Die derzeit wohl berührendste und bildmächtigste Ausstellung in Wien ist im Thyssen-Bornemisza Art Contemporary-Augarten zu sehen, der von Francesca Habsburg geführt wird. Der isländische Künstler und Performer Ragnar Kjartansson (* 1976) versammelte für eine 9-Kanal-HD-Video-Installation sieben Musikerfreunde und eine amerikanische Familie in deren romantischem Landsitz, um seinen Trennungsschmerz in Sound und Bild umzuwandeln. Im ehemaligen Atelier von Gustinus Ambrosi (1893-1975) ist das Innere der Rokeby-Farm am Hudson River eingezogen, ein fast 200 Jahre altes Herrenhaus um 1813 von John Armstrong für die Astors und Livingstons errichtet, das seit 1870 nicht mehr verändert wurde. In den verwitternden Räumen des prächtigen Anwesens in Upstate New York singt Ragnar Kjartansson den Blues.
Österreich / Wien: Thyssen-Bornemisza Art Contemporary-Augarten
bis 16.6.2013
Jede Musikerin und jeder Musiker sitzt in einem eigenen Zimmer und spielt in der Schau auf einer eigenen Leinwand. Mit neun fix installierten Kameras und Mikrofonen machte Kjartansson jeweils eine unabhängige, 64-minütige Aufnahme, die Kanäle wurden nicht gemischt, so dass in der Ausstellung jeder Bildschirm seinen eigenen Sound hat. Erst die Betrachter_innen führen die einzelnen und vereinzelten Protagonist_innen zu einem Chor zusammen. Dadurch ergeben sich wie bei einem Live-Konzert unterschiedliche Gewichtungen, je nachdem wo im Raum man sich positioniert.
Die Nachkommen der Astor und Livingston-Familien, die heute das Gebäude besitzen und nur notdürftig in Schuss halten, sitzen auf der überdachten Veranda und stimmen in den Chor mit ein. In der Küche findet sich der Schlagzeuger, ein Gitarrist in der Bibliothek, die Cellistin in einem Schlafzimmer wie auch der zweite Gitarrist, zwei Flügel zeugen vom Wohlstand der ehemaligen Hausbesitzer, Kjartansson selbst positioniert sich in der Badewanne und lässt auch das plätschernde Wasser Teil der Klangkulisse werden. Jede_r hat seine eigene Stimme, seine eigene Interpretation des Dargebrachten. Mehr als eine Stunde singen, swingen und grübeln die Musiker_innen und ihre Gastgeber über einige wenige Zeilen, in denen das bittere Ende (der Beziehung) aus weiblicher Sicht beschrieben wird.
„A pink rose
In the glittery frost
A diamond heart
And the orange red fire
Once again I fall into My feminine ways
You protect the world from me As if I’m the only one who’s cruel You’ve taken me
To the bitter end
Once again I fall into My feminine ways
There are stars exploding
And there is nothing you can do“ (Ásdís Sif Gunnarsdóttir1)
Ragnar Kjartansson inszeniert ein melancholisches Sich-treiben-lassen über das Gedicht seiner Ex-Freundin Ásdís Sif Gunnarsdóttir, weniger eine Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit als ein schwermütiger Akt des Nachdenkens über das Ende selbst. Rokeby-Farm ist in diesem über eine Stunde dauernden Stück nicht nur Kulisse, sondern generiert wie ein kongenialer Partner das Stimmungsbild, es gibt dem melancholischen Rückzug ins Innere eine räumliche Gestalt. Die ölig verrinnende Zeit, in den langen Kameraeinstellungen festgefroren, und die Handlungslosigkeit der sich im Rhythmus der Musik langsam bewegenden Menschen scheinen ihrerseits den Jahrhunderte überdauernden Stillstand des geheimnisvollen Hauses Rechnung zu tragen. Dort, wo sich seit 1870 nichts mehr verändert hat und die Familiengeschichte seit Generationen konserviert wird, schreiben sich Kjartansson und seine Musikerfreunde in einer langsam ablaufenden Musikperformance als Geistesverwandte ein.
Wo ist die Utopie in der Kunst geblieben, mag man sich angesichts der „Visitors“ fragen. Während Klimt und die Wiener Secession in der 14. Ausstellung 1902 noch davon träumten, dass „die Künste uns in ein ideales Reich hinüberführen, in dem allein wir reine Freude, reines Glück, reine Liebe finden“, wendet sich Ragnar Kjartansson der Schmerzbewältigung nach einer Trennung zu. Die Macht der Musik, die er in seinen Arbeiten immer wieder beschwört – so auch in „The Man“ (2010) über Pinetop Perkins aus Missisippi – wird hier infrage gestellt. „The Visitors“ verfallen dem Blues im Laufe der Performance immer mehr, während der 97-jährige Pinetop Perkins sich am Piano hinter dem Haus wie auf den Bühnen der Welt fühlt. Können Harmonien und Töne ihre heilende Wirkung entfalten, hat das Wasser in der Badewanne noch reinigende Kraft? Vereinigen sich im Ausstellungsbereich die einsam musizierenden Künstler_innen oder bleiben sie doch für sich? Welche Rolle übernimmt der Chor bei Ragnar Kjartansson? Stellt er die moralische Instanz und/oder das Innenleben der Protagonist_innen - wie bei Jelineks „Schatten (Eurydike sagt)“ - dar? Die räumliche Erfahrung der Installation ermöglicht ein subtiles Differenzieren zwischen Individuum und seiner Vergesellschaftung, denn die persönliche Erfahrung der Loslösung von einem Partner oder einer Partnerin wird durch den Chorgesang zu einer allgemeinen Erkenntnis verdichtet.
„The Visitors“ wurde 2012 im Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich uraufgeführt und von der Foundation TBA21 erworben.
Die Ausstellung „The Visitors“ wurde mit einer ca. 20-minütigen Performance des Haydn-Chores der Wiener Sängerknaben eröffnet. Dafür schrieb Ragnar Kjartansson mit einem Freund einen A-capella-Chor mit dem Text: „There are stars exploding around you / And there`s nothing you can do!“ (2013) Die jungen Stimmen der Sängerknaben intonierten den durchaus beängstigenden Text und die einfache Melodie mit größter Beiläufigkeit. Durch die oftmaligen Wiederholungen zeigten sich schwindende Kräfte und Neuanfänge. Das Authentische der musikalischen Performance, die lange Dauer, das beschwörende Wiederholen in lauschiger Frühlingsnacht im Augarten machten daraus einen magischen Moment.
2014 plant die TBA21 mit Ragnar Kjartansson eine mehrwöchige Performance über einen Text des isländischen Nobelpreisträgers Halldór Laxness (1902-1998). Dessen Roman „World Light“ (1937-1940) ist dem Leben des fiktiven Volksdichters Ólafur Kárason und der Frage nach Schönheit als Wahrheit und dem Künstlerdasein gewidmet, dekonstruiert romantische Vorstellungen und setzt im selben Moment neue Mythen.
geboren in Reykjavík, Island, 1976, lebt und arbeitet in Reykjavík.
2011 erhielt er den Malcolm McLaren Award of the Performa für seine Arbeit „Bliss“, eine vielstündige Performance über den letzten Akt von Mozarts Oper „Die Hochzeit des Figaro“.
2012 Fondazione Sandretto Re Rebaudengo, Turin
2011 Arthouse at the Jones Center, Austin
2011 Frankfurter Kunstverein
2011 Carnegie Museum of Art, Pittsburgh
2011 Museum of Contemporary Art, Miami
2011 BAWAG Contemporary, Vienna
2011 i8 Gallery, Reykjavík
2009 war Ragnar Kjartansson Vertreter von Island auf der Biennale von Venedig