„Wir fahr‘n, fahr‘n, fahr‘n auf der Autobahn.“ Beim Besuch der Ausstellung von Thomas Bayrle (* 1937), kommt einem immer wieder der 1974 entstandene Klassiker der deutschen Band Kraftwerk in den Sinn, denn die Autobahn ist ein zentrales Motiv im Werk des Künstlers. Wie auch für die Elektro-Popper ist diese für ihn ein Synonym für den technischen Fortschritt, für die Beziehung zwischen Mensch und Maschine und massenhafte Bewegungen.
Österreich / Wien: MAK
25.10.2017 – 2.4.2018
Die nach einem Zitat des Architekten Eero Saarinen mit „Wenn etwas zu lang ist – mach es länger“ betitelte Präsentation im Wiener MAK ist die erste institutionelle Schau des 1937 geborenen Malers, Grafikers und Bildhauers in Österreich. Die Ausstellung versteht sich ausdrücklich nicht als Retrospektive, sondern lenkt den Fokus auf Bayrles Beschäftigung mit dem Ornament und Aspekte des Textilen in dessen Werk. Kuratiert wurde sie von MAK-Kuratorin Bärbel Vischer und Kunsthalle Wien-Direktor Nicolaus Schafhausen.
Bayrle, von 1975 bis 2007 Professor an der Städelschule in Frankfurt, zählt (teilweise auch aus einem Missverständnis heraus) zu den Pionieren einer deutschen Variante der Pop Art, galt aber vor einem relativ späten Durchbruch lange als Geheimtipp.
Beeinflusst von Op Art (Victor Vasarely 1906–1997) und Pop Art (Andy Warhol 1928–1987) sind Wiederholungen und das Prinzip des Seriellen bestimmende Momente in Bayrles Œuvre. Frühestes Werk in der Ausstellung ist der in der MAK Galerie präsentierte Siebdruck „Tulpenfrau“ von 1967, eine Vorstudie zu einem nicht-realisierten Kunstprojekt im öffentlichen Raum, das an einer Autobahn in der Nähe von Frankfurt entstehen sollte. Zu sehen ist dabei der aus unzähligen identischen, roten Tulpen bestehende Umriss des Körpers einer Frau, der sich vor einem Raster aus gelben Tulpen auf grünem Untergrund abzeichnet. Ein Foto aus der auch auf Deutsch übersetzten chinesischen Propagandazeitschrift „China im Bild“, dass Wissenschaftler Maos Lehren studierend und diskutierend um einen Tisch auf dem sich zahlreiche Schüsseln mit Kartoffeln befinden versammelt zeigt, diente ihm als Vorlage für die „Kartoffelzähler“ (1968). Auch hier wiederholt sich das Motiv bis ins scheinbar Unendliche, wobei sich durch die unablässige Addition eine sogenannte „Superform“ herausbildet.
Ebenfalls zu sehen sind seine berühmten mit Schuhen, Tassen oder Kühen bedruckten Plastikregenmäntel aus den späten 1960er Jahren, die er nicht nur in Ausstellungen und bei Happenings zeigte, sondern die auch in Kaufhäusern in Deutschland um 27,50 D-Mark erhältlich waren. Durch das Moment der Seriellen verweist Bayrle auf das Phänomen der Massenproduktion: „Die Massenproduktion hat den Ersten Weltkrieg erst möglich gemacht. Erstmals wurden Waffen massenhaft an Fließbändern produziert. Und genauso brutal wurde auch der Mensch als organische Masse eingesetzt“, sagt Bayrle in einem Interview im Katalog zur Ausstellung. Doch auch das Verhältnis von Individuum und Masse beschäftigt den Künstler: „Einerseits besitzt jedes Motiv, das endlos wiederholt wird, ein gewisses Maß an Einzigartigkeit und andererseits entsteht der Eindruck von Gleichförmigkeit oder Gleichwertigkeit, der jedes Objekt durch ein anderes austauschbar macht“, schreibt Spyros Papapetros im Katalog.
Eine besondere Rolle im Werk des Deutschen nimmt dessen Auseinandersetzung mit der Idee eines „Ornaments der Massen“ ein, für die er Inspiration unter anderem in den zwischen 1920 und 1931 entstandenen Schriften des Soziologen Siegfried Kracauer aus dem Umfeld der Frankfurter Schule fand. Er habe 1964 damit begonnen sich mit der Mechanik hinter den „Massen“ zu beschäftigen, erzählte er 2008 in einem Interview mit Hans Ulrich Obrist und Rem Koolhaas. „Als ich die ersten Massendemonstrationen aus China sah, fühlte ich mich an Stoffmuster aus der Weberei erinnert. Ab diesem Zeitpunkt habe ich Ornamente und Raster gewebeartig begriffen und organisiert“. Dieser spezielle Blickwinkel erklärt sich damit, dass sich Bayrle bevor er Anfang der 1960er Jahre Grafik an der Werkkunstschule in Offenbach am Main studierte, zum Musterzeichner für Textilien ausbilden ließ und die Jacquard-Webung erlernte, eine Technik, für die der Franzose Joseph-Marie Jacquard vor fast 200 Jahren das Lochkartensystem erfunden hat (das wiederum ein Meilenstein bei der Entwicklung des Computers war).
Mit „Weben als Konzept“ könnten die Arbeiten überschrieben werde, die im Design Labor zu sehen sind: Pinselstudien, Stempelarbeiten und Geflechte aus Pappkarton wie etwa die im Raum schwebende, sich aus reliefartigen Modulen zusammensetzen Skulptur „Formation SARS“ (2008). Der Bezug zum Weberknoten lässt sich leicht bei dem ebenfalls aus Pappkarton bestehenden „Reliefbild $“ (1980) herstellen, bei dem sich Miniaturautos auf einem dem Dollarzeichen nachempfundenen Autobahnknoten bewegen. Während diese Arbeit auf die Produktionsmechanismen des Kapitalismus verweist, erzählt die Arbeit „Rapport I“ (1997/2005), ein Geflecht aus horizontal und vertikal miteinander verwobenen Autobahnspuren von absoluter Gleichförmigkeit.
Ebenfalls hier gezeigt werden Collagen mit denen Bayrle den Entwurfsprozess digitaler Bildprogramme vorwegnahm. So hat er Bildausschnitte aus einem Pornomagazin in einer Collage aufgeschlüsselt und in zwei weiteren Arbeiten, „Blumen des Bösen“ (1989) und dem medienkritischen „Fuck Canon“ (1990) verarbeitet.
In ihrer Ornamenthaftigkeit perfekt in die Säulenhalle fügt sich die begehbare Installation „iPhone meets Japan“ ein, die Bayrle eigens für das MAK geschaffen hat. Vorlage ist ein japanisches Shunga (ein erotischer Holzschnitt) von 1720 aus der Asien-Sammlung des MAK, der ein Liebespaar bei einem sogenannten „Duftspiel“ zeigt. Erkennbar wird das Motiv der sich aus unzählige iPhones zusammensetzenden „Superform“ erst von der Galerie aus – wenngleich es dafür auch von hier aus ein bestimmtes Maß an Vorstellungskraft braucht).
Ebenfalls eigens für die Ausstellung entwickelte Bayrle, parallel zu einer aktuellen Arbeit für eine Gedenkstätte für dort gefallene Soldaten des Ersten Weltkriegs im Elsass, eine Pietà nach Michelangelo. Die Bildfläche der von Hand geknüpften Tapisserie setzt sich auch hier aus iPhones zusammen. Für die Produktion kooperierte er mit einem Webkollektiv aus Aubusson im Limousin (Frankreich), wo das Weben in Kollektiven seit sechs Jahrhunderten praktiziert wird. In weiteren Pietà-Varianten bilden Totenschädeln das Bildmotiv. Die Pietà-Darstellungen, die in der Schausammlung Gegenwartskunst präsentiert werden, nehmen Bezug auf die Sammlung „Wien um 1900“, der diese räumlich angliedert ist. Bärbel Vischer verweist hier auf die in der Pietà verhandelten Themen Tod, Märtyrertum und Sexualität, die mit Freud oder dem Ersten Weltkrieg verknüpft werden könnten. Ganz überzeugen wollen diese Beweinungsdarstellungen allerdings nicht, da bereitet die Betrachtung des „Gotischen Schinken“ von 1980, in dem sich unzählige Autobahnspuren zum Gewölbe einer gotischen Kathedrale verflechten, wieder mehr Vergnügen. Ebenfalls hier zu sehen ist die Fotocollage „Himmelfahrt“ (1988), die in einer späteren Version als „Eiserner Vorhang“ (2003/04) in der Wiener Staatsoper zu sehen war.
Kuratiert von Thomas Bayrle, Bärbel Vischer und Kunsthalle Wien-Direktor Nicolaus Schafhausen.
Dieses Projekt wurde ermöglicht durch die großzügige Unterstützung von Phileas – A Fund for Contemporary Art.
Christoph Thun-Hohenstein, Nicolaus Schafhausen, Bärbel Vischer (Hgg.)
mit Beiträgen von Spyros Papapetros, Nicolaus Schafhausen, Christoph Thun-Hohenstein und Bärbel Vischer.
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