Medardo Rosso, Krankes Kind
Das mumok widmet 2024/25 dem vielschichtigen Werk des Italieners Medardo Rosso (1858–1928) – und bringt dafür eine exquisite Reihe moderner und zeitgenössischer Skulpturen und Plastiken nach Wien. Rosso lebte ab 1889 für drei Jahrzehnte in der Kunstmetropole Paris. Dort strebte er eine radikale Modernisierung der Bildhauerei an, indem er seine Werke „belebte“, anstatt seine Figuren statuarisch zu fixieren. Dieser Eindruck, französisch impression, rückt Medardo Rosso in die Nähe des Impressionismus, ohne ihn jedoch zu einem Vertreter dieser Kunstrichtung zu machen. Immerhin gelang es ihm mit seiner Büste der „Portinaia“ (MoMA, New York) von 1883/84 erstmals, einen „Moment des realen Lebens“ einzufangen, indem er die Gipsbüste mit Wachs überzog und sich so der Unschärfe bediente.1 Wie es dem Künstler gelang, den Eindruck von Zufall und Bewegung zu erzeugen und welche weitreichenden Auswirkungen sein serielles Arbeiten auf die Skulptur des 20. Jahrhunderts hatte, ist Thema dieser Ausstellung.
Österreich | Wien: mumok
19.10.2024 – 23.2.2025
„Es gibt keine Malerei, es gibt keine Plastik, es gibt nur ein Ding, das lebt!“2
Im Erdgeschoss überzeugt die Schau mit einer großzügigen Auswahl an Plastiken Rossos, die auf originalen Jugendstil-Stelen präsentiert werden. Hier zeigt sich die Innovationskraft des Bildhauers, die sich vor allem auf formale Lösungen bezieht aber auch auf Präsentationsstrategien, wie die Konstruktion von Vitrinen und ihre Beleuchtung mit elektrischem Licht. Ursprünglich, so die Kuratorin, hatte Rosso über jeder Vitrine zwei Glühbirnen installiert, um die perfekte Ausleuchtung seiner Werke zu garantieren. Zur Jahrhundertwende ein spektakuläres Vorgehen! Rossos innovativer Umgang mit Materialien, Guss- und Modellierprozessen treffen auf ein Werk von Auguste Rodin. Von diesem lernte der gebürtige Italiener das Fragment zu schätzen (mit Blick in die ägyptisch-griechische Abteilung des Louvre) und den Werkprozess an der „Haut“ sichtbar werden zu lassen (Sichtbarkeit von Bearbeitungsspuren statt Ziselierung und Patina). Neu an Rossos Werk ist - und das belegen die ausgesuchten Exponate eindrücklich -, dass er sich nun einer neuartigen Wiedergabe von Bewegung und flüchtigen Eindrücken hingibt, während der ältere Bildhauer dies noch mit Bewegungsdarstellung wie der Schrittstellung und der Körperhaltung tat. Medardo Rosso ist der Meister der Unschärfe!
„Alles bewegt sich. Alles lebt. Sie werden nie ein Pferd mit vier Beinen, noch zwei oder mehr Effekte zur gleichen Zeit sehen.“3
Einige „Wellen“ an Vitrinen voller Fotografien des Bildhauers leiten vom Eingang zu diesem plastischen Werk hin. Medardo Rosso entschied sich 1906 keine neuen Motive mehr aufzunehmen, sondern an seinen bereits entwickelten 40 Sujets kontinuierlich weiterzuarbeiten. Dies führt zu Kunstwerken voller Selbstbezüglichkeit – sowohl in der Plastik als auch in der Fotografie. So lichtete der Bildhauer seine Werke immer wieder ab und experimentierte mit Blickwinkeln, Farbigkeit oder Bildschärfe, vergrößernde oder verkleinernde Re-Fotografien oder Modulationen der Licht- und Tonwerte.4 Er zeichnete in die Abzüge hinein und erprobte mögliche Veränderungen in der Fläche. Doch Medardo Rosso machte aus dieser Praxis kein Geheimnis: Ab 1902 stellte er einige seine fotografischen Inszenierungen neben den Plastiken aus. Im mumok trennt heute ein mit Aluminium beschichteter, und dennoch durchsichtiger Stoff die beiden Sphären. Während man im abgedunkelten Bereich der Fotografie steht, entfalten die Plastiken in der zweiten Raumhälfte bereits ihre Kraft. Der Vorhang bricht das Licht wie ein Schleier, vergleichbar den Wachsschichten an Rossos Plastiken oder auch der Beschichtung von Glasnegativen und Papier im Prozess der Fotografie.
„Rosso ist schwer zu fassen: eine exzentrische Schwellenfigur zwischen Verismus, Symbolismus, Impressionismus, Futurismus, mit Anklängen an Dadaismus und Surrealismus sowie einem widerständigen Œuvre, dessen elliptische Selbstwiederholungen Vorstellungen von linearer Entwicklung unterlaufen und das Orientierungspunkte wie ein ikonisches Hauptwerk vermissen lässt“5, so die Kuratorin der Schau, Heike Eipeldauer.
Mit diesem modernen Ansatz – vergleichbar mit dem malerischen und druckgrafischen Werk von Edvard Munch – etablierte sich Medardo Rosso als „Künstler für Künstler:innen“. Dennoch hat die kunsthistorische Forschung im deutschsprachigen Raum den Bildhauer über Jahrzehnte stiefmütterlich behandelt. Erst seine Aufnahme in der Ausstellung zu impressionistischen Skulptur im Städel 2020 (→ Frankfurt | Städel: Impressionismus und Skulptur) lenkte die Aufmerksamkeit des Publikums erstmals wieder auf Rosso. Heike Eipeldauer hingegen hat das „Rosso-Fieber“ schon vor über zehn Jahren ergriffen. Seither forscht die Kuratorin zum ambivalenten Werk des Italieners.
Ausgangspunkt für Eipeldauers Ausstellungskonzept ist die Ausstellungspraxis des Künstlers: Er präsentierte seine Werke stets im Dialog mit Werken anderer (Rodin, Michelangelo Buonarroti, Andrea del Verrocchio), auch aus anderen Epochen (Antike und Renaissance) und Kulturkreisen. Die im mumok an der Wand präsentierten Bronzen von fremder Hand, darunter Rodins „Torso“ (1889 gegossen) sowie Kopien von Antiken wie dem verfremdeten Porträt des „Vitellius“, dienten Rosso als Vergleich zu seinen eigenen Arbeiten. Wie Eipeldauer nachweisen kann, stellte der Bildhauer 1905 im Kunstsalon Artaria 23 Werke aus, darunter neun (!) „pezzi di paragone“6, die nicht von ihm selbst stammten. Interessanterweise verortete sich Medardo Rosso selbst in der Nachfolge von Malern wie Rembrandt van Rijn, Diego Velázquez, Francisco Goya oder William Turner.7
Im O2 entfaltet sich der Parcours als Dialog von Medardo Rosso mit etwa 60 anderen Künstler:innen. Seine Plastiken treffen auf Werke von Zeitgenoss:innen wie Eugène Carrière, Edgar Degas oder Loïe Fuller, aber auch auf jüngere Positionen mit Schwerpunkt auf den 1960er, 1970er und 1990er Jahren bis zur Gegenwart. Heike Eipeldauer fasst in sieben Kapiteln zusammen, welche künstlerischen Aussagen Rossos die Geschichte der Skulptur bis heute bewegen.
Zu den Prinzipien Medardo Rossos gehörte zuvorderst, dass er, und nur er die Plastik mit eigenen Händen gestaltete. Mit dieser Haltung wandte er sich von Rodin ab, der einen Mitarbeiterstab von bis zu 100 Personen für die Herstellung und Vervielfältigung seiner Skulpturen und Plastiken beschäftigte. Doch damit nicht genug, begann sich der Künstler ab 1900 in halböffentlichen Performances in seinem Atelier während des Gussprozesses im Wachsausschmelzverfahren als Handwerker, als Arbeiter und als Gott Vulkan zu inszenieren.8 Diese Aufführungen vor ausgewählten Gästen müssen so beeindruckend gewesen sein, dass George de Lys und André Ibels ihm in „L’Arantelle, roman d’art“ (1908) ein literarisches Denkmal setzten:
„Welche Kraft! Er ist von Ausdünstungen umgeben, an denen zehn Männer ersticken könnten; aber er scheint sein Element zu atmen. Er ist Polyphem, Vulkan, er ist eher ein Riese und ein Ungeheuer als mein Freund, nicht wahr?“9
In der Bildhauerei des 19. Jahrhunderts war genau das, die monumentale, heroische Denkmalkunst, die wichtigste und ehrenvollste Aufgabe im öffentlichen Raum. Nicht nur Rodin, sondern auch Rosso sollten immer wieder daran scheitern. Stattdessen schuf Medardo Rosso Kleinbronzen für die bürgerliche Sammlung, die in Kleinserien entstanden und den Entstehungsprozess „auf der Haut“ tragen: Fingerabdrücke sowie Spuren von Messer oder Modellierstab offenbare das Kunstwerk als ein Gemachtes fernab naturalistischer Wiedergabe.
Medardo Rossos „Rieuse“ (1890) steht in mehreren Versionen Edgar Degas’ Plastik „Petite Danseuse de quatorze ans“ (1878–1881) gegenüber, während Loie Fuller sich am Monitor ewig im Kreis dreht. Leben und Skulptur, Performance und Tanz verbindet Senga Nengudi ab Mitte der 1960er Jahre in Zusammenhang mit dem Black Arts Movement in Los Angeles und der italienische Arte-povera-Künstler Giovanni Anselmo versetzt ein einfaches, „armes“ Objekt durch Eindrehens an der Wand in permanente Spannung. Bewegung, Spannung und ein sich Abarbeiten am immer gleichen Themenkomplex verbindet Rosso mit seinen Zeitgenoss:innen und Kolleg:innen.
Medardo Rossos skulpturale Praxis stand im größtmöglichen Gegensatz zum Denkmalkult des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Als Italiener in Paris war er zudem von Aufträgen in Frankreich ausgeschlossen. In Italien wurden seine Wettbewerbseinreichungen aber ebenso zurückgewiesen, seine Grabmalskulpturen entzündeten Debatten und skandalisierten bis zu ihrer Entfernung.
Der „Bookmaker“ (1894) schwankt vielleicht im Alkoholdelirium? „La conversazione“ (ca. 1899?), ein Zusammentreffen im Salon, erscheint wie eine längst verblasste Erinnerung. Keine dieser Skulpturen hätte es auf den Denkmalsockel geschafft. Nicht nur seine Vorliebe für Menschen des Alltags, sondern auch seine Entscheidung für die damals als kunstunwürdig geltenden, weniger beständigen, „armen“ und zugleich erschwinglichen Materialien machen seine Werke heute zu fragilen Preziosen. Wachs und Gips waren und sind Teil des Werkprozesses und garantieren keine Dauerhaftigkeit. Gleichzeitig kommen sie dem Kunstwollen Rossos entgegen, wenn dieser zur Formauflösung drängt. Dass sich dahinter auch eine politische Überzeugung verstecken kann, zeigt ein Hinweis des symbolistischen Autors Jehan Rictus. Ihm zufolge verstand sich Medardo Rosso als „europäischer Anarchist“10. Motive und Materialwahl greifen Hand in Hand, wenn man bedenkt, dass Medardo Rosso in seinem Œuvre mit Vorliebe Frauen und Kinder, Alte und Kranke, Vertreter:innen einfacher Berufe11 darstellt.
Auf das Schwanken des „Bookmakers“ reagiert „Pipe Prop“ (1969) von Richard Serra. Die zu einem Stab zusammengerollte Bleiplatte wird zu Ausstellungsbeginn an die Wand gelehnt und hängt im Laufe der Zeit in der Mitte immer mehr durch. Die Schwerkraft formt das Schwermetall, Zeit, Ortsbedingungen und Masse schreiben sich in das Werk ein. Damit betont Serra den (unabschließbaren) Prozess der Werkgenese und -rezeption. Nicht menschliches Tun (in Form einer Heldentat), sondern die Welt selbst schafft die Form.
Medardo Rossos Beziehung zu Auguste Rodin war kompliziert, gelinde gesagt. Anfangs bewunderte der Italiener den älteren Bildhauer, der in den 1890er Jahren die Pariser Kunstszene dominierte. Die beiden tauschten Werke aus, bis die Kunstkritik begann, Rodin vorzuwerfen, er habe sich am Konzept Rossos bedient. Auslöser für die nun folgende Debatte und das Zerwürfnis zwischen den Künstlern war Rodins Entwurf für eine posthumes Denkmal für Honoré de Balzac, das 1898 enthüllt wurde. Rodin ließ seine Schöpfung von Edward Steichen kongenial bei Mondschein in Szene setzen. Im Vergleich dazu beschäftigte sich Rosso mit den Möglichkeiten des fotografischen Ablichtens und Inszenierens seiner Werke, was wiederum einen Einfluss auf Constantin Brancusi gehabt haben dürfte.
Ross und Reiter bildeten jahrhundertelang die Basis für Herrscher:innen-Porträts. Dass ein solches im Werk Medardo Rossos kaum vorstellbar ist, dürfte aus dem hier bereits Geschilderten deutlich werden. Dennoch pries Guillaume Apollinaire im Juli 1918 den Italiener nicht nur als den „größten lebenden Bildhauer“, sondern lässt uns an seinen (vermeintlichen) Gedanken teilhaben: Er, Rosso, denke darüber nach, die Figur eines Pferdes zu modellieren12! Wirklich? Heike Eipeldauer interpretiert diese geheimnisvolle Sequenz als Reaktion des Autors (mehr als des Bildhauers) auf den Ersten Weltkrieg und stellt ihm Raymond Duchamp-Villons mechanoides, kubistisches „Le Cheval [Pferd]“ (1914) gegenüber. Duchamp-Villon aber auch die Futuristen Giacomo Balla und Umberto Boccioni bewunderten Rosso als Pionier der Zeitwiedergabe. Marinetti erklärte ihn sogar zum Pionier des Futurismus, was Medardo Rosso jedoch zurückwies.
Im Zentrum dieses Kapitels der Intimität steht die Plastik „Aetas aurea“ (1886), die Medardo Rossos Ehefrau Giuditta Pozzi mit dem etwa einjährigen Sohn Francesco zeigt. Mutter und Kind verschmelzen wahrlich zu einer Einheit. Wiederhall findet diese Komposition in Arbeiten von Eugène Carrière, der vermutlich selbst eine Bronzeversion der „Aetas aurea“ besaß13, einer Mutter-Kind-Darstellung von Käthe Kollwitz, Louise Bourgeois‘ Installation mit dem bedrohlichen Titel „Child devoured by kisses [Von Küssen verschlungenes Kind]“ (1999) und den fotografisch festgehaltenen „Touchpieces“ (1982–1989) der britischen Bildhauerin Phyllida Barlow.
Im Gegensatz zu ihren älteren Kolleg:innen, die in ihren Werken die gemeinsame Welt beschwören, beschäftigen sich Bourgeois und Barlow kritisch mit der Mutterschaft. Louise Bourgeois verbindet assoziativ das (unkenntliche) Kind mit (unkenntlichen) Stofftieren, die an Gedärm erinnern. Als französische Muttersprachlerin in New York hat die Künstlerin ihre Kinder „zum Fressen gerne“ und setzt die Objektkünstlerin die Doppeldeutigkeit von „devoured“ für „verschlingen“ bzw. „ineinander winden“ in komplexes Sprach-Bild um. Phyllida Barlow hingegen thematisiert die Doppelbelastung als Künstlerin und Mutter. Da sie neben ihren fünf Kindern nur nachts Zeit zum Arbeiten hatte, schuf sie ihre Werke im Dunkeln. Sie ertastete die Materialien und fügte sie zu einer großen Umarmung zusammen. Das Ergebnis klebte die Britin mit Farbe und Leim zusammen und hielt es in Fotografien fest, bevor sie die Objekte wieder auflöste und in einem neuen Prozess in eine andere Form brachte.
„Es sind die Ränder – wie er die Ränder des Werks findet / ohne sich einer festen Kontur zu unterwerfen – die Werke erobern den Raum, der sie umgibt / aber mit List, sie schleichen sich in das Territorium ein, das wir besetzen, und scheinen beunruhigend lebendig zu sein […].“14 (Phyllida Barlow über Medardo Rosso)
Von 1906 bis zu seinem Tod 1928 arbeitete Medardo Rosso seriell. Das heißt, er fügte seinem Werk keine neuen Motive mehr hinzu, sondern überarbeitete, interpretierte und formulierte bereits Gefundenes neu. Der „Enfant juif“ (1893) steht stellvertretend für diese Arbeitsweise des Künstlers und ist die am häufigsten wiederholte Figur in seinem Werk. Obwohl Rosso mechanische Gussverfahren einsetzte, baute er in seine Wiederholungen Variationen ein. Die Abweichungen zeigen sich in der Serie im Material, in der Farbigkeit und Oberflächengestaltung sowie in der Blickrichtung, der Nackenhaltung und der Neigung des Kopfes. „Enfant juif“ wurde so zu einem Markenzeichen des Italieners.
Sherrie Levine griff die Idee der Wiederholung auf, als sie „Cathedral: 1–9, After Monet“ (1995) schuf. Sie eignete sich die berühmte, 33-teilige Serie von Claude Monet (1892–1894) an, ohne jedoch die Farbqualität der Originale zu berücksichtigen. Die etwas flauen Schwarz-Weiß-Abbildungen zeigen die Kathedrale von Rouen aus leicht unterschiedlichen Blickwinkeln, während sie Monet auch zu verschiedenen Tageszeiten und bei unterschiedlicher Beleuchtung malte. Auf diese Möglichkeit der fotografischen Reproduktion – verstärkt durch die Verbreitung in den Massenmedien – reagierte Andy Warhol in seiner Serie „Death and Disaster“, indem er Bilder von Unfällen in den Medien aufgriff und mittels Siebdrucktechnik unzählige Maler auf einer Leinwand wiederholte. Die Wiederholung stumpft ab, Tod und Katastrophe werden zum Spektakel und Kunstwerk stilisiert.
Medardo Rosso legte so viel Wert auf die bestmögliche Inszenierung seiner Skulpturen, dass er mit Sockeln, selbst entworfenen Glasvitrinen und Beleuchtung arbeitete. Seine „gabbie [Käfige]“ erinnern auffallend an die Käfige von Alberto Giacometti und Francis Bacon. Der Bildhauer wollte die Körperlichkeit der Skulptur zugunsten einer flächigen Wirkung verändern und gab ihr deshalb einen Rahmen. Zugleich, so Eipeldauer, zeigt er dem Publikum damit den „skulpturalen Um-Raum – Licht und Luft – im Käfig als integralen Bestandteil der Skulptur“15. Der Wiener Kunstkritiker Ludwig Hevesi fühlte sich angesichts dieser Inszenierung von Skulpturen in „Käfigen“ gar an die Versuchstiere im Labor von Louis Pasteure erinnert:
„Es sind Reihen von viereckigen gläsernen Käfigen, in deren jedem ein seltsames Gebilde gefangen ist. Sie erinnerten mich an eine Abbildung von Pasteur’s Laboratorium, wo die unglücklichen Versuchsthiere, mit den schrecklichsten Sachen geimpft, so in Glaskäfigen aufgereiht waren. Jeder Käfig ist auf einen bestimmten Sehwinkel des Beschauers eingestellt […]. Und über jedem Käfig sind ein oder zwei Glühlampen mit Schirmen angebracht, so daß jeder Gegenstand die für ihn vortheilhafteste, ja einzig mögliche Beleuchtung hat.“16
„Wir existieren nicht! Wir sind nichts als Lichtspiele im Raum. Mehr Luft, mehr Licht, mehr Raum!“[/note]Rosso, More air, more light, more space!, in: Margherita Sarfatti, Segni colori, luci, hg. v. Nicola Zanichelli, Bologna 1925, zit.
nach: Medardo Rosso. Works and Collected Writings, hg. v. Gloria Moure (Ausst.-Kat. Mapfre, Madrid), Madrid 2023, S. 303–311, hier S. 318.[/note]
Als sich Medardo Rosso Anfang der 1890er Jahre in Paris niederließ, waren Pointillismus und Postimpressionismus bereits auf dem Vormarsch. Einer der wichtigsten Maler, der den Bruch mit dem Impressionismus vorantrieb, war der jung verstorbene Georges Seurat (→ Georges Seurat, Erfinder des Pointillismus). Er liebte es, mit tiefschwarzer Kohle auf Ingres-Papier zu zeichnen, wodurch er ein fast leonardeskes Sfumato erreichte. Das Papier, Seurat bearbeitete bevorzugt die rauhe Seite, erzeugt quasi durch die Erhebungen die Pünktchen, ohne dass er sie auftragen musste. So erscheint Seurats Liegender in der mumok-Ausstellung wie ein nachtschwarzer Fleck im Grau der Landschaft.
Mit „Ecce Puer [Seht das Kind]“ (mumok) fügte Medardo Rosso Anfang 1906 seinem Werk eine letzte Komposition hinzu. Das Porträt zeigt Alfred William Mond, den sechsjährigen Sohn eines britischen Sammlers. Rossos Schwiegertochter Tilde berichtete, der Junge habe sich bei einer eleganten Hausparty hinter einem Vorhang versteckt und die Erwachsenen beobachtet. Der Bildhauer selbst zog es vor, sich an die Sonnenstrahlen zu erinnern, die das Gesicht des Kleinen umspielten.17 Rosso nahm dies als Ausgangspunkt für seine Darstellung des Knaben: tiefe Furchen und Rillen ziehen sich über die gesamte Länge der linken Seite.
Im mumok ergänzen Kunstwerke von Constantin Brâncuși (Künstler-Fotografien), Amedeo Modigliani, Maria Lassnig, Marisa Merz, David Hammons, Erin Shirreff die Reflexion über Medardo Rosso. Brâncușis Begeisterung für die Fotografie ist bereits angeklungen. Hier kann man nun die Inszenierungsstrategien des Rumänen nachvollziehen und ein originales Werk in seiner heutigen neutralen Präsentation betrachten. Zweifelsohne ist eine Ausstellung im Sinne und im Stil von Brâncuși heute nicht mehr machbar. Dennoch belegen die Abzüge eindrucksvoll, wie sich der Bildhauer eigentlich wünschte, dass sein Werk mit dem reich strukturierten Umfeld interagiert.
Zu den überraschendsten und beeindruckendsten Merkmalen der Skulpturen von Medardo Rosso gehört die Auflösung der Form. In immer neuen Varianten und Versionen trieb der Bildhauer die Entkörperlichung seiner Objekte auf immer neue Höhen. Der sich kaum manifestierende Eindruck, das Zufällige fanden so Eingang in die Kompositionen. Den Schritt zur Abstraktion hat Rosso jedoch nie vollzogen.
Genau diesen Aspekt - die Tendenz zur Formlosigkeit - thematisiert die Kuratorin am Ende der Schau. Hier flankieren unter anderem Werke von Robert Morris („Feltwork“), Lynda Benglis („Fallen Painting“), Eva Hesse, Yayoi Kusama oder Alina Szapocznikow Medardo Rossos „Malato all’ospedale“ (1898). Höhepunkt und Abschluss der Präsentation bildet jedoch die Serie „Enfant au sein“ (1890)! Man muss den Titel kennen, um die Ikonografie dieser Werke zu entschlüsseln. Medardo Rosso hatte an einer Mutter-Kind-Darstellung gearbeitet, aber um 1895 beschlossen, den Kopf der Mutter zu entfernen. Übrig bleiben das Baby, eine Brust, Arme und Hände, runzelige Haut. Diese sind, ebenso wie die körperlose Darstellung des mütterlichen Oberkörpers, kaum zu entdecken. Auf atemberaubende Weise verwandelt der Bildhauer die Menschen in eine zerklüftete Landschaft. Um die Darstellung über den Sockeln schweben zu lassen, hat Rosso sein Werk mit Abstandshaltern montiert. Mit jeder neuen Version scheint es mehr in sich selbst zu versinken, bis es fast vom Sockel rutscht.
„Ich war noch jung, als ich verstand, dass nichts im Raum stofflich ist, denn alles ist Raum und somit ist alles relativ. Die Philosophie von Professor Einstein brauchte ich dazu nicht. Ich sagte das schon vor [18]83.“18
Von Medardo zu Medardo zurück: Die Ausstellung endet mit diesem Raum erstaunlicher Plastiken, gerahmt von Zeichnungen des Bildhauers. Die äußerst gelungene Schau führt Medardo Rosso dem deutschsprachigen Publikum in einer Intensität und Dichte vor, wie es kaum besser vorstellbar wäre. Was in anderen Schauen - nämlich das Arbeiten in Serie - schnell ermüdet, erfährt hier durch die Konfrontation mit anderen Positionen eine Aufwertung. Was Medardo Rosso als Künstler umtrieb, wird durch zeitgenössisches skulpturales Arbeiten aktualisiert. Damit findet Medardo Rosso hoffentlich jenen Platz in der Kunstgeschichtsschreibung, der ihm gebührt!
Giovanni Anselmo / Guillaume Apollinaire / Francis Bacon / Nairy Baghramian / Olga Balema / Phyllida Barlow / Lynda Benglis / Louise Bourgeois / Anton Giulio Bragaglia / Constantin Brâncuși / Eugène Carrière / John Chamberlain / Honoré Daumier / Edgar Degas / Raymond Duchamp-Villon / Luciano Fabro / Loïe Fuller / Isa Genzken / Alberto Giacometti / Robert Gober / David Hammons / Eva Hesse / Jasper Johns / Hans Josephsohn / Ellsworth Kelly / Käthe Kollwitz / Yayoi Kusama / Maria Lassnig / Sherrie Levine / Matthijs Maris / Marisa Merz / Amedeo Modigliani / Robert Morris / Juan Muñoz / Senga Nengudi / Carol Rama / Auguste Rodin / Richard Serra / Edward Steichen / Georges Seurat / Erin Shirreff / Alina Szapocznikow / Paul Thek / Rosemarie Trockel / Hannah Villiger / Andy Warhol / Rebecca Warren / James Welling
Kuratiert von Heike Eipeldauer, mit einem Ausstellungsdisplay von Florian Pumhösl.
Die Ausstellung, die in enger Zusammenarbeit mit dem Medardo Rosso Estate entsteht, wird im Anschluss an das mumok im Kunstmuseum Basel präsentiert: Basel | Kunstmuseum Basel: Medardo Rosso