für fehlenden Realismus in der afrikanischen Kunst gedeutet werden darf, irritierte und begeisterte das europäische Publikum. Dass die Radikalität der künstlerischen Produktion im frühen 20. Jahrhundert, ihre Brüche mit den Traditionen und ihre Formfindungen nicht ohne die Auseinandersetzung mit der als „primitiv“, d. h. nicht von der europäischen Zivilisation verbildeten, gesammelten und wertgeschätzten Kunst entstehen hätte können, muss nach diesem Museumsbesuch zweifelsfrei anerkannt werden.

Die Herbstausstellung des Leopold Museum überrascht durch ihre inhaltliche Ausrichtung, war die Sammlung afrikanischer (südlich der Sahara) und ozeanischer Kunst bislang neben den Werken der Wiener Moderne kaum beachtet worden (→ Afrikanische Kunst). Erwin Melchardt, Experte für außereuropäische Kunst am Dorotheum, arbeitet in den letzten Jahren die Bestände auf. Ivan Ristić ist für ihre Präsentation und den Dialog mit Gemälden und Skulpturen der Klassischen Moderne bis zum Surrealismus verantwortlich.

Picasso war ein Afrikaner!

„Man spricht immer von dem Einfluss, den die Negerkunst auf mich hatte. Wie das? Gewiss, wir alle liebten Fetische ..., Ihre Formen übten auf mich nicht mehr den Einfluss aus als auf Matisse oder Derain. Aber für sie waren die Masken Skulpturen wie alle anderen auch ... als ich zum Trocadero ging, fand ich es abscheulich. Aber ich blieb, denn ich begriff, dass etwas Entscheidendes vor sich ging. Es widerfuhr mir etwas. Die Masken waren nicht Skulpturen wie die anderen auch. Keineswegs. Es waren magische Dinge. Die Negerstücke waren ... gegen alles, gegen unbekannte, bedrohliche Geister. Ich schaute immer noch die Fetische an, und auf einmal begriff ich: auch ich war gegen alles ... Fetische waren Waffen, sie sollten die Leute vor Geistern schützen, sollten zur Unabhängigkeit verhelfen. Die „Demoiselles d' Avignon“ müssen mir an eben diesem Tag eingefallen sein, aber nicht wegen der Formen; vielmehr weil dies mein erstes exorzistisches Gemälde war…“1 (Pablo Picasso)

Den Selbstbeschreibungen von Pablo Picasso muss man immer mit höchster Vorsicht begegnen, allzu sehr wusste der Maler, wie er mit Worten seinen eigenen Status ins rechte Licht rückten konnte. Wie sehr unterscheiden sich die beiden Aussagen des Künstlers über traditionelle afrikanische Kunst, die er einmal als augenöffnend und Inspirationsquelle würdigte und Jahre später sich gänzlich davon distanzierte. Der bewusst provokante Titel setzt der Legende des völlig autonom arbeitenden Künstlers ein Ende, indem er auf die nahezu kanibalistische Vereinnahmung der afrikanischen Kunst durch die Maler und Bildhauer der europäischen Moderne hinweist. Constantin Brâncuşi (1876-1957) suchte die Essenz eines Themas in einer subtilen Abstraktion und einer Wendung von der Plastik zur Skulptur, die ohne die Kenntnis traditioneller afrikanischer Kunst nicht erklärbar ist. Der aus Livorno stammende Amedeo Modigliani (1884-1920) beschäftigte sich offensichtlich mit den Masken der Baule, die an der Elfenbeinküste leben. Er fühlte sich von den gelängten, schmalen Gesichtern angezogen, der Symmetrie der geometrischen Gesichtszüge, den kleinen Mündern – auch wenn sich dafür keine schriftlichen Dokumente erhalten haben. Erst die linksgerichteten (kommunistischen) Surrealisten wandten sich gegen diese Art der stillen Aneignung wie auch gegen den Kolonialismus und sahen in den Kunstwerken ihrer südlichen Nachbarn vollgültige und vor allem ebenbürtige Meisterwerke menschlicher Kreativität.

Im Jahr 1907 hatte Henri Matisse zu einem Treffen bei Gertrude Stein einen Holzkopf der Bakongo mitgebracht. Begeistert von der formalen Lösung, begann Pablo Picasso im Juni im Völkerkundemuseum im Trocadéro afrikanische Masken zu zeichnen und auch selbst Exponate zu erwerben. Mit Hilfe der von ihm bewunderten stilisierenden Kunst überwand Picasso zwei Grundpfeiler der akademischen Malerei: die menschliche Gestalt und die Perspektive. „Mutter und Kind“ (1907, Musée Picasso, Paris) zeigt die Reduktion auf das Wesentliche. Geometrische Grundformen, so wie sie die Ästhetik vieler stilisierter Masken aus Afrika prägen, bilden die Gesichter. Namentlich die Masken der Fang (Gabun, Äquatorialguinea, Kermun) standen Pate für Picassos radikale Abkehr von der europäischen Figurenkonzeption. Gleichermaßen handelt es sich nicht um Zitate, sondern um ein Erfassen der Struktur des Kopfschmucks und eine Übernahme derselben in sein eigenes Werk.

Kader Attia: Namenlose Kunsthelden Afrikas und europäische Hegemonie

Genau in diese Kerbe schlägt auch die Intervention von Kader Attia (* 1970), der zentral im ersten Raum der Schau vier „Mirror masks“ aufstellte. Als im Jahr 2009 das Pariser Grand Palais eine Ausstellung zu „Picasso und die Alten Meister“ organisierte und darin keine einzige afrikanische Maske präsentierte, schuf Kader Attia als Zeichen des Protests diese mit Spiegelstücken beklebten Masken (meist mit Masken der Dogon/Mali als Grundlage). In den Spiegelstücken sieht man sich selbst. Die Facettierung macht aus jedem Gesicht eine kubistische Komposition. Der weltberühmte Picasso, so der Künstler, wäre ohne die Rezeption der afrikanischen Kunst nie zum Mitbegründer des Kubismus geworden, hätte vielleicht nie die „Demoiselles d’Avignon“ gemalt. Während Picasso zu einem der einflussreichsten Künstler des 20. Jahrhunderts aufgestiegen ist, blieben die Schöpfer (vielleicht auch Schöpferinnen) der Masken und Skulpturen, die den Stilwandel (mit)auslösten, im Dunkeln. Nur wenige Meister sind global bekannt, die wenigsten in den noch immer westlich geprägten Kunstgeschichtebüchern gelistet. Gleiches lässt sich auch über westliche und afrikanische Welterklärungsmodelle sagen. Die auf europäischer Ratio und Empirik basierenden Wissenschaften prägen heute das Weltbild weltweit. Andere Formen werden gerne als spiritistisch abgetan oder ins Reich der Märchen und Mythen verbannt. In der Videoarbeit „Reason’s Oxymorons“ (2015) stellt Attia die Frage nach psychischen Erkrankungen. Heiler und Ärzte, Philosophen, Ethnologen, Historiker, Psychologen, Musikwissenschaftler, Patienten und westafrikanische Erzähler schildern aus ihren Perspektiven Krankheitssymptome und den Umgang mit den Erkrankten. Schnell wird deutlich, dass das westliche Konzept nur eines unter vielen ist. Auf diese westliche Hegemonie hinzuweisen und sie schlussendlich zu brechen (zu reparieren), ist Kader Attias Ziel.

„Der Aufstieg der einst kolonisierten Kulturen ist furchteinflößend. Der Westen sieht die Andersheit als Grundlage seiner Konsensbildung und somit als letztes Stück seiner weltlichen Hegemonie. Das Vergessen des grundlegenden Beitrags außereuropäischer Kulturen zur Moderne stellt eine Leugnung dar, die einer Reparaturmaßnahme bedarf. Die Reparatur ist ein endloser Prozess der intellektuellen, kulturellen und politischen Anpassung, den die Menschheit parallel zu ihrem natürlichen Evolutionsprozess – der natürlichen Selektion   – durchführt.”2 (Kader Attia)

Die Suche nach einer „besseren Welt“

Paul Gauguin, Emil Nolde und Max Pechstein bereisten sogar die Südsee, um dort das vermeintliche irdische Paradies zu suchen. In der Lebensführung der indigenen Bevölkerungen Asiens sahen sie ihre Träume nach einem einfachen, naturverbundenen Leben verwirklicht. Auslöser für diese Urwald-Fantasien und Reisegelüste war u. a. Paul Gauguin (1848–1903 → Paul Gauguin. Gemälde aus der Südsee), der im Laufe von mehreren Aufenthalten in der Südsee3 Werke volle Harmonie schuf. Mitnichten zeigen diese Bilder die Lebensbedingungen der Insulanerinnen und Insulaner. Stattdessen idealisierte er deren Lebensform, bettete die zumeist weiblichen Akte in Mythen und Geschichten ihrer alten, inzwischen aber kaum mehr praktizierten Religionen, verherrlichte die Vegetation und schrieb in schlechtem Maohi die Titel in die Bilder. Diese Bildtitel in der Sprache der Maohi tun ihr Übriges, um das Geheimnis der Darstellungen zu steigern. Enttäuscht von den Folgen der Kolonialisierung erträumte er sich eine nicht mehr existierende Idylle, malte seine Vision eines irdischen Paradieses.

„Hier ist die Einheit Mensch und Natur, Arbeiten, Schlafen, alles ist eins, ist Leben“, schwärmte der deutsche Expressionist Max Pechstein noch Jahre nach seinem Aufenthalt auf den Palau Inseln in der Südsee. Der Maler hatte sich bereits als Mitglied der Künstlergruppe Brücke mit Darstellungen von Akten in freier Natur beschäftigt. Doch als er sich im Mai 1914 gemeinsam mit seiner Frau Lotte auf den Weg in den Westpazifik machte, erwartete er eine „unentweihte Einheit von Natur und Mensch“ vorzufinden. Die Inselgruppe Palau war seit 1899 deutsche Kolonie und in der Literatur des 19. Jahrhunderts mit dem irdischen Paradies gleichgesetzt worden.

Wie seine Zeitgenossen sah auch Max Pechstein die Bewohner der Südsee als „unzivilisiert“. Während jedoch die deutschen Kolonialbeamten versuchten, die Einheimischen nach ihren Vorstellungen zu formen, wollte Pechstein mit ihnen leben. Jahre zuvor hatte er in Dresden, Paris und Berlin die Sammlungen der Völkerkundemuseen besichtigt und dort außereuropäische Artefakte studiert. Nun plante das Ehepaar Pechstein zwei Jahre auf den Palau Inseln zu bleiben. Der Maler erwarb sogar ein Kanu und wollte Land kaufen. Vor Ort schrieb, skizzierte und aquarellierte Pechstein seine Umgebung und die Menschen. Während er jedoch die Farben der Vegetation poetisch besang, verschloss er seine Augen vor den Repressalien der deutschen Kolonialherren.

Max Pechteins Sehnsucht nach einem paradiesischen, abgeschiedenen Leben auf den Palau Inseln wurde nach nur vier Monaten jäh durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die anschließende Besetzung der deutschen Kolonie durch japanische Truppen unterbrochen. Einem kurzen Aufenthalt in Nagasaki folgte eine abenteuerliche Reise über die USA nach Deutschland. Dadurch konnte Pechstein nur wenige Skizzen und Aquarelle seines Aufenthalts retten. Und erst drei Jahre nach seinem Inselerlebnis, im Jahr 1917, setzte er seine Notizen und Erinnerungen in Gemälde um. Zeit seines Lebens verklärte der deutsche Avantgardist den Aufenthalt in der Südsee zum Schlüsselerlebnis seiner Kunst.

Afrikanische Kunst aus dem Leopold Museum

Masken, Ahnenfiguren, Darstellungen von Geistwesen, Gebrauchsgegenstände aus Afrika südlich der Sahara nehmen drei Räume der Ausstellung für sich ein (ein vierter Raum ist der ozeanischen Kunst gewidmet). Die Aufstellung folgt geografischen Gesichtspunkten, d. h. die Objekte wurden nach Ethnien von Westafrika nach Ostafrika geordnet. Wie schwebend werden sie auf unterschiedlich hohen Sockeln, dicht nebeneinanderstehend präsentiert. Die Präsentationsform folgt der strengen Frontalität der Objekte, die charakteristisch für die Kunstproduktion Afrikas südlich der Sahara ist.

Zu den Höhepunkten der Schau zählen für mich die „Bolo Bla“ der Baule (Westguinea, Ghana und der Elfenbeinküste), die „Akuaba“ der Aschanti (Ghana) und die „Ibeji-Zwillingsfiguren“ der Yoruba (Nigeria), der Mbulu-Ngulu der Kota (Ghana). Über Formfindung und perfekter Bearbeitung des Holzes hinaus sind Kunstwerke dieser Region natürlich auch immer Träger von Informationen über die jeweilige Kultur, in der sie entstanden sind. In ihrer traditionellen Religion unterscheiden die Baule zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geister, Blolo genannt. Jeder Mann hat eine Blolo Bla, eine Geister-Ehefrau, während eine Frau über einen Blolo Bian, einen Geister-Ehemann, verfügt. Diese Geister-Vermählten zeigen sich den Menschen in Träumen und verursachen durch ihre Eifersucht auf die realen Ehepartner Probleme. Der Baule-Mythologie zufolge sollen die geschnitzten Blolo Bla-Figuren ihren Besitzern helfen, ihre spirituellen Partner zu besänftigen. Hinter einer „Akuaba“ versteckt sich nichts anderes als eine weibliche Puppe, die von Erwachsenen Frauen mit Kinderwunsch als „Ersatzkind“ gepflegt, getragen und umsorgt wurde, bis eine Schwangerschaft eintrat. Da die mütterliche Linie bei den Aschanti wichtiger als die väterliche ist, stellen alle Akuaba Töchter dar.

Ibeji-Zwillingsfiguren waren für die Yoruba (Nigeria) wichtige Mittler zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. In einer Zeit, in der die Geburt von Zwillingen nur magisch erklärt werden konnte, wurden Zwillinge als besonders glücksbringend aber auch unheilvoll empfunden. Die Yoruba dachten, die beiden Kinder müssten sich eine gemeinsame Seele teilen. Wenn eines davon oder auch beide Kinder starben, baten die Eltern einen Schamanen, zwei Zwillingsfiguren zu schnitzen. Diese Ibeji-Figuren wurden wie lebende Kinder behandelt, bekleidet und gefüttert, um sich ihr Wohlwollen über den Tod hinaus zu sichern.

Die Präsentation von Masken hat immer etwas Trauriges, sind sie doch Bestandteile von Riten, Tänzen und Aufführungen und in einer musealen Zurschaustellung nur als tote Artefakte zu bewundern. Die vielfältige Neuformulierung des menschlichen Antlitzes, das in der Maske meist einen Naturgeist oder Verstorbenen darstellt, kann von abstrahiert zu imposant, mit blähenden Backen bis zu Tierköpfen bis hin zu furchteinflößenden Masken mit Steckzähnen und beweglichem Klappkiefer der Ogoni im östlichen Nigerdelta reichen. Da Kostüme und Tänze fehlen, ist nur ein Bruchteil der Macht der Masken darstellbar. Ihre sozialen Funktionen und ihre Einbettung in farbenprächtige Gewänder (teils auch die Helme dazu) fehlen.
Beispiele hierfür sind der männliche und der weibliche Tschiwara, beide von den Bambara in Mali (1. Hälfte 20. Jh.). Die Tanzaufsätze repräsentieren eine männliche und eine weibliche Antilope. Die weibliche Form kann man gut an der Baby-Antilope auf dem Rücken seiner Mutter erkennen. Die Bambara sind Ackerbauern in der Savanne von Mali. Ihrem Mythos zufolge hat der Held Tschiwara, der zur Hälfte Antilope und zur Hälfte Mensch war, die Landwirtschaft entdeckt. Er lehrte die Menschen die Aussaat von Getreide. Während der Saat tanzen zwei junge Männer mit solchen stilisierten Antilopen-Aufsätzen auf ihren Köpfen. Dabei tragen sie ein schwarzes Ganzkörperkostüm aus Raffia Fasern. Durch den Tanz soll die Fruchtbarkeit der Felder gesichert und gestärkt werden.

Zu den bekanntesten, wenn auch sagenumwobenen Objekten der Kunst aus Subsahara-Afrika gehören die Kraftfiguren aus der Demokratischen Republik Kongo. Diese früher als „Fetische“ bezeichneten nkisi gründen auf einer komplexen Kosmologie: Das sichtbare „Land der Lebenden“ steht in ständigem Austausch mit dem unsichtbaren „Land der Toten“. Mit einem nkisi konnte man die Verbindung zwischen diesen beiden Hälften des Kosmos herstellen.
Die magischen Objekte wurden daher arbeitsteilig von einem Holzschnitzer und einem Medizinmann geschaffen. Nachdem der Holzschnitzer die Figur hergestellt hatte, fügte der Medizinmann nganga, das heißt für zauberkräftig gehaltene Materialien, an. Erst wenn eine Skulptur magisch aufgeladen war, konnte nkisi, die magische Kraft, durch Beschwörung, Beopferung und anderer Maßnahmen wieder aktivieren.
Als so genannte Nagelfetische wurden sie vor allem im Voodoo-Kult in einer verballhornten Weise populär. Kleinere Figuren wie diese hier ausgestellten von den Songye und der Yaka befanden sich vermutlich im Besitz von Medizinmännern, Dorfoberhäuptern oder Einzelpersonen. Sie sollten vor jeder Art von Unheil bewahren, wie Schadenszauber, Dieben, Krankheiten. Weiters unterstützten sie ihre Besitzerinnen und Besitzer beim Wahrsagen, in der Krankenheilung oder bekräftigten einen Eid. Wenn ein nkisi seine Kraft verloren bzw. aufgebraucht hatte, wurde er dem Schamanen wieder zurückgegeben.

Die Schreinwächter der Kota aus Gabun gehören mit ihrer höchst stilisierten Art der Darstellung – es handelt sich um einen Kopf mit Frisur, Hals und angewinkelten „Armen“ – zu beliebten Sammelstücken und einflussreichen Vorbildern für europäische Künstler. Die Kota leben in Dörfern mit zwei oder mehr Clans, wobei jeder Clan aus mehreren Familien besteht, die sich auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückführen. Um die Macht und den Schutz dieser wichtigen Anführer weiterhin für die Gemeinschaft zu bewahren, wurden deren Gebeine in einer Hütte außerhalb des Dorfes verwahrt. Die Behälter der Knochenreliquien band man mit je einem Schreinwächter an der Spitze zusammen. Da diese Figuren traditionell vor einer Wand standen, wurden sie sehr flach gestaltet. Als die Kota Ende des 19. Jahrhunderts zum Christentum übertraten, mussten sie die Schreinwächter abgeben. Im Jahr 1910 verbot die französische Regierung die Mbulu-Ngulu, wie die Reliquiarfigur in der Sprache der Kota genannt wird. Das brachte viele Figuren auf den Kunstmarkt.
Innerhalb der afrikanischen Kunst ist der Mbulu-Ngulu einzigartig, denn er besteht aus Holz und gehämmertem Metall. Zudem gehört er zu den am stärksten stilisierten Menschenbildern Afrikas. Diese Faktoren führten wohl dazu, die Kota-Schreinwächter zu ikonischen Figuren der traditionellen afrikanischen Kunst werden zu lassen. Zu ihren Bewunderern zählte nicht nur Fernand Léger, der 1923 auf einem Bühnenbild des Skandalerfolgs „La création du monde“ eine solche Reliquiarfigur einsetzte.

Die Brücke-Kunst und der Primitivismus

Die Bedeutung der traditionellen afrikanischen Kunst für die Entwicklung des deutschen Expressionismus ist zwar bereits seit seiner Entstehung bekannt, wird jedoch erst in den letzten Jahren kritisch aufgearbeitet.4 Auch Ernst Ludwig Kirchner, der 1905 Mitbegründer der Künstlergruppe „Die Brücke“ war, ließ sich von Werken im Dresdner Ethnografie-Museum und seinen Besuchen von Völkerschauen in Dresden (1910) beeindrucken. „Wie viel weiter sind doch die Neger in diesen Schnitzereien“, klagte der Künstler noch Jahre später in seinem Tagebuch.  Vor allem sogenannte Palau-Balken aus der Südsee und kraftvollen Holzskulpturen aus der deutschen Kolonie Kamerun begeisterten den angehenden Künstler, so dass sie bereits den Stil des Holzschnitt-Deckblatts für das gemeinsame Programm maßgeblich prägten.

Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) gehörte damit zu jener Gruppe von Avantgardisten, die das scheinbar einfache Leben der außereuropäischen Gesellschaften als Gegenentwurf zur eigenen Zivilisation hochstilisierten. In direktem Zusammenhang mit dieser Zivilisationskritik steht sein malerisches und skulpturales Werk („Adorant“, 1917/18, Städel Museum, Frankfurt am Main), seine geschnitzten Möbel und Gebrauchsgegenstände, die er für alle seine Ateliers schuf. Dafür nahm er strukturelle und formale Anleihen bei der traditionellen afrikanischen Kunst: Kirchner haute alle Objekte wie den „Stuhl mit großem Akt an der Rückenlehne“ (um 1921, Sammlung E.W.K., Bern/Davos) aus einem Stamm heraus, verzierte die Möbel mit nackten, eckigen Figuren und färbte sie mit Ochsenblut braunrot. Die beiden „Stützpfosten“ (um 1923, E.W.K., Bern/Davos) können direkt mit skulpierten Hauspfosten der Yoruba verglichen werden. Gemälde und Fotografien dokumentieren exotische Objekte wie einen kostbaren Leoparden-Hocker aus dem Besitz des Künstlers, selbst entworfene Textilien oder auch dunkelhäutige Menschen aus seinem privaten Umfeld. Kirchner war nie außerhalb von Europa. Sein Primitivismus arbeitet mit exotischen und sexuell aufgeladenen, geometrisierten Frauendarstellungen aber auch mit Materialwahl (Holz), Arbeitsweise (Spuren des Holzmeißels an der Oberfläche sichtbar belassen) und der Weigerung sich einer verfeinerten Oberflächenbehandlung zu bedienen.

Ozeanische Kunst im Leopold Museum

Im Jahr 2006 schenkten die Nachkommen von Admiral Erwin Raisp von Caliga dem Leopold Museum 52 außereuropäische Objekte. Ab 1881 war der aus Döbling stammende Raisp-Caliga in verschiedenen Funktionen zur See gefahren und hatte während dieser Reisen vor allem Waffen aus Neuguinea und den Salomonen, ein Gürteltierkörbchen aus Südamerika u. v. m. gesammelt. Wenn auch im Rahmen der Ausstellungsvorbereitung alle Objekte geografisch verortet werden konnten, so gibt es doch keine historischen Aufzeichnungen über die früh erworbenen Exponate.

Zu den spektakulären Artefakten gehört ein Plankenboot in der typischen Form und Ausführung der Salomonen. Das Heck des Bootes wird beispielsweise von einem Fisch und einem größeren Hund geziert. Da in der Schöpfungsgeschichte ein mythischer Hund den Insulanern alles lehrte, spielen Hundedarstellungen auf den Salomonen eine wichtige Rolle. Der aufwändige schwarz-weiße Dekor spricht gegen eine alltägliche Nutzung des Plankenbootes. Das religiöse Leben dreht sich auf den Salomonen um Ahnen- und Geisterglauben. Die wichtigsten Mitglieder der Gruppe werden bei ihrem Tod Ahnengeister, für die auch noch lange nach ihrem Ableben Gedenkfeiern abgehalten werden. Die Schädel bedeutender Personen, wie etwa Chiefs, wurden in eigenen Schreinen aufbewahrt, die wie Boote aussehen konnten. In der Sammlung Raisp-Caliga befinden sich zwei Fotografien, die eine solche Schädelstätte im Wald zeigen. Dieses seetüchtige Kanu könnte ein darauf abgebildetes „Totenboot“ gewesen sein.

Die Sepikebene in Papua-Neuguinea ist ein großes Wasser- und Sumpf-Gebiet. Entlang des über 1.100 Kilometer langen Sepik5 Fluss leben Gruppen von Menschen, die über hundert verschiedene Sprachen sprechen. Kaum war der Sepik entdeckt, wurde er 1886 von den deutschen Kolonisatoren „Kaiserin Augusta-Fluss“ genannt. Schon früh erregte die höchst elaboriert gestaltete materielle Kultur aus dieser Region die Aufmerksamkeit von Sammlern aus aller Welt. Bei den Iatmul und den Sawos am mittleren Sepik-Fluss wurden die Schädel bedeutender Verstorbener aufbewahrt und mit rötlicher Tonerde überzogen. Das so modellierte Gesicht bemalten sie mit jenen Mustern, die der nunmehrige Ahne auch zu Lebzeiten bei Zeremonien und Festen als Gesichts-Bemalung getragen hat. Diese übermodellierten Ahnen-Schädel wurden im Männerhaus aufbewahrt und in eigenen Zeremonien rituell verehrt. Damit drückten die Iatmul und Sawos den Wunsch aus, sich die Macht und die Kraft eines Verstorbenen anzueignen.

Emil Nolde in der Südsee

„Ich habe während diesen Monaten so oft an die Spanier u. die blinde rücksichtslose Ausrottung der centralamerikanischen Cultur denke müssen. Aber, - wer die Wahrheit spricht wird gesteinigt. Es gilt das Recht des Stärkeren. Alles arbeitet für die „wirtschaftliche Erschließung“ u. dabei geht eine eigene selten schöne Welt verloren, für immer. Die Eingeborenen an den Plätzen der Europäer sind unerträglich, verlogen, verseucht, u. mit Lappen u[-] Flitter elendster Art behangen. So gehen sie zurück an ihre Plätze, die schlechtesten Beigaben der Cultur des weißen Mannes um sich verbreitend. […] Aber sage bitte nichts! – Psst! – kein weißer Mann darf es sehen, wer es sieht, schließe hübsche Augen, der „wirtschaftliche Nutzen“ überragt alle Bedenken.“6 (Emil Nolde)

Nach einem Besuch der Weltausstellung 1900 träumte Emil Nolde bereits von einer Südseereise. Wenige Jahre bevor er seinen Traum 1913/14 realisieren konnte, widmete er sich bereits außereuropäischen Objekten und primitivistischen Gestaltungslösungen wie „Mann, Fisch und Frau“ (1912). Das Stillleben zeigt zwei Figuren, die auf sogenannten Ibeji-Zwillingsfiguren der Yoruba basieren (siehe oben). Noldes künstlerische Beschäftigung mit außereuropäischer Kunst setzte 1910/11 ein, als er nach Skulpturen in den reichen Beständen des Berliner Völkerkundemuseums zeichnete. Für Noldes Stillleben dieser Zeit ist charakteristisch, dass ihn der Ausdrucksgehalt der Objekte interessierte. Diesen steigerte er noch durch Farbwahl und Zusammenstellung der Skulpturen. Interessanterweise interessierte er sich während seiner Südseereise ausschließlich für Menschen. Die Dingwelt der kolonialisierten Insulaner trat völlig in den Hintergrund.

Im Oktober 1913 reiste das Ehepaar Nolde mit der „Medizinisch-demographischen Deutsch-Neuguinea Expedition“ und geliehenem Geld in Richtung Südsee ab. Die Reiseroute führte sie über Sibirien nach Japan und China nach Deutsch-Neuguinea. Hier besuchten das Ehepaar Nolde verschiedene Inseln und gelangte auch in das noch wenig erforschte Sepik-Gebiet. Die mindestens genauso beschwerliche Rückkehr führte im Sommer 1914 über Celebes, Java, Birma und Aden nach Ägypten. Bei Ausbruch des Weltkriegs befand sich das Paar im neutralen Port Said im Nordosten Ägyptens. Emil Nolde und seine Frau fuhren auf einem holländischen Dampfer über Marseille nach Genua weiter, Mitte September kamen sie auf Alsen an. Das britische Militär beschlagnahmte Noldes vorausgeschicktes Gepäck mit den Gemälden. Die in Papua-Neuguinea entstandenen Werke tauchten erst 1921 in einem Warenhaus in Plymouth wieder auf.

Die Erfahrungen der Asien-Reise verarbeitete Emil Nolde sowohl in leuchtenden Landschaftsbildern als auch 19 figurativen Gemälden, die trotz exotischer Motive europäische Projektionen zeigen. „Mutter mit Kind“ entstand 1914 in einem neu errichteten Gefängnis auf „Neu Mecklenburg“ – dem heutigen New Ireland -, das Nolde kurzzeitig als Atelier nutzen durfte. Obwohl er im Rahmen der Expedition keinen offiziellen Auftrag hatte, begleitete er Forscher, Soldaten und Kolonialherren auf deren Tagestouren. Während des knapp sechsmonatigen Aufenthalts schuf er mehr als 200 Aquarelle und fast 400 Zeichnungen. Die darin festgehaltenen Sujets bildeten den Ausgangspunkt für die in den folgenden Jahren gemalten Bilder, in denen Nolde nach eigener Aussage „etwas vom Urwesen“ festhalten wollte. Es ging dem Expressionisten weder um Dokumentation der Lebensbedingungen der Insulaner noch um das Festhalten eines äußeren Erscheinungsbildes. Stattdessen reizten den Künstler die „Wildheit“ der Papua-Männer und die Idyllen der Familien, deren Kultur er von den Kolonialherren als bedroht wahrnahm.

Surrealismus und Primitivismus: eine heilige Allianz

Die Surrealisten unter Führung von André Breton schätzten nicht nur afrikanische und ozeanische Kunst, sondern weiterten ihren Horizont bis zur Kunst der Inuit, der indigenen Bevölkerungen beider Amerikas und sämtlicher Inselkulturen Asiens (→ Surrealismus). Hatten die Künstler der Klassischen Avantgarde um 1910 vor allem eine Nachahmung der als ursprünglich empfundenen Formen angestrebt, so begannen die Surrealisten sich auch gegen die koloniale Fremdherrschaft auszusprechen.

„Wenn ich Nachdruck auf diese Objekte lege, […] dann auch […] um ihnen die Größe einer solchen Kunst voll und ganz bewusst zu machen, in der die größten zeitgenössischen Künstler eine Lehre gesucht haben.“ (André Breton)

Die Rezeption der außereuropäischen Kunst durch die Surrealisten reichte von Sammeln, Publizieren über Ausstellen der Stücke bis zur künstlerischen Auseinandersetzung und Integration in ihre Werke. Der Ungar Lajos Kassák legt mit seinem „Montage-Selbstbildnis, 1923–1964“ (1964) seine tiefe Verwurzelung in der traditionellen afrikanischen Kunst offen. Fernand Léger (wenn auch kein Surrealist) arbeitete mit Schreinwächterfiguren der Kota. Der 1911 in Santiago de Chile geborene Maler Roberto Matta7 (1911–2002) malte „Gefühlsflattern“ 1946, als sich der Künstler zunehmend vom seiner Ansicht nach allzu subjektiven Surrealismus löste. In einem komplexen Labyrinth aus architektonischen Strukturen positioniert er eine primitivistisch aussehende menschliche Figur. Kräftige Konturlinien und unrealistische, wenn auch warme Farbigkeit grenzen sie von ihrem kühlen Umraum deutlich ab. Wenn auch die Raumgestaltung noch von der surrealistischen Irrationalität geprägt scheint, so symbolisiert die Figur für Matta die „soziale Krise“ der Nachkriegszeit.

Der aus dem Rheinland stammende Maler Max Ernst (1891–1976) gehörte zu den Mitbegründern des Surrealismus in Paris und mit dem „Festmahl der Götter“ (1948) vertreten. Das Werk entstand, nachdem er sich von Breton distanziert und mit seiner dritten Ehefrau Dorothea Tanning in die Wüste von Arizona zurückgezogen hatte. Wie eine Mischung aus indianischen Totem-Pfählen und afrikanischen Masken blicken die „Götter“ aus dem Bild. Die geometrisch aufgefassten Figuren und bunten Farbflächen geben der Zusammenkunft ein festliches Gepräge - wenn auch in einiger Distanz. Die Surrealisten erweiterten den Kanon der Kulturen um die Kunst aus Ozeanien und der indigenen Völker Amerikas. Nun geht es nicht mehr um die Erweiterung der Formensprache oder Anleihen aus der Lebenswelt so genannter primitiver Völker, sondern zunehmend um das Aufzeigen von Parallelen in der Weltkunst.

Literatur und Links

  • Fremde Götter. Faszination Afrika und Ozeanien, hg. v. Hans-Peter Wipplinger (Ausst.-Kat. Leopold Museum, Wien), Köln 2016.
  • „Inspiration des Fremden. Die Brücke-Maler und die afrikanische Kunst“ im Kunstmuseum Moritzburg, Halle/Saale 2016/17)
  • Christoph Otterbeck, Europa verlassen. Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2007.
  1. Zitiert nach Das Jahrhundert der Extreme, S. 39.
  2. Zitiert nach Ausst.-Kat., S. 162.
  3. Aufenthalte auf Martinique (1887) und in Tahiti (1891–1893) bereiteten das „Exil“ des Malers ab 1894 vor. Von 1895 bis 1901 lebte er erneut in Tahiti und von 1901 bis 1903 auf den Marquesas-Inseln.
  4. Dazu zählt u. a. die Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner und die Kunst Kameruns“ im Weltkulturen Museum, Frankfurt, 2008. Ende 2016 folgt im Kunstmuseum Moritzburg in Halle/Saale eine Schau über „Inspiration des Fremden. Die Brücke-Maler und die afrikanische Kunst“.
  5. Sprich: Siipick!
  6. Zitiert nach Christoph Otterbeck, Europa verlassen. Künstlerreisen am Beginn des 20. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 233.
  7. Er kam 1934 nach Paris, um für Le Corbusier zu arbeiten. Der 25-jährige Architekt schloss sich den Surrealist:innen rund um Breton an und begann 1937 zu malen. Schon drei Jahre späte emigrierte er wie viele verfolgte Künstler vor den Nationalsozialisten in die USA, wo er in New York auf die sich formierende Gruppe der Abstrakten Expressionisten traf. Obwohl er höchst einflussreich für die Entwicklung der New Yorker Schule wurde, ist Mattas Kunst nicht so bekannt geworden wie die seiner Freunde Robert Motherwell und Arshile Gorky.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.