Ist „Streulicht. Magazin für Fotografie und Artverwandtes“ eine Publikation über Fotografie und Theorie oder ein Fanzine, oder handelt es sich gar um ein Künstlerbuch? Hochwertige Aufmachung, cooles Design und viel künstlerischer Inhalt sprechen aber dann m.E. doch sehr für die Abteilung Künstlerbuch! Der Crossover macht Österreichs neuestes, halbjährlich und zweisprachig erscheinendes Magazin zu einem echten „Hingucker“ und ist sogar zum „Hineinschnuppern“ geeignet.
Ausgabe Nr. 1°, 31. Oktober 2012
Die Herausgeber Amelie Zadeh und Roland Fischer-Briand sprechen sich im Titel für ein Beleuchten der Randzonen der Fotografie und im Editorial für die fotografische Praxis aus. Im Verhältnis 1:2 stehen einander Theorie und Anwendung gegenüber, so verwundert nicht, dass den eingeladenen Künstler_innen deutlich mehr Raum geboten wird als den Theoretiker_innen. Diese Entscheidung spiegelt sich wunderbar in der Haptik des Heftes wie auch seinem Design, wobei das vorherrschende edle Gau-grün durch zitronengelbe Inserts auf erfrischende Weise durchbrochen wird.
Anstelle eines klassischen Inhaltsverzeichnisses werden am Beginn zehn Rubriken definiert, in denen Bild- und manchmal auch Wortproduktion spielerisch miteinander verhandelt werden. „Mothers & Fathers“ offenbart die Vor-Bilder und Vater/Mutter-Figuren aktuell Schaffender (Ina Wudtke, Lisl Ponger). Thomas Draschan reagiert in Pic/Pong auf eine Serie von Bildern, die ihm die Herausgeber vorlegten. Dann folgt man Matthias Herrmann in seinen „Darkroom“, wo er zeigt, dass er sich gerade – und auch ein wenig wehmütig – mit dem Verschwinden von Kodak, Agfa, Polaroid beschäftigt, indem er deren Produkte sanft ausgeleuchtet und nahsichtig dokumentiert. Anschließend präsentieren ausgewählte Fotograf_innen Arbeiten passend zum Thema der Ausgabe: Marlene Haring, Anita Witek und Tina Schula beleuchten das Verhältnis von Fotografie und ihrer Performanz, d.h. den Shift von der Aufzeichnung eines Vergangenen hin zu einem handlungsorientierten Ansatz des Fotografierens und Interpretierens von Fotografien. Marlene Haring verschwindet in einer dreistündigen Performance in der Maison Guerlain (Paris, 11. Oktober 2007) nahezu vollständig hinter einem Spiegel und wird zur Projektionsfläche ihrer Umgebung. Anita Witeks 2008 entstandene Serie „Retour en forme“ (Diainstallation, 13 Min.) lässt Bild für Bild die sichtbare Struktur aus Papierlagen komplizierter werden. Wie Fotografien von schwebenden Skulpturen muten manche der 160 Aufnahmen an, spielen sie sich doch mit den Räumen, den Lichtern und Schatten, quasi dem „white cube“ der Hochglanzwerbefotografie. Anstelle von sündteuren Kleidern erscheinen in den Leerstellen andere Hintergründe, andere geometrische Formen, immer eckig, immer in subtilen Grauabstufungen, von Hell nach Dunkel und wieder zurück. Tina Schula hingegen inszeniert für „Radical Camp“ (2011) eine Gruppe von Extremisten und begleitet sie - scheinbar - vom Training bis zur Pressekonferenz.
Historisch wird es in einem französischen Pressefoto, das einige lebensgroße Reproduktionen von Maillols Skulpturen auf einem Pritschenwagen zeigt und wie diese Kopien in die Gärten der Tuilerien gefahren werden. Walter Moser analysiert „Performative Prozesse im Werk von Jahn Coplans und Ketty La Rocca“. Im Centerfold erweist man mit einigen anonymen, persönlichen Erinnerungen Christoph Schlingensief und seiner Burgtheater-Aktion „AREA 7 Matthäusexpedition“ (20.1.2006) die Ehre. Für die Rubrik „Print Reference“ holten die Herausgeber Anita Berbers und Sebastian Drostes Buch „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ (1923) aus dem Archiv.
Zu den überraschenden Elementen der ersten Ausgabe von „Streulicht. Magazin für Fotografie und Artverwandtes“ zählen sicher der Bastelbogen Die unvergessliche Ausstellung „A“ von Susanne Puhony & Björn Westphal und die Molekular Art von Heribert Friedl. Damit wird aus dem Magazin-Fanzine-Künstlerbuch eine lustige Mitmachaktion für Hände und Nase. Ehrlich gesagt, ist mir „Streulicht“ aber zu schön gemacht, um es zu zerschnipseln.
Summa summarum ist „Streulicht“ ein gelungener Mix aus (wenig) wissenschaftlicher Analyse und (vielen) künstlerischen Statements. Dem Thema der Performanz werden Amelie Zadeh und Roland Fischer-Briand nicht nur durch die Künstler_innen und Theoretiker_innen-Auswahl gerecht, sondern Bastelbogen und Geruchskunst ergänzen die Text- und Bildbeiträge auf erfrischende Weise. Ganz ehrlich: Ich bin schon auf die Fortsetzung gespannt!
Beteiligte Künstler_innen: Ina Wudtke, Lisl Ponger, Thomas Draschan, Matthias Herrmann, Marlene Haring, Anita Witek, Tina Schula, Max Schaffer, Sophia Hatwagner, Susanne Puhony & Björn Westphal, Jan Machacek, Primin Blum, Alfons Schilling, Jean-Luc Godard
Beteiligte Theoretiker_innen: Andreas Spiegl, Felicitas Thun-Hohenstein, Walter Moser, Petra Stegmann
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