Surrealismus Sammlungen: James, Penrose, Keiller, Pietzsch
0

Surreale Begegnungen: Dalí, Ernst, Miró, Magritte… Surrealismus-Sammlungen von James, Penrose, Keiller und Pietzsch in Hamburg

Dalí, Ernst, Miró, Magritte… Surreale Begegnungen aus den Sammlungen Edward James, Roland Penrose, Gabrielle Keiller, Ulla und Heiner Pietzsch (HIRMER Verlag)

Dalí, Ernst, Miró, Magritte… Surreale Begegnungen aus den Sammlungen Edward James, Roland Penrose, Gabrielle Keiller, Ulla und Heiner Pietzsch (HIRMER Verlag)

Mit der Ausstellung „Surreale Begegnungen“ wagt sich die Hamburger Kunsthalle, unterstützt durch die Scottish National Gallery of Modern Art in Edinburgh und das Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, auf Neuland. Wurden die Surrealistinnen und Surrealisten bislang hauptsächlich als radikale Erneuerer der Kunst und der Surrealismus als höchst subjektive und individualistische Kunstrichtung präsentiert, gehen die drei Museen gemeinsam einen anderen Weg. Wenn auch die Hauptthemen des Surrealismus zweifellos anhand von fünf Sammlern und vier Sammlungen dargelegt werden können, so öffnet sich der spannendste Blick dann doch auf die Zusammenarbeit zwischen den Künstlern und ihren beiden zeitgenössischen Sammlern Edward James und Roland Penrose. Die hochqualitative Zusammenstellung ist ein MUSS für alle Freunde des Überwirklichen und zweifellos eine der wichtigsten Schau im Ausstellungsherbst 2016/17.

Annabelle Görgen-Lammers, Kuratorin der Hamburger Kunsthalle und unterstützt von Désirée de Chair, kuratierte die internationale Schau und erweiterte sie für die Station in Hamburg mit über 25 nur hier ausgestellten Werken, u. a. von Max Ernst, Salvador Dalí und den bemerkenswerten Surrealistinnen. Ikonische Werke wie das Lippensofa von Salvador Dalí, Max Ernsts „Joye de vivre“ (1936) und eine Kopfstudie seines „Hausengels“, René Magrittes geheimnisvolles Porträt von Edward James, Dorothea Tannings albtraumhaft-befreiender „Avatar“ (1947) treffen auf Arbeiten von Marcel Duchamp, Alberto Giacometti, Hans Arp, Yves Tanguy, André Masson, Paul Delvaux, Pablo Picasso, Francis Picabia, Giorgio de Chirico und viele mehr.

Objekte der Begierde(n)

Das Wunderbare [le merveilleux] und das Begehren [le desire] standen im Zentrum des surrealistischen Weltbildes. Wenn auch das Begehren prinzipiell unerfüllbar sein musste, so konnten die hier beleuchteten Sammlerinnen und Sammler durch den Erwerb der Kunstwerke ihre Begierden erfüllen. Alberto Giacometti versuchte das (sexuell konnotierte, unbewusste) Verlangen in der Holzskulptur von „Objet désagréable à jeter [Unangenehmes Ding zum Wegwerfen]“ (1931) zu fassen. Das Objée trouvée von Marcel Duchamp, Joseph Cornells Boxen voller Sehnsüchte1, Hans Bellmers geschnürter Frauenkörper aus hochglanzpoliertem Silber sind hocherotische Parzialobjekte, teils aus Fundstücken konstruiert. Ihren Schöpferinnen und Schöpfern ging es nicht darum Skulpturen zu gestalten, die man auf einen Sockel stellt. Stattdessen intendierten sie einen partizipativen Umgang, womit das surrealistische Objekt in den Alltag integriert werden und helfen sollte, diesen auf eine andere, ungewohnte Weise wahrzunehmen. In ihren Künstlerhäusern haben sich die Sammlerinnen und Sammler die Werke gleichsam „einverleibt“. Der gelebte Surrealismus hat zur Grundbedingung, das Subversive in die eigene Realität zu integrieren.

Erstmals wurden die Sammlungen des exzentrischen englischen Poeten und Mäzens Edward James (1907–1984) und des Künstler-Kurators Roland Penrose (1900–1984) teilrekonstruiert. Sie stehen für die frühe Rezeptionsgeschichte des Surrealismus, den sie entschiedenen mitprägten - als Mäzene, Ermöglicher und Zusammenarbeitende, die ihre eigenen Imaginationen miteinfließen ließen. Gabrielle Keiller vermachte ihre Sammlung, die sie ab den 1960er Jahren zusammentrug, der Scottish National Gallery of Modern Art, der ersten Station der Ausstellung. Die Berliner Sammler Ulla und Heiner Pietzsch sind seit den 1970er Jahren zu Surrealismus Experten geworden, als sie Max Ernst persönlich kennenlernten. Heute sammelt das Ehepaar Pietzsch auch die Frühwerke der Amerikanischen Abstrakten Expressionisten, die als „Nachfolger“ der Surrealisten gelten dürfen. Obwohl mit unterschiedlichen Schwerpunkten zusammengestellt, beginnen die Werke in der Zusammenschau einen Dialog, der durch Briefe, Fotomaterial und Ephemera2 sinnvoll ergänzt wird. Während der Vorbereitung der Ausstellung trugen die Kuratoren ca. 200 Archivalien zusammen, die bislang nicht publiziert wurden. Diese erlauben einen Einblick in den Kunstmarkt seit den 1930er Jahren. Wie greifen Kunstproduktion und -markt ineinander? Und vor allem wie funktionierte das mit Werken der Surrealismus, der André Breton zufolge dem Kommunismus nahestand und als gänzlich subjektive Bewegung zu verstehen war?

Edward James, der Ko-Designer von Salvador Dalís „Mae-West-Lippensofa“

Edward James (1907–1984) war der Spross einer wohlhabenden anglo-amerikanischen Familie3 und hat sich selbst nie als Sammler gesehen, sondern als Dichter, Förderer und Mitarbeitender der von ihm geförderten Künstlerinnen und Künstler. So war James Herausgeber des Hochglanzmagazins „Minotaure: revue artistique et littéraire“ (1933–1939), das nach „La Révolution Surréaliste“ (1924–1929) und „Le Surréalisme au service de la revolution“ (1930–33) zum Sprachrohr der Bewegung wurde. In engem Austausch mit Künstlern wie vor allem Salvador Dalí und René Magritte war er an der Entwicklung von deren Werken beteiligt, wie dem „Mae West Lips Sofa [Mae-West-Lippensofa]“ (1938) und das „Lobster Telephone [Hummertelefon]“ (1938). Anhand von Skizzen und Archivmaterialien aus der Edward James Foundation kann die Entstehungsgeschichte so manches berühmten Werkes neu geschrieben werden. Später unterstützte er maßgeblich die Surrealistinnen Leonora Carrington, Leonor Fini und Dorothea Tanning.

Salvador Dalí lernte den englischen Poeten eventuell bei de Noailles, spätestens aber Ende Februar 1935 bei der Princess de Polignac kennen. Mit „Couple aux têtes pleines de nuages [Paar, die Köpfe voller Wolken]“ (1936) erwarb Edward James aus der ersten Einzelausstellung Dalís in der Alex Reid & Lefevre Gallery ein Hauptwerk. Im Dezember 1936 schloss James sogar einen Jahresvertrag mit dem spanischen Künstler, um Dalí völlig freies Arbeiten zu ermöglichen. Er kaufte die Gemälde und Zeichnungen, die Dalí zwischen Juni 1937 und Juni 1938 produzierte, für monatlich 200 britische Pfund en bloc. Bis in die 1950er Jahre hatte Edward James die größte Dalí-Sammlung weltweit, weshalb eine solch hohe Dichte an Kunstwerken Dalís in der Schau zu sehen ist!

Edward James beauftrage Salvador Dalí mit Einrichtungsgegenständen für seine Anwesen in West Dean und Monkton House, beide in Sussex, sowie 35 Wimpole Street in London. In direkter Absprache mit dem Auftraggeber entwarf Dalí das „Lobster Telephone or Aphrodisiac Telephone [Hummer-Telefon oder Aphrodisisches Telefon]“ (1938), das „Mae West Lips Sofa [Mae-West-Lippensofa]“ (1938), den „Cat’s Cradle Hands Chair [Fadenspiel-Hände-Stuhl]“ (um 1936), einen Kaminschirm in Form des Kopfes seines Besitzers und einen vier Meter hohen, bemalten Paravent. Salvador Dalís Begeisterung für Doppeldeutiges zeigt sich in Malerei und Objekten. Mit altmeisterlicher Präzision verband er disparate Teile zu mehrdeutigen Darstellungen, wie das bekannte „Impressions d’Afrique [Afrikanische Impressionen]“ (1938), die sich einer gewissen unheimlichen Grundstimmung nicht verwehren können. So regte die englische Bezeichnung chest-of-drawers, die man als Kommode oder wörtlich als Brust-aus-Schubladen übersetzen kann, den Katalanen zur bekannten Kombination von Frauenkörpern und Schubladen an: „Le cabinet anthropomorphique [Der anthropomorphe Kabinettschrank]“ (1936). Desgleichen „deutete“ er den armchair wörtlich, indem er die Rückenlehne des Sitzmöbels aus Walnussholz in Form von zwei Armen gestaltete, die einer Zeichnung zufolge mit Wollfäden (Kinderspiel!) verbunden werden sollten.

Nicht nur als Auftraggeber, sondern auch als Finanzier war James für Dalí äußerst wertvoll, ließ er doch durch Green and Abbott elf, teils handbemalte Exemplare des „Hummertelefons“ produzieren. Als Salvador Dalí für seinen Vortrag auf der International Exhibition 1936 im Taucherhelm erschien, um deutlich zu machen, dass er in die Tiefen des Unbewussten hinabzutauchen gedachte, rettete ihm Edward James das Leben. Es gelang Dalí nicht, den Helm abzunehmen, und er wäre fast erstickt, wenn ihn nicht sein Förderer herausgeholfen hätte. Der Künstler „revanchierte“ sich für diesen Gefallen während eines Besuchs bei Sigmund Freud mit dem Ausspruch „James wäre verrückter als Dalí“. Die Errichtung des Dream-of-Venus-Pavillons für die New Yorker Weltausstellung 1939 bildete Höhe- und Endpunkt der engen Kollaboration. Wie auch die anderen in der Hamburger Ausstellung gewürdigten Sammlerinnen und Sammler war Edward James der Ansicht, dass die Popularisierung von Dalís Erfindungen dem Künstler eher geschadet als ihm gedient hätte. Allerdings handelt es sich hierbei nur um Arbeiten, die bis 1939 entstanden.

Die Korrespondenzen zwischen Auftraggeber und Künstler sind gespickt mit Entwurfsvorschlägen und Preisverhandlungen. Vielleicht geht das Konzept für die Shaped Canvas auf Edward James zurück.4 Ob für die Entfremdung zwischen Künstler und Sammler nicht auch Dalís unverhohlene Unterstützung für Franco eine Rolle gespielt hat, muss offen bleiben. Während Pablo Picasso mit „Guernia“ (→ Picasso: Guernica), den beiden Grafiken „Sueno y mentira de Franco [Traum und Lüge Francos]“ (1937) und einer Serie weinender Frauen (z.B. „La femme qui pleure I [Weinende Frau I], 1937) auf das Bombardement der Stadt reagierte, schuf Dalí mit „Espagne [Spanien]“ (1938) ein Nationenbild, das sich aus kämpfenden Männern zusammensetzt.

Über Salvador Dalí lernte Edward James René Magritte kennen und schätzen. Im Februar 1937 beauftragte er den belgischen Surrealisten mit der Anfertigung von drei großen Gemälden für seinen Ballsaal seines Londoner Stadthauses: „La jeunesse illustrée [Die illustrierte Jugend]“ (1937), „Au seuil de la liberté [An der Schwelle zur Freiheit]“5 (1937, The Art Institute of Chicago) sowie „Le modèle rouge III [Das rote Modell III]“ (1937). Unter den repräsentativen Gemälden findet sich auch eine Reprise von Magrittes „Le modèle rouge“ (1935, Moderne Museet, Stockholm), das auf der „International Surrealist Exhibition“ in den New Burlington Galleries in London 1936 zu sehen gewesen war. Magritte band Edward James auch geschickt in die Genese seiner Werke mit ein, was dieser an seinem Kunstengagement besonders schätzte. Präsentiert wurden die Gemälde hinter alten Spiegeln im Ballsaal des Londoner Stadthauses James‘. Sobald dieser die Saalbeleuchtung abgedreht hatte und die Spiegel von hinten beleuchtete, schienen Magrittes Werke durch die transparent gewordenen Spiegel durch! Überraschung, Magie, konvulsivische Schönheit!

Während René Magritte von März bis April 1937 in James’ Londoner Stadthaus, Wimpole Street 35, an diesen Bildern für den Ballsaal arbeitete, könnte er sich mit den Shaped Canvases von Dalí beschäftigt haben, die sich James‘ Sammlung befanden. Das ursprüngliche quadratische Bilder eines weiblichen Schosses, „La représentation [Die Darstellung]“, beschnitt er im Mai 1937 an den Konturen des Frauenkörpers und rahmte das Gemälde so. „La saignée [Der Aderlass]“ (1939), „Le poison [Das Gift]“ (1939) und vor allem das heimliche Porträt des Gönners „La reproduction interdite [Reproduktion verboten]“ (1937) am Ende der Hamburger Ausstellung sind augenzwinkernde Anregungen, über seinen Mäzen, die onthologischen Status der Dinge und die Möglichkeiten der illusionistischen Malerei nachzudenken.

Heute ist die Sammlung von Edward James in die gesamte Welt zerstreut. Seit den 1980er Jahren verkaufte der exzentrische Künstler die Werke, um sein eigenes fantastisch-surrealistisches Kunstwerk in Mexiko zu finanzieren, aber auch um auf seinem Landgut West Dean im englischen Sussex ein College zu unterhalten. Man könnte über die „Burg“ Las Pozas im subtropischen Regenwald bei Xilitla sagen, dass ein Gemälde von Max Ernst Realität wurde.

Roland Penrose - Künstler-Kurator

„Die Sammlung hat sich einfach selbst gesammelt.“6 (Roland Penrose, Scrap Book, 1981)

Als Roland Penrose im Jahr 1926 Max Ernsts Grafikserie „Histoire naturelle [Naturgeschichte]“ zum ersten Mal sah, war es um den in Frankreich lebenden, englischen Künstler geschehen. Es war für ihn, als erwachte er in einem anderen Land, denn der Surrealist löste mit seinen Collagen die Versprechen der fantastischen Welten von Giorgio de Chirico und der transparenten Figurenbilder von Francis Picabia ein (→ Francis Picabia: Unser Kopf ist rund). Aus der Freundschaft zu Max Ernst7 erwuchs aber nicht nur eine Leidenschaft für den Surrealismus, sondern auch handfeste finanzielle Unterstützung, nachdem Penrose’s Vater 1932 verstorben war. Roland Penrose finanzierte Ernsts Collageroman „Une semaine de bonté“ (1934), er erwarb noch vor dessen Vollendung „La joie de vivre“ (1936). Als Ausstellungskurator, Mitorganisator der „International Surrealist Exhibition“ in London 1936, als Besitzer der „London Gallery“ und Herausgeber des monatlich erscheinenden „London Bulletin“ (April 1938–Juni 1940) ebnete er den Surrealisten den Weg nach Großbritannien und förderte damit auch junge britische Surrealisten wie Eileen Agar, John Banting, Edward Burra, Humphrey Jennings, Henry Moore, Paul Nash, Julian Trevelyan und sich selbst.8 Mit einem riesigen Presse-Echo und rund 23.000 Besucherinnen und Besuchern war die umfangreichste Surrealismus-Ausstellung bis zu diesem Zweitpunkt zwar ein Publikumserfolg, der finanzielle Erfolg wollte sich jedoch (noch) nicht einstellen.

„Die Idee als solche schockierte mich. Die Bilder waren ausnahmslos hervorragend, aber [der Kauf] würde mich endgültig in die unwillkommene Kategorie des Sammlers einstufen […]. Ich wollte nicht gezielt eine Sammlung aufbauen, sondern fühlte mich selbst als Sammelstück in einer wundervollen Galerie geliebter Gemälde.“9 (Roland Penrose)

Wie in den Zitaten aus Penrose’s „Scrap book“ anklingt, entstand dessen herausragende und kenntnisreiche Surrealismus und Kubismus-Sammlung eher durch Zufall denn durch Planung: Im Jahr 1937 erwarb Penrose die gesamte Sammlung des belgischen Geschäftsmannes René Gaffé, einen Teil der Sammlung von Paul Éluard übersiedelte 1938 nach England. Ende der 1930er Jahre besaß der Künstler-Kurator de Chiricos „Le tourment du poète [Die Qual des Dichters]“ (1914, Yale University Art Gallery, New Haven), Giacomettis „Objet désagréable à jeter“ (1931), Mirós „Tête de paysan catalan [Kopf eines katalanischen Bauern]“ (1925) und „Maternité [Mutterschaft]“ (1924) sowie Picassos „Jeune fille à la mandoline (Fanny Tellier) [Mädchen mit Mandoline (Fanny Tellier)]“ (1910), die kubistische Collage „Tête [Kopf]“ (1913), „Femme nue couchée au soleil sur la plage [Liegender Frauenakt in der Sonne am Strand]“ (1932) und „Femme en pleurs [Weinende Frau]“ (1937). Die letzten beiden Gemälde kaufte er Picasso persönlich ab. Joan Miró war in der Sammlung von Penrose nur mit Gemälden aus den 1920er Jahren vertreten. Nach 1939 trennte sich der Kurator und Kunstwissenschaftler aber auch wieder von seinen Schätzen, wenn er eigene Projekte finanzieren wollte. Zu den wichtigsten zählt 1947 die Gründung des Institute of Contemporary Arts (ICA).

Wenn auch von öffentlicher Seite kein Interesse am Surrealismus zu wecken war, so ist erstaunlich, dass Penrose und Edward James einander nicht besonders gut kannten. Der exzentrische Poet lieh Penrose und Herbert Read Werke seiner Sammlung für die „International Surrealist Exhibition“, darunter Dalís „Visage paranoïaque [Paranoisches Gesicht]“ (1935) und Picassos „Tête d’une femme [Kopf einer Frau]“ (1934). Die Ausstellung vergisst über den Kurator, Galerieneigner und Herausgeber eines Kunstmagazins aber nicht Penrose als Künstler vorzustellen. So stellt Annabelle Görgen-Lammers den Maler und Sammler eines Kuriositätenkabinetts vor. Diese Objekte schienen, so erinnert sich Anthony Penrose, „ein Eigenleben zu führen“10. Kleine Fundstücke wie eine mumifizierte Ratte, eine kleine Skulptur von Picasso, ein afrikanischer „Fetisch“ (eine Ba’Kota-Wächterfigur) und Kunst der indigenen Völker Nordamerikas (Kachina-Puppe der Zuni) entsprachen Penrose’s Geschmack mehr als der Erwerb von zwei hochgeachteten Kunst-Sammlungen en block.

Roland Penrose und Pablo Picasso

Pablo Picasso stand dem Surrealismus nahe, war aber nie offizielles Mitglied der Vereinigung. Auch für dessen Karriere war Penrose, der ihn 1936 kennengelernt und sich mit dem spanischen Maler angefreundet hatte, von größter Bedeutung, denn er brachte Picassos Monumentalgemälde „Guernica“ (1937) im Jahr 1938 nach London11. Als überzeugter Anhänger der spanischen Republik sammelte Penrose damit Geld für das National Joint Committee for Spanish Relief. Im Jahr 1958 publizierte er die erste umfassende Picasso-Monografie12.

Gabrielle Keiller, die Vermittlerin des Surrealismus

Eine Begegnung mit der legendären Sammlung von Peggy Guggenheim im Jahr 1960 und der Besuch der Biennale von Venedig veränderte das Leben von Gabrielle Keiller grundlegend. Die Schottin hatte bereits eine Sammlung Alter Meister und moderner Kunst besessen und verlegte nun ihr Interesse auf Dada und Surrealismus. Als einziges Werk ihrer „alten“ Sammlung behielt sie ein kleinformatiges Gemälde von Henri Rousseau, der von den Surrealisten als einer ihrer Vorläufer geschätzt wurde. Zusätzlich wandte sich Keiller dem italienischen Bildhauer Eduardo Paolozzi zu, der auf der Biennale im britischen Pavillon ausstellte und sich offen zu seiner Begeisterung für beide Bewegungen bekannte. „The marmalade queen“, wie Gabrielle Keiller genannt wurde, entwickelte sich zur wichtigen Vermittlerin des surrealistischen Konzepts. Als sie Ende der 1970er Jahre Roland Penrose kennenlernte, konnte sie von diesem u. a. Magrittes „La représentation“ (1937) und Giacomettis „Objet désagréable à jeter [Unangenehmes Ding zum Wegwerfen]“ (1931) erwerben. Keillers Sammlung umfasste Werke von Eileen Agar, Edward Burra, Dalí, Delvaux, Duchamp, Ernst, Giacometti, Hannah Höch, Magritte, Francis Picabia und Tanguy.13

Im Gegensatz zu ihren Sammlerkollegen entwickelte Gabrielle Keiller großes Interesse am intimen Format. So erwarb sie als eines ihrer ersten (rheinisch-expressiven) Gemälde Max Ernsts „Türme“ (1916), eine Vorwegnahme irrationaler Raumkonstruktionen der Dada-Zeit. In der Folge wandte sie sich der surrealistischen Collage zu, was wiederum auf den Einfluss Paolozzis zurückzuführen sein dürfte. Keillers Begeisterung für das Konzept des Surrealismus und den Stellenwert des Wortes ließ sie wohl auch ihre unschätzbare Sammlung an Büchern und Ephemera (Flugblätter, Manuskripte) anlegen, die ihres gleichen sucht. Sie sammelte Hans Bellmers Publikationen zu La poupée (ein Abguss in Edelstahl ist über die Sammlung Pietzsch präsent). Dass „Le miroir magique [Der magische Spiegel]“ (1929), das Gemälde zeigt einen Spiegel, auf dem die Wörter „corps humain [menschlicher Körper]“ zu lesen stehen, dereinst gerade Keiller gehörte, verdeutlicht die hohe sprachorientierte Qualität ihrer Sammlung.

Ulla und Heiner Pietzsch, Surrealismus und Abstrakter Expressionismus

Das Ehepaar Ulla und Heiner Pietzsch lernte von den Surrealistinnen und Surrealisten nur noch Max Ernst 1972 während eines Empfangs anlässlich einer Retrospektive des Künstlers in der Kestner-Gesellschaft persönlich kennen. Ernst inspirierte sie, sich als Sammler dem Surrealismus zu öffnen. Wie auch die Sammlung Keiller entstand die Sammlung Peitzsch in Berlin retrospektiv und aus einer kunsthistorischen Distanz, ist aber von Dichte und Qualität her eine der besten Surrealismus-Sammlungen in und außerhalb von Deutschland. Mit Kunstwerken von Max Ernst, André Masson, Salvador Dalí, Joan Miró („Peinture“, 1925; „Peinture“, 1926; „Flêche transperçant fumée“ von 1926 gehörte einst Alexander Calder → Miró. Von der Erde zum Himmel), René Magritte, Hans Arp, Balthus, Hans Bellmer, Victor Brauner und Yves Tanguy, André Masson – nicht zu vergessen die Gemälde von Leonora Carrington, Leonor Fini, Valentine Penrose (geb. Boué) und Dorothea Tanning – kann diese Berliner Sammlung nicht nur mit Werken der zentralen Künstler der Bewegung aufwarten, sondern auch die Entwicklung des Surrealismus nacherzählen.

Im Jahr 1946 war Heiner Pietzsch auf der „Ersten Deutschen Kunstausstellung“ im zerbombten Dresden erstmals mit moderner Kunst konfrontiert. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich deutsche Sammler nicht mit dem Surrealismus befasst. Als das Ehepaar Pietzsch Mitte der 1950er Jahre nach Westberlin übersiedelte, sammelte es anfangs Werke des Fantastischen Realismus und des Informel. Erst die Begegnung mit Max Ernst und Ulla Peitzschs Interesse für das Unbewusste provozierte eine Wendung in ihrem Sammlungsgebiet. Zu den Hauptwerken von Max Ernst zählen heute der „Tête de L’ange du foyer [Kopf des Hausengels]“ (um1937) sowie „Jeune homme intrigué par le vol d'une mouche non-euclidienne [Junger Mann, beunruhigt durch den Flug einer nicht-euklidischen Fliege]“ (1942–1947). Seine Kriegserfahrungen und vor allem den Verlust seiner Werke verarbeitete Max Ernst in „Painting for your People“ (1943), einem Setzkasten mit dem „Joie de vivre“-Motiv und anderen Techniken, das einst der Buchhalter von Peggy Guggenheim besaß. Die Oszillation „Junger Mann“ entstand ebenfalls bereits während des amerikanischen Exils und bereitete als surrealistische Technik den Malern des Abstrakten Expressionismus den Weg in die Nachkriegsabstraktion. Es ist daher fast zu schlüssig zu nenne, dass das Ehepaar Pietzsch seit 1989 auch frühe, „abstrakt-surrealistische“ Papierarbeiten der amerikanischen Künstler wie Jackson PollockBarnett Newman oder Mark Rothko ihr eigen nennt. Den „Jungen Mann“ hatte Max Ernst dem deutschen Kunsthistoriker Fritz Löffler geschenkt, der 1946 die „Erste Deutsche Kunstausstellung“ mitorganisierte.

Mythisierung der Frau, Zerstörung des weiblichen Körpers im Surrealismus

„Die Erde befiehlt gewissermaßen durch die Frau.“14 (André Breton, 1934)

Ordnete in der Hamburger Kunsthalle die Werke in Künstler- (Max Ernst, Pablo Picasso, André Masson und Joan Miró, Yves Tanguy und Hans Arp, Salvador Dalí, René Magritte) sowie Themenräumen an. Vor allem im Kapitel „Mythologisierung der Frau“, das das ambivalente Verhältnis der Surrealisten zum weiblichen Geschlecht thematisiert, finden sich ausnehmend viele Werke von Surrealistinnen. Die Frau diente den Surrealisten als Medium mit magischen Fähigkeiten, als Mittlerin zum Unbewussten wie zur Natur, während die Künstler sich selbst als vergeistigt sahen. Auffallend ist der zerstörerische Umgang mit dem Frauenkörper in den Werken v. a. von Hans Bellmer oder auch die Inszenierung einer Hysterikerin für eine Ausstellungseröffnung. Einzig der Belgier Paul Delvaux und der aus Rumänien stammende Victor Brauner ließen den weiblichen Körper unverletzt.

Ende der 1920er Jahre kamen junge Malerinnen in die Bewegung, nachdem zuvor bereits Künstlerinnen wie Meret Oppenheim und Frida Kahlo den Surrealismus wieder verlassen hatten. Leonor Fini wurde früh von James gefördert, auch Leonora Carrington (ab 1946) und Dorothea Tanning. Tanning wurde die vierte Ehefrau von Max Ernst, sie überzeugt in der Hamburger Schau mit den spannungsgeladenen Gemälden „Eine Kleine Nachtmusik“ (1943, Tate) und „Avatar“ (1947). Das Unheimliche, das Unbewusste und das Rollenspiel stehen für Künstlerinnen des Surrealismus stärker im Vordergrund als die Verlebendigung der Natur, die Delvaux umtrieb. Die aus der englischen Oberschicht stammende Carrington lebte mit Max Ernst während der Kriegswirren in Südfrankreich und wanderte nach Mexiko aus. Sie war mit Edward James bis ins hohe Alter befreundet und teilte mit ihm die Ablehnung bürgerlicher Gesellschaftsnormen. James fand offensichtlich Gefallen an den hybriden Wesen in Carringtons Gemälden. Ihre Werke hat der visionäre Poet bis zuletzt behalten, weshalb sich „The House Opposite [Das Haus gegenüber]“ (um 1945) in der Edward James Foundation befindet.

Ausgestellte Künstlerinnen und Künstler

  • Hans Arp
  • Hans Bellmer
  • Victor Brauner
  • André Breton
  • Leonora Carrington
  • Salvador Dalí
  • Paul Delvaux
  • Oscar Domínguez
  • Marcel Duchamp
  • Max Ernst
  • Léonor Fini
  • Alberto Giacometti
  • Valentine Hugo
  • René Magritte
  • Man Ray
  • André Masson
  • Joan Miró
  • Richard Oelze
  • Meret Oppenheim
  • Wolfgang Paalen
  • Roland Penrose
  • Valentine Penrose
  • Francis Picabia
  • Pablo Picasso
  • Kurt Seligmann
  • Yves Tanguy
  • Dorothea Tanning

Surreale Begegnungen: Bilder

  • Edward James, Ausstellungsansicht Hamburger Kunsthalle 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Die Kunstkammer von Roland Penrose, Ausstellungsansicht Hamburger Kunsthalle 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Mark Rothko – Max Ernst aus der Sammlung Pietzsch, Berlin, Ausstellungsansicht Hamburger Kunsthalle 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Henri Rousseau, La statue de Diane au parc [Statue der Diana im Park], um 1909 (Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh, Nachlass Gabrielle Keiller), Ausstellungsansicht Hamburger Kunsthalle 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Salvador Dalí, Landscape with a Girl Skipping Rope [Landschaft mit seilspringendem Mädchen], 1936 (Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam, ehemals Sammlung E. James), Ausstellungsansicht Hamburger Kunsthalle 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Salvador Dalí, Le grand paranoïaque [Der große Paranoiker], 1936 (Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam, ehemals Sammlung E. James), Ausstellungsansicht Hamburger Kunsthalle 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Salvador Dalí, Mae West Lips Sofa [Mae-West-Lippensofa], 1938 (Entwurf: Salvador Dalí, Ausführung: Green & Abbott); Cat’s Cradle Hands Chair [Fadenspiel-Hände-Stuhl], um 1936 (Entwurf: Salvador Dalí, Schnitzereien: John English, weitere Künstler: Edward James) (Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam, ehemals Sammlung E. James); Salvador Dalí, Lobster Telephone or Aphrodisiac Telephone [Hummer-Telefon oder Aphrodisisches Telefon], 1938 (Entwurf: Salvador Dalí, Ausführung: Green & Abbott) (West Dean College, Teil der Edward James Foundation, ehemals Sammlung E. James), Ausstellungsansicht Hamburger Kunsthalle 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • René Magritte, La jeunesse illustrée [Die illustrierte Jugend], 1937; Au seuil de la liberté [An der Schwelle zur Freiheit], 1930; Le modèle rouge III [Das rote Modell III], 1937 (alle: Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam, ehemals Sammlung E. James), Ausstellungsansicht Hamburger Kunsthalle 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • René Magritte, La reproduction interdite [Reproduktion verboten], 1937; La maison de verre [Das Glashaus], 1939 (alle: Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam, ehemals Sammlung E. James), Ausstellungsansicht Hamburger Kunsthalle 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Dorothea Tanning, Avatar, 1947 (Privatsammlung, ehemals Sammlung E. James), Ausstellungsansicht Hamburger Kunsthalle 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Leonora Carrington, Portrait of the Late Mrs. Partridge [Porträt der verstorbenen Mrs. Partridge], 1947, Öl auf Holz, 100,3 x 69,9 cm (Ehemals Sammlung Edward James, Privatsammlung) © VG Bild-Kunst, Bonn 2016.
  1. "Ohne Titel (Birdbox [Vogelkasten])", um 1948
  2. Die Dokumente stammen sowohl aus dem Edward James Foundation wie der National Gallery of Scottland, Edinburgh, wo die ganze Sammlung Keiller (incl. Bibliothek) sowie die Bibliothek und das Archiv von Roland Penrose verwahrt wird.
  3. Genauer war er der Sohn eines amerikanischen Minen- und Eisenbahn-Millionärs William und der adeligen Schottin Evelyn James. Sein Taufpate war König Edward VII., der vielleicht auch sein biologischer Großvater war.
  4. Dawn Ades, Die Sammlungen des Surrealismus, in: Ausst.-Kat., S. 15–25, hier S. 23.
  5. In der Hamburger Schau wird das Gemälde im Art Institute von Chicago durch die frühere Fassung „Au seuil de la liberté [An der Schwelle zur Freiheit]“ (1930) „vertreten“.
  6. Zitiert nach Ausst.-Kat., S. 8.
  7. Zu den wichtigsten Surrealisten-Freunden von Roland Pennrose zählten: Max Ernst und dessen Frau Marie-Berthe, Paul Éluard, Jean Hélion und Wolfgang Paalen.
  8. Zu den wichtigsten Leihgebern zählte auch Edward James. Darüber hinaus steuerten die Surrealisten selbst Kunstwerke ihrer Kollegen bei, wie Annabelle Görgen-Lammers in ihrem Katalogbeitrag erklärt: Breton, Éluard und Penrose stemmten aus ihren Sammlungen den größten Anteil. Dazu lieh Ernst ein Werk von Penrose und Arp, Seligmann einen Arp und Ernst, Mesens gab wie Gala Dalí ein Magritte-Gemälde, Hugnet ein Arp-Werk, Paalen wiederum einen Hugnet und Man Ray lieh Arbeiten von Duchamp ... Siehe Annabelle Görgen-Lammers, Wunderbares entdecken, sammeln, inszenieren – verkaufen, in: Ausst.-Kat., S. 27–41, hier S. 31.
  9. Zitiert nach Ausst.-Kat., S. 188.
  10. Siehe Anthony Penrose, Roland Penrose – Der stille Sammler, in: Ausst.-Kat., S. 197–203, hier S. 203.
  11. Zuerst in den New Burlington Galleries und dann in der Whitechapel Art Gallery ausgestellt.
  12. Sie ging die erste größere Publikation von Penrose über den Spanier, „Portrait of Picasso“, voraus, die im Oktober 1956 eine von ihm kuratierte Ausstellung mit dem Titel „Picasso Himself“ am Institute of Contemporary Arts begleitete. Siehe Ausst.-Kat., S. 194.
  13. Darüber hinaus verschrieb sie sich noch einer jungen Generation britischer Künstler, die sie ankaufte wie Francis Bacon, Richard Long, Gilbert & George, Barry Flanagan und Ian Hamilton Finlay. Außereuropäische Kunst hingegen interessierte sie nicht.
  14. Zitiert nach Ausst.-Kat., S. 170.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.