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Wien | Oberes Belvedere: Die Sammlung Belvedere von Cranach bis EXPORT „Betriebssystem“ der österreichischen Kunst | 2023–2025

Klimt, Kuss, Detail, 1908/09, Öl/Lw (Belvedere)

Klimt, Kuss, Detail, 1908/09, Öl/Lw (Belvedere)

Mehr als 500 Jahre österreichische Kunstgeschichte im Oberen Belvedere unter einem Dach. Die Neuaufstellung der Sammlung ist mehr als ein Überblick zur Stilentwicklung von Malerei und Skulptur, sondern thematisiert Künstler:innen in ihrem kulturellen und politischen Umfeld. Vom Mittelalter bis in die 1970er Jahre führt der Rundgang über völlig neu eingerichtete Räume – Neuentdeckungen inklusive!

Rueland Frueauf, Franz Xaver Messerschmidt, Ferdinand Georg Waldmüller, Helene Funke, Gustav Klimt, Anton Prinner, Maria Lassnig: Die neue Sammlungspräsentation im Oberen Belvedere betrachtet Kunst aus Sicht der Kunstschaffenden. Beeinflusst durch das politische und soziale Umfeld, Migration und andere Umbrüche prägten Künstler:innen ihre Zeit – und spiegelten sie wider.

Für das Jahr 2023 gestaltete das Belvedere eine Schausammlung um – passend zum GOLDENEN FRÜHLING, Motto des 300-Jahr-Jubiläums. Ein chronologischer Rundgang führt die Besucher:innen durch 800 Jahre künstlerischer Produktion – vom Mittelalter bis in die 1970er Jahre. Im Fokus steht dabei die Frage nach dem Verhältnis von Künstler:innen und ihrer Zeit: Wie agierten sie im jeweiligen „Betriebssystem“ Kunst? Wie reagierten sie auf Umbrüche und Krisen? Wie liefen künstlerische Werkprozesse ab? Und wie international war Kunst in den verschiedenen Zeiten ausgerichtet?

Mittelalter und Renaissance (1200-1600)

Die ältesten Werke der Sammlung des Belvedere sind Gemälde und Skulpturen des späten 12. Jahrhunderts bis etwa 1600. Stilistisch handelt es sich um Werke der Romanik, der Gotik und der beginnenden Renaissance. Ein zentraler Aspekt der Präsentation 2023 ist der Übergang von anonymer Kunst im Dienst der Religion zu selbstbewusst signierten Werken, die erste Künstlerpersönlichkeiten erkennbar machen.

In den drei Räumen nach dem Carlonesaal entwickelt Björn Blauensteiner einen Rundgang, der alle Gattungen miteinander in Einklang bringt: vom ältesten Kruzifixus der Belvedere-Sammlung zu romanischen Madonnen, von der neuen Gattung Tafelmalerei im Vergleich zur älteren Buchmalerei und vor allem der Glasmalerei (Chorfenster aus der ehemaligen Kreuzkapelle von Stift Rein, um 1406). In der Überschau zeigt sich, dass Kunst um 1400 zweifellos an die religiöse Funktion gebunden bleibt, aber phantasievoller, freier und lebendiger ausformuliert wird. Zunehmend sind Künstler international tätig, auch wenn sie nicht namentlich bekannt sind und daher Notnamen tragen. Die „Internationale Gotik“ kann als „paneuropäischer“ Stil bezeichnet werden, der diese Künstlerwanderungen begünstigt (oder durch sie ermöglicht wird). Zunehmende Wirklichkeitsnähe und Naturbeobachtungen führen zu immer realitätsnaheren Interpretationen der heiligen Geschichten. Teilweise sind die Darstellungen auch einem kräftigen Realismus mit karikaturhaft überzeichneten Figuren verpflichtet.

Um 1450 wird die Tafelmalerei zunehmend zur bestimmenden Bildgattung - und kann verschiedensten Aufgaben erfüllen. Monumentale Flügelaltäre entstehen als typische Bildensembles in Kircheninnenräumen. Der Znaimer Altar (um 1440/45) ist mit seinen Schnitzreliefs und Tafelbilder der Passion Christi ein beeindruckendes Beispiel. Für diese Flügelaltäre arbeiten unterschiedlichste Professionalisten unter der Regie eines entwerfenden Meisters zusammen: Bildhauer, Maler, Tischler aber auch Schlosser. Dies wirft bis heute Frage der Werkstattsorganisation auf. In der kunsthistorischen Forschung werden die Werke einzelnen Meistern zugeschrieben, die entweder nach ihren berühmtesten Werken oder einer Stadt benannt sind: Meister des Albrechtsaltars, Meister von Großlobming, Meister von Großgmain, der Schottenmeister oder Meister der Schottenaltars (vielleicht Hans Siebenbürger?). Gleichzeitig sind aber auch erste Künstlersignaturen nachweisbar, was als Ausdruck künstlerischen Selbstbewusstseins gedeutet werden darf. Conrad Laib aus Schwaben, Michael Pacher, Hans Klocker, Rueland Frueauf d. Ä. (→ Rueland Frueauf d. Ä. und sein Kreis), Urban Görtschacher gehören zu den ersten nachweisbaren Künstlern im heutigen Österreich. Einige der wichtigsten Werke sollen nun erörtert werden.

Der Meister von Großlobming erhielt seinen Notnamen nach der im Belvedere ausgestellten Skulpturengruppe aus dem Ort Großlobming in der Steiermark. Vor allem sein heiligen Georg als Drachentöter (vor 1400) ist ein Paradebeispiel für den sogenannten Schönen oder Weichen Stil. Detailverliebt und Harmonie anstrebend, entwickelte der Meister von Großlobming eine höfisch-elegante, fast Figurengruppe, bei der die Kampfhandlung scheinbar zu einem tänzerischen Spiel wird. Dieser zierlichen Figur des hl. Georg steht die Madonna vom Sonntagberg (um 1360) des Michaelermeisters stilistisch entgegen. Der Anonymus schildert die Himmelskönigin mit weichen S-Schwung, der an die berühmten Trumeau-Madonnen französisscher Kathedralen denken lässt.

Der Meister des Albrechtsaltars ist nach seinem Hauptwerk, dem Albrechtsaltar, benannt – ehemals Hochaltar der Karmeliterkirche Am Hof in Wien (heute Stift Klosterneuburg). Darauf ist König Albrecht II. dargestellt. Der Meister des Albrechtsaltars zählt zu den bedeutendsten Tafelmalern in Österreich nach 1400 und zu den Hauptvertretern des realistischen Stils in der Wiener Malerei. Das Belvedere besitzt drei Tafelbilder (um 1435) vom sogenannten kleinen, tragbaren Albrechtsaltar, dessen ursprünglicher Aufstellungsort unbekannt ist. Sie waren einst als Außentafeln angebracht und überzeugen durch ihre detaillierte Schilderung der Landschaft. Dabei orientierte sich der Meister des Albrechtsaltars an der Malerei der Altniederländer.

Conrad Laibs „Kreuzigung Christi“ (1449) dürfte die Mitteltafel eines Altars aus der Salzburger Franziskanerkirche, der ehemaligen Stadtpfarrkirche, gewesen sein. Die Malerei des Salzburger Malers gilt als bahnbrechend für die realistische Kunstauffassung in Österreich, suchte er sich doch seine Vorbilder in den Werken von Jan van Eyck und Altichiero. Die genaue Datierung ist durch eine Inschrift auf der Goldborte der blauen Satteldecke des Reiters links unter dem Kreuz überliefert: „D. PFENNING. 1449. ALS ICH CHUN“. Der Beisatz „ALS ICH CHUN“ könnte auf den Vornamen Laibs, „chunrad [Conrad]“, anspielen.

Vom Meister des Schottenaltars sind die bekannten Gemälde „Anbetung der Heiligen Drei Könige“ (Sonntagsseite) und „Beweinung Christi“ (Werktagsseite, beide um 1470) ausgestellt, die ursprünglich Teile des ehemaligen Hochaltars der Schottenkirche auf der Freyung in Wien waren (insgesamt 24 Tafeln, 19 davon im Museum im Schottenstift). Die Naturtreue führte hier zu detailreichen Schilderungen und die topografisch getreuen Wiedergaben der  Veduten von Wien und Krems.

Der Einfluss der italienischen Renaissancekunst wird besonders in den Gemälden Michael Pachers spürbar: Die Tafeln „Papst Sixtus II. nimmt Abschied vom hl. Laurentius“ und „Der hl. Laurentius vor Kaiser Decius“ (um 1465) stammen vom Hochaltar der Pfarrkirche zum heiligen Laurentius in St. Lorenzen im Pustertal (Südtirol). Der bedeutende Künstler war als Maler und Bildschnitzer tätig. So beherrschte er es bereits einen bühnenartigen Raum für seine voluminösen Figuren entstehen zu lassen. Wesentliche Anregungen dafür findet Pacher in Italien, vor allem bei Andrea Mantegna. Sein letztes, größtes und bestbezahltes Auftragswerk ist der Salzburger Altar, von dem das Belvedere „Die Vermählung Mariens“ und „Die Geißelung Christi“ besitzt. Die stark beschnitten Bilder werden in der aktuellen Präsentation in der richtigen Höhe gehängt.

In Hans Klocker findet Michael Pacher ein Brixener Pendant in der Skulptur: Die einstigen Schreinfiguren Maria und Josef einer Anbetungsgruppe (um 1485/90) stammen von einem Weihnachtsaltar, der zu den Spezialitäten Klockers gehörte. Richtungsweisend für Klocker waren vor allem die oberrheinischen Kupferstiche des Meisters E. S. und Martin Schongauer|s.

Im Oktogon findet man die Kunst der beginnenden Neuzeit, Renaissance genannt. Auffallend ist nicht nur die bessere Erhaltungssituation, sondern auch der Umstand, dass Kunst zunehmend aus nicht religiösen Gründen geschaffen, erworben und betrachtet wurde. Dadurch rückte die ästhetische Funktion in den Vordergrund, die virtuose Behandlung von Anatomie, Perspektive und Erfindungsreichtum wurden als Qualität von Kunst anerkannt und gefördert. Besonders geschätzte Kabinett- oder Sammlerstücke wie das „Sündenfall“-Relief des Meisters IP oder das Porträt von Rueland Frueauf d. Ä. führend diese zusätzliche Funktion von Kunst besonders deutlich vor Augen.

Das „Bildnis des Malers Jobst Seyfried“ (um 1490) von Rueland Frueauf d. Ä. gehört zu den frühesten identifizierbaren Bildnissen der österreichischen Kunstgeschichte, die signiert sind. Es dürfte wohl in Passau entstanden sein, wo sich Frueauf in den 1480er Jahren niedergelassen hatte. Dort lernte er den hier porträtierten Maler kennen, den er in karminroter Kappe, weißem Hemd und grauem Überrock darstellte. Indem Rueland Frueauf seinen Kollegen porträtierte, schuf er auch ein Denkmal für sich selbst: Stolz signiert er sein Werk über dem Kopf des Dargestellten. Das Bildnis gibt beredt Beispiel zu Wirklichkeitswiedergabe und technischem Können aber auch das erwachende Selbstbewusstsein des Künstlers.

Lucas Cranach der Ältere zeigt mit seinem „Hl. Franziskus“ wie ein etwa 30-jähriger Künstler nach Wien einwandert und neue Ideen mitbringt. Da Cranach nicht Zunftmitglied war, arbeitete er hauptsächlich für Mitglieder der Wiener Universität, die diesbezüglich Privilegien genossen. Neuartig ist die expressiv aufgefasste Naturdarstellung, die sowohl auf eine pantheistische Überzeugung anspielt (Schöpfergott und Natur als Ausdruck Gottes), als auch auf das Naturstudium und den Stellenwert der Empirie in den Wissenschaften.

Die komplexe, weil vielszenige Darstellung der „Susannenlegende“ (um 1520) von Urban Görtschacher zeigt die Entwicklung der Renaissance-Malerei im frühen 16. Jahrhundert. Themenwahl und Ausführung legen nahe, dass dieses Werk als Gerechtigkeitsbild in einem Gerichtsgebäude oder als Tugendbild in einem Privathaus diente. Die auffallende blaue Wegwarte am unteren Bildrand ist Görtschachers Markenzeichen. Für die Gestaltung ließ sich der Kärntner Maler von italienischer und Augsburger Renaissancearchitektur inspirieren. Zudem übernahm er Figuren aus Albrecht Dürer|s Druckgrafiken.

Etwa zur selben Zeit entstand Andreas Lackners Skulpturen der Heiligen Blasius, Rupert und Maximilian (1518) für den Schrein des Abtenauer Hochaltars, den er gemeinsam mit dem Mondseer Maler Ulrich Bocksberger ausführte. Die drei Heiligen markieren einen letzten Höhepunkt gotischer Schnitzkunst in Österreich - erkennbar am expressiven Stil. Für dieses Werk sind der Meister Andreas Lackner aus Hallein und dokumentiert. Die Figuren beeindrucken in ihrem vitalen Ausdruck und im virtuosen Kurvenspiel der reich vergoldeten Ornate.

Barock (1600-1800)

Repräsentation und dramatische Inszenierung, aber auch wirklichkeitsgetreue Darstellungen von Landschaften und Alltagsgegensxtänden kennzeichnen die Kunst des Barock. Wichtige Auftragswerke von aristokratischer und kirchlicher Seite vermitteln bis heute ein vielfältiges Bild dieser Zeit. Unabhängig davon entstehen Franz Xaver Messerschmidts „Charakterköpfe“, die in ihrer Vieldeutigkeit bis heute faszinieren.

Klassizismus und Biedermeier (1800-1850)

Ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert vollzieht sich in Gesellschaft und Kunstauffassung ein Wandel. Die Themen der Malerei werden weniger aus den Ereignissen der Vergangsnheit geschöpft als aus dem Hier und Jetzt mit all den sozialen Gegensätzen in Stadt und Land. Zugleich gewinnt die Naturdarstellung an Bedeutung, beliebte Motive finden sich vor allem in der Bergwelt des Salzkammerguts und um Berchtesgadener Land.

Wien um 1900

Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt sich Wien zu einer Großstadt. Die künstlerische Ausstattung der repräsentativen Ringstraßenbauten beschäftigt zahlreiche Künstler:innen. Dieser Aufschwung führt zur Gründung der Wiener Secession. Bereits damals ist Gustav Klimt der berühmteste Maler Wien, sein Gemälde Der Kuss gelangt schon zu seinen Lebzeiten ins Belvedere (→ Gustav Klimt: Der Kuss (1908/09)). In dieser Zeit gewinnen auch Künstlerinnen immer mehr an Bekanntheit und Ansehen.

Aufbruch in die Moderne (1900-1920)

Die Industrialisierung verändert die Gesellschaft um 1900 tiefgreifend. Höhere Ausbildungsstandards werden notwendig, die Schul- und Ausbildung, bis hin  zum Zeichenunterricht, wird staatlich professionalisiert. Dies beeinflusst auch das Kunstschaffen maßgeblich. Gleichzeitig werden durch die neuen Techniken die Kommunikation und der künstlerische Austausch vereinfacht und beschleunigt. Abzulesen ist diese Tendenz an künstlerischen Netzwerken und Kunstmagazinene wie Der Sturm und Die Aktion.

Formkunst: Grundlagen für Kubismus und Abstraktion

Das 2. Obergeschoss ist völlig neu konzipiert! Formkunst und Internationalität sind die wichtigsten Stichworte für die Neuhängung, in der die Ausstellungstätigkeit des Belvedere der letzten eineinhalb Jahrzehnte eingeflossen ist. Vor allem der von Alexander Klee herausgearbeitete Einsatz geometrischer Formen für den Zeichenunterricht beförderte die Geometrisierung und Formalisierung der modernen Kunst von Gustav Klimt, der Wiener Werkstätte bis hin zur Avantgarde. Gewährsmann für diese Neuausrichtung der Malerei und ungemein bedeutender Lehrer in Dachau und an der Kunstakademie in Stuttgart war Adolf Hölzel. In seinen Kompositionen bewegte sich der Maler zwischen Figuration und Abstraktion, reduzierte er doch die Details auf ein Minimum. Neben Hölzel zeigt das Belvedere ein Spätwerk von Gustav Klimt, eine symbolistisch-geomtrische Landschaft aus Lacroma von Karl Mediz (dessen Ehefrau Emilie Mediz-Pelikan Schülerin von Hölzel in Dachau war) oder des Berliners Walter Leistikow.

Diese Befreiung der Form aber auch die Kunsterziehung in Österreich-Ungarn ermöglichte die Entwicklung sowohl von Abstraktion als auch Kubismus, letzterer besonders von tschechischen Künstlern vertreten. Werke von Otto Gutfreund, Antonín Prochazka, Bohumil Kubista, von Emil Filla und Jószef Csáky bis hin zum Grazer Alfred Wickenburg und dem aus Ungarn stammenden Anton Prinner reflektieren den Aufbau von Figuren mit Hilfe von geometrischen Formen. Der Kunstunterricht, so Alexander Klee, ermöglichte den aus den Habsburgerreich kommenden Kunstschaffenden, in den 1910er Jahren sowohl den analytischen als auch den synthetischen Kubismus in ihr Schaffen zu intergrieren.

Visionär und expressiv

Der Expressionismus und seine Folgen werden in den anschließenden beiden Räumen thematisiert. Monumental in seiner Erscheinung ist Anton Hanak|s Bronze „Der letzte Mensch (Ecce Homo)“ (1917–1924). Der aus Brünn stammende Künstler überarbeitet seine Figur sieben Jahre lang, um Ausdruck und Emotionalität zu steigern. Hanak konzentriert sich ganz auf Körper, Haltung, Gesichtsausdruck und Hände. Er selbst meint: „Sehe den Menschen! Haltlos nach oben, haltlos nach unten, ohne jede Kraft, rings um ihn ist alles leer.“ Wie auch Egon Schiele, mit dem der Bildhauer befreundet ist, interessiert sich Hanak für den Menschen und sein Seelenleben. Der ausgezehrte Körper spiegelt das Innerste nach außen. Gleichzeitig erfindet Hanak ein überzeugendes Symbol für die Gräuel des Ersten Weltkriegs. Mitte der 1920er Jahre ist der Bildhauer am Zenit seines internationalen Ruhms. In Paris gewinnt er den Grand Prix und wenig später den Auftrag für das Emniyet-Denkmal in Ankara.

Egon Schiele ist auch im Obergeschoss eine dominierende Kraft, wie seine beiden zentral gehängten Gemälde „Tod und Mädchen“ (1915) und „Die Familie“ (1918) beweisen. Die visionäre „Heimsuchung“ von Oskar Kokoschka (1912) wirkt fast ephemer im Vergleich mit den beiden Arbeiten seines Konkurrenten. Überraschend ist eine zwei Meter hohe „Vision“ (1920) des kaum bekannten Franz Alois Jungnickl, der sich gänzlich auf den Spuren Schieles bewegt. Farbintensive, expressionistische Kompositionen von Anton Kolig (→ Anton Kolig: Werk und Leben), Helene Taussig und Herbert Boeckl bilden einen Gegenpol zu Schiele und Kokoschka, konnten sie sich doch mit der Moderne in Paris auseinandersetzen.

„Der Sturm“ und „Die Aktion“

Wie sehr der österreichische Frühexpressionismus ist von einer analytischen Kraft und Wahrhaftigkeit in der Wiedergabe von Seelenpein geprägt, zeigt der Vergleich mit den deutschen Kollegen im anschließenden Saal. Hier stehen die beiden Kunstmagazine „Der Sturm“ und „Die Aktion“ im Zentrum der Aufmerksamkeit. Hatte Kokoschka bereits 1910 über Karl Kraus Kontakt zu Herwarth Walden, Gründer des Magazins und der Galerie „Der Sturm“, aufgenommen, so blieb Schiele und Max Oppenheimer (MOPP) nur noch „Die Aktion“ von Franz Pfemfert als Publikationsorgan in Berlin. Der Konkurrenzkampf der Wiener setzte sich nahtlos in Deutschland fort; vor allem von MOPP pflegte sich Kokoschka lautstark zu distanzieren.

Beide Projekte halfen, den Expressionismus im deutschen Kaiserreich durchzusetzen; allerdings ist Waldens „Der Sturm“ aufgrund seiner internationalen Galeristentätigkeit heute am bekanntesten. Nicht weniger als 24 Einzelausstellungen ungarischer Kunst zeigte Walden in seiner Galerie, womit er in den 1920er Jahren auch den Konstruktivismus bekannt machte. Mit „Mutter und Kind, einander umarmend“ von 1922 näherte sich Kokoschka während seiner Professur in Dresden dem deutschen Farbexpressionismus an - und löste sich von seinen Anfängen in Wien. Flankiert wird das farbenfrohe Bild von Gemälden Alexej von Jawlensky|s, Hans Mattis-Teutschs und Hugó Scheibers, verband Walden mit seinen Aktivitäten doch bewusst die westeuropäische Moderne mit der Avantgarde aus Russland und Ungarn (bzw. Siebenbürgen).

Lovis Corinth, Max Pechstein und Ernst Ludwig Kirchner - drei der herausragenden Maler des deutschen Expressionismus - sowie ein Stillleben von Helene Funke werden Schiele, Kokoschka, MOPP und Albert Paris-Gütersloh gegenübergestellt. Arthur Roessler, bedeutender Kunstschriftsteller, Essayist und Schiele-Freund, lehnte Helene Funke|s Kunst genauso ab wie der Kunstkritiker Adalbert Franz Seligmann. Letzterer verurteilte die Bilder der in Paris ausgebildeten Malerin als „schreckliche Vangoghiade“. Die Werke des früh verstorbenen Vincent van Gogh dienten auch Corinth, Pechstein und Kirchner als Ausgangspunkt für ihre expressionistische Malerei, von der nur noch Corinth jenen dynamisierten, nervösen Pinselstrich aufweist, für den van Gogh so berühmt geworden ist. Als Vertreter der Künstlergruppe Die Brücke hatten Pechstein und Kirchner bis zu ihrer Auflösung 1913 die Speerspitze der Avantgarde gebildet. In den 1920er Jahren zählten sie bereits zu den anerkannten Größen der modernen Kunst, während Helene Funke kaum von ihrer Malerei leben konnte. Diese strukturelle Benachteiligung von Künstlerinnen wird in der Schausammlung des Belvedere nun aufgelöst.

Avantgarden der 1920er bis 1950er Jahre

Das Ende des Ersten Weltkriegs bedeutet für viele Künstler:innen die Möglichkeit, wieder Konzepte und Utopien im internationalen Austausch zu diskutieren. Das Aufkommen der unterschiedlichen Nationalismen und der totalitären Diktaturen sowie schließlich der Zweite Weltkrieg isolieren die Künstler:innen, vernichten Existenzen. Erst nach 1945 führen allmählich vereinzelte Bestrebungen der Künstler:innen wieder zueinander, erlaubten internationale Gemeinsamkeiten die Öffnung hin zu künstlerischen Neuansätzen.

Paris war auch in den 1920er Jahren das Mekka der Kunstschaffenden! Den politischen Wirren in den Jahren nach Kriegsende entflohen auch viele Künstler:innen aus Ungarn in den Westen, darunter der oben bereits genannte Anton Prinner, seine ungarischen Zeitgenossen Alfréd Réth, Vilmos Huszár, Sándor Bortnyik, Lajos d’Ébneth oder auch der Tscheche František Foltyn. Sie schlossen sich in Paris, in Weimar und den Niederlanden Künstler:innen der Abstraktion an, darunter dem Kubismus (Réth), der De Stijl-Gruppe (Huszár & d’Ébneth), lehrten am Bauhaus (Moholy-Nagy) oder beobachteten es (Bortnyik & Lajos d’Ébneth).

Angetrieben von sozialistischen Idealen verfolgten die (ungarischen) Konstruktivisten den Aufbau einer neuen, besseren Gesellschaft. Sie entwickelten eine radikal ungegenständliche Bildsprache: Kompositionen, gebaut aus Flächen, Linien und geometrischen Grundformen, sollten die Betrachtenden zur aktiven Wahrnehmung und zum gestalterischen Denken befähigen. Die Grenzen zwischen bildender Kunst und Architektur wurden fließend (Fred Forbát als Architekt des Neuen Bauens). Desgleichen riss Anton Prinner Geschlechter- und Gattungsgrenzen ein, wenn er sich die als Anna Prinner 1902 geborene Künstlerin in Paris eine männliche Persona verlieh und Anfang der 1930er Jahre ungegenständliche Werke zwischen Malerei und Relief schuf.

Gleichzeitig revolutionierten auch die Künstler:innen des Surrealismus, von Paris ausgehend, die Kunstproduktion. Im Belvedere sind besonders der später in Mexiko bedeutend gewordene Wolfgang Paalen (→ Belvedere: Wolfgang Paalen), die Tschechin Toyen und die nach Paris emigrierte Greta Freist hervorzuheben. Ihre poetischen, meist geheimnisvoll-spukhaften Kompositionen sollen direkt das Unbewusste ansprechen und sind als verklausulierte Landschaften oder Objekte konzipiert. So kommentiert Freist mit einem bläulichen Stillleben „Wache“ von 1938 den Anschluss Österreichs.

Auf die politischen Härten der 1930er Jahre reagiert der folgende Raum der Belvedere-Präsentation. Vertreibung, Flucht und Bedrohung prägten Leben und Werk von Luise von Motesiczky, Max Beckmann, Wilhelm Thöny, Gerhart Frankl, Lilly Steiner, MOPP, Georg Merkel aber auch Oskar Kokoschka, um nur einige zu nennen. Nur wenige konnten in der neuen Heimat Fuß fassen (wie Merkel) oder wollten gar nach Kriegsende wieder nach Wien zurückkehren.

Den Abschluss des Rundganges im 2. Obergeschoss bildet die Nachkriegskunst in Österreich. Bereits im Mai 1945 nahm die Akademie der bildenden Künste in Wien die Arbeit wieder auf, allen voran Herbert Boeckl. Zur ersten Generation an Kunstschaffenden, die bei Albert Paris-Gütersloh studierte, gehörten Arik Brauer und Anton Lehmden. Friedensreich Hundertwasser wählte den Lehrer eigens, weil dieser ein Freund von Schiele gewesen war - und zog dann doch 1949 als einer der ersten nach Paris, wo er die internationale Avantgarde traf. Hundertwassers „Großer Weg“ brachte dem Wiener den Durchbruch. Kurze Zeit später folgten Maria Lassnig und Arnulf Rainer ebenfalls nach Paris; Markus Prachensky ließ sich vom französischen Informel und der fernöstlichen Kalligrafie inspieren, während der frühe Josef Mikl wie auch Gustav Kurt Beck, einem der Begründer des Art Club.

Avantgarden der 1960er und 1970er Jahre

Das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft erfährt ab den 1960er Jahren eine starke Dynamisierung: In Reaktion auf die klerikal-repressive, postnazistische Atmosphäre setzt der Wiener Aktionismus provokativ den menschlichen Körper als künstlerisches Material ein. Gleichzeitig formiert sich im Zuge der Bürger:innenrechts- und Frauenbewegung eine Generation feministischer Künstlerinnen, die patriarchale Strukturen und Rollenverständnisse aufbricht.

Wenn man von der Sala Terrena links in die drei Räume der jüngsten österreichischen Kunst tritt, wird man sogleich mit einem Selbstporträt von Maria Lassnig konfrontiert. Als die Künstlerin 1974 dieses „Doppelselbstporträt mit Kamera“ malt, lebt sie bereits seit sechs Jahren in New York. Dort besucht sie einen Zeichentrickfilmkurs an der School of Visual Arts. Inspiriert vom amerikanischen Realismus und der Body-Art der Feministinnen, beginnt Lassnig sich in ihren Selbstporträts zweifach dazustellen. Auf einer im Bild dargestellten Leinwand ist ihr „äußeres“ Selbstporträt mit einer Filmkamera dargestellt. Die davorsitzende Figur zeigt ebenfalls die Künstlerin, den Kopf nachdenklich auf die Handfläche gestützt. Ihre Gesichtszüge verschwimmen und der Hinterkopf fächert sich wie ein Balgenauszug einer alten Kamera auf. Sie selbst beschreibt diese Werke als „eine Gegenüberstellung von außen gesehener Welt zur physischen Empfindungswelt“. Ihre Bilder zeigen dabei persönliche, tiefgründige, aber auch humorvolle Darstellungen von Wahrnehmung und Empfinden.

Lassnigs „Doppelselbstporträt mit Kamera“ (1974) wird ergänzt durch VALIE EXPORT/Peter Weibel, „Aus der Mappe der Hundigkeit“ (1969) und Arnulf Rainer/Dieter Roth „Gemeinschaftsarbeit“ (1973). Mit Günter Brus' „Selbstbemalung I“ (1964) wird der Wiener Aktionismus angedeutet. Am Ende des Kapitels stehen Helga Philipps „Objekt 70033“ (1970) und Marc Adrians „K3“ (1960) stellvertretend für die Op Art in Wien (→ Op Art und Konkrete Kunst in Wien).

Feministinnen der ersten Stunde nutzten in den 1970er Jahren ihren Körper und neue Medien als Kampfzone für Kunst und gesellschaftlichen Debatten. Kiki Kogelnik, Birgit Jürgenssen, Martha Jungwirth, Margot Pilz, Renate Bertlmann und Friederike Pezold werden als die Speerspitzen der feministischen Avantgarde präsentiert. Körperbilder und Körperpolitiken, Selbstwahrnehmung und gesellschaftliche Zwänge sprechen aus den aufwühlenden Kunstwerken. Künstlerkollegen wie Cornelius Kolig, Peter Weibel und Günter Brus dominierten in den 1970er Jahren den öffentlichen Kunstdiskurs. Doch die Belvedere-Chefkuratorin Luisa Ziaja setzt den berühmten Männern ihre lange übersehenden Kolleginnen gegenüber.

Den Abschluss bilden Daniel Spoerris „Tableau Piège“ (1972), Oswald Oberhubers „Wie mordet man Kunst??!!Kunst??!!“ (1969) und „Oberhuber und Zahlen“ (1973), Bruno Gironcolis „Ohne Titel“ (um 1968) und VALIE EXPORT|s „Homometer“ (1974). Die Ablehnung von Stil oder gar Kunst in ihrer traditionellen Form wird in den Arbeiten von Oberhuber und Spoerri deutlich. Der Österreicher jongliert mit Zahlen und Buchstaben, will gar die Kunst ermorden. Spoerri hingegen verfolgt ein kulinarisches Ziel, wenn er Freund:innen zum Essen einlädt und das Ergebnis der gemeinsamen Feier und (Kunst)Debatte festklebt. Dass Frauen in diesem männerdominierten Kunstzirkel ihren Platz sich erst erschaffen mussten, erlebte VALIE EXPORT am eigenen Leib. Sie vermisst in den 1970er Jahren die Innere Stadt von Wien mit ihrem Körper, setzt sich in das Verhältnis mit der gebauten Architektur und überprüft ihren Stellenwert als wenig sichtbare Künstlerin. Dennoch: In Straßenaktionen, Performances, konzeptuellen Fotografien nutzt VALIE EXPORT ihren eigenen Körper, um daran die Rollen der Frau und der Künstlerin sichtbar zu machen. . Zeitgleich schreibt sie theoretische Texte und organisiert Ausstellungen zur Feministischen Avantgarde. Gemeinsam mit Maria Lassnig repräsentiert VALIE EXPORT 1980 Österreich auf der Biennale von Venedig. Dort fordert die Künstlerin, die gesellschaftliche Konstruktion des Körpers zu erkennen und diese zu überwinden.

Kuratiert von Björn Blauensteiner, Verena Gamper, Sabine Grabner, Arnika Groenewald-Schmidt, Alexander Klee, Harald Krejci, Georg Lechner, Katharina Lovecky, Franz Smola, Luisa Ziaja.

Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.