Die Gallerie dell'Accademia di Venezia zeigt 2022 eine große Retrospektive von Anish Kapoor, jenem bekannten britischen Künstler, dessen Werke mit den Grenzen und der Materialität der sichtbaren Welt experimentieren. Kapoor gelingt es, mit seinen Skulpturen die Betrachtenden zu emotionaler Interaktion anzuregen. Der zweite Teil der Ausstellung im historischen Palazzo Manfrin (Stadtteil Cannaregio) vervollständigt diesen Überblick mit einer weiteren wichtigen Auswahl großformatiger Werke, die sich jeder traditionellen Definition entziehen.
Italien | Venedig: Gallerie dell'Accademia
20.4. – 9.10.2022
Anish Kapoor zeigt in den Gallerie dell'Accademia eine Reihe grundlegender Werke, von frühen Skulpturen aus Pigmenten wie „1000 Names“ über Arbeiten über die Leere bis hin zu nie zuvor ausgestellten Skulpturen aus „Kapoor Black“. Der Künstler entwickelte mit einer innovativen Nanotechnologie ein Material, das mehr als 99,9 % des sichtbaren Lichts absorbiert. Arbeiten wie „Descent into Limbo“ (1992–2016) und „Void Pavilion V“ (2018) schlucken das Licht und verschwinden gleichsam vor den Augen des Publikums – um kurz darauf als Körper wieder zu erscheinen. Neben diesen außergewöhnlichen Werken werden erstmals Kapoors jüngste Gemälde ausgestellt, die sowohl mit der historischen Kunstsammlung der Galerien als auch mit seiner eigenen skulpturalen Sprache in einen dynamischen Dialog treten. Darüber hinaus begeht Kapoor das „Sakrileg“, indem er auf die Wände schießt, und die Struktur der Galerien verändert.
Die Oberfläche der Objekte als Schleier zwischen Innen- und Außenwelt war schon immer ein entscheidender Aspekt in der Praxis des Künstlers. In den Gallerie dell'Accademia transportieren die mit Kapoor Black geschaffenen Skulpturen diese Dynamik in ein radikal neues Terrain. Auf mysteriöse Weise tauchen in einer weiteren Serie schwarzer Arbeiten auf, die die Wände des Museums durchdringen und die Dunkelheit als physische und psychische Realität weiter erforschen. In diesen Arbeiten schlägt Anish Kapoor das Motiv der Falte in der Renaissance-Malerei als Zeichen des Seins wieder an: Durch die Aufhebung der Kontur und der Grenze wird die Möglichkeit geboten, beide zu überwinden. Das Haut- und Faltenmotiv wird durch das spektakuläre „Pregnant White Within Me“ (2022) weiter erforscht, eine gigantische Ausbuchtung, die die Architektur des Ausstellungsraums erweitert und eine Neudefinition der Grenzen zwischen Körper, Gebäude und Körper nahelegt.
Mit der neuen, monumentalen Arbeit „Mount Moriah at the Gate of the Ghetto“ (2022) beginnt der Ausstellungsrundgang am zweiten Ausstellungort. Das Werk ragt von der Decke der Eingangshalle herab, wurde es doch speziell für die teilweise renovierten Räume des Palazzo Manfrin geschaffen. Diese tropfende Masse aus Silikon und Farbe führt die Besucher durch ein Labyrinth von Räumen mit einem Triptychon aus ebenso sprudelnder Silikonfarbe, „Internal Objects in Three Parts“ (2013–2015) sowie vielen zentralen Werken in Kapoors langer und erfolgreicher Karriere, einschließlich dem ikonischen Pigment-Objekt „White Sand Red Millet Many Flowers“ (1982)
Kapoor installierte hier auch eine Reihe von Spiegelarbeiten, welche die Erwartungen des Betrachters an das, was reflektiert wird, umwerfen und verzerren. Assoziationen von Himmel, Hölle, Erde und Meer werden heraufbeschworen in großformatigen, mechanisierten Werken wie den wirbelnden roten Wassern von „Turning Water Into Mirror, Blood Into Sky“ (2003) und „Destierro“ (2017). Für Kapoor ist Farbe eine Bedingung, welche die Betrachtenden in das Gewicht ihrer Sättigung eintauchen lässt und es ihnen ermöglicht, ihr Transformationspotenzial zu erkennen. Die Schattierungen des venezianischen Lichts kommen durch ätherische und geometrische Arbeiten ins Spiel, die in natürlichen Alabaster geschnitzt sind, während das lagunenblaue Pigment der ersten leeren Halbkugeln von Kapoors ersten leeren Halbkugeln zur Meditation einlädt.
In den anderen Räumen sind die in den Gallerie dell'Accademia angesprochenen Themen mit Momenten der Spiritualität und mit Übergangsriten verbunden. Alle Wege führen zur zentralen Installation einer untergehenden (oder aufgehenden) Sonne, die über einer Masse leblosen roten Wachses schwebt, während sie sich auf dem Boden des Palazzo Manfrin sammelt und dieses historische Gebäude in die ursprüngliche Substanz von Leben und Tod taucht.
Kuratiert vom Kunsthistoriker Taco Dibbits, Direktor des Rijksmuseums in Amsterdam.
Quelle: Gallerie dell‘Accademia