Camille Henrot (* 1978) wurde mit Videos und Animationsfilmen bekannt, in denen sie kulturell und sexuell geprägte Bilder, Objekte und Symbole aus allen Zeiten und Orten der Welt einander überlagerte. Ihr Methodenrepertoire reicht von anthropologisch-wissenschaftlicher Forschung bis zur eigenen Intuition, wenn sie Mythen, Ökonomie, Wissenschaft und Tradition miteinander in Beziehung setzt. Die entstehenden Werke sind vieldeutig, ja widersprüchlich, und berühren Fragestellungen zu Politik, Wirtschaft und gesellschaftlichem Zusammenleben.
Österreich / Wien: Kunsthalle Wien, Karlsplatz
22.3 – 28.5.2017
„Die Macht der Träume wurde beschnitten, politisch gefährlich gebrandmarkt. Bloch schlug vor, Träume mit Pferden zu vergleichen, die politischen Wandel einleiten helfen.“ (Camille Henrot 2017)
Mit der neu konzipierten Installation „If Wishes Were Horses“ reagiert die französische Künstlerin auf die Architektur der Kunsthalle am Karlsplatz. Der Titel bezieht sich auf ein Sprichwort des 16. Jahrhunderts und Ernst Blochs „Das Prinzip Hoffnung“ (1938–1947) – „If wishes were horses, beggars would ride.” („Wenn nur das Wörtchen ‚wenn‘ nicht wäre.“) – und drückt den Wunsch der Künstlerin nach einem komplexeren, weniger schwarz-weißen Sprachgebrauch aus. Als in New York lebende Künstlerin beobachtet sie besorgt die politische Entwicklung der USA, die, wie sie meint, viel mit der direkten, aber auch einseitigen Kommunikation in den Social Media Kanälen zu tun hat.
Das transluzide Gebäude inspirierte die aus Frankreich stammende Künstlerin mit einem Film und drei Objekten, eine ortsspezifsche Arbeit zu kreieren. Im Zentrum steht die Skulptur „Tug of War [Tauziehen]“ (2017), ein aus Ketten, Seilen und Gummischläuchen geflochtener Zopf, der auf Jiu-Jitsu Matten ruht (die Ausstellung kann daher nicht mit Schuhen betreten werden! Für Schuhsäcke ist gesorgt.). Der Ausstellungsraum erinnert an einen Trainingssaal mit verschieden weichen, grauen und roten Matten, die farbige Felder definieren, der größere Kraftaufwand, den man benötig, sich auf ihnen fortzubewegen. Gleichzeitig schafft Henrot damit eine Grundstimmung ein einheitliches Feld, das die medial verschieden ausgeprägten Arbeiten – Skulpturen und Film mit einander auch visuell verbindet. Henrot verbindet Tauziehen und französischen Zopf miteinander und öffnet das für diese Ausstellung wichtige Spannungsfeld von Sport und Körperkontrolle. Während im Sport die Beherrschung von Körper und Technik offensichtlich sind, ist die Kunst des Flechtens eine von der Mode überlagerte aber genauso die Haarfülle bzw. Mähne ordnende Methode. Die raumgreifende Skulptur „Tug of War [Tauziehen]“ transferiert somit Henrots Reflexionen über Macht, Druck, Unterwerfung, die sie in der filmischen Arbeit „Tuesday“ visuell anhand von Jiu Jiutsu Kämpfern und Rennpferden untersucht, in eine räumliche Struktur.
Der Film verbindet in Slow-motion brasilianische Jiu-Jitsu Sportler mit der Pflege von Rennpferden – eine soulige Stimme und eingängiger Rhythmus nehmen den Bildern den Rest von Gewalt. Ein Jiu-Jitsu praktizierender Freund fragte Camille Henrot, ob sie nicht Footage für ihn machen könnte. In den USA ist das sehr gewaltsame brasilianische Jiu-Jitsu sehr populär. Während des Filmens entdeckte Henrot die Konstruktion von Gewalt in diesem Martial-Arts-Sport, während die Sportler sehr sorgsam miteinander umgingen. Bei der ursprünglich aus Japan stammenden Selbstverteidigungsart Jujutsu [Die sanfte/nachgebende Kunst] geht es um das Unschädlichmachen von Angreifern, wobei Kräfteverlagerung, das so genannte „Siegen durch Nachgeben“, eine große Rolle spielt. Filmstills aus Camille Henrots „Tuesday“ zeigen vornehmlich Posen, die an erotische oder auch sexuelle Handlungen gemahnen.
Die Künstlerin fühlt sich von der surrealen Welt der Rennpferde, deren Zucht, deren Schönheit aber auch deren sorgsamer Pflege sehr angezogen und hinterfragt deren Strukturen. Die Idee der Schnelligkeit von Mensch und Tier in beiden Wettbewerben hat einen sozioökonomischen Wert. Daher friert sie die Bewegung ein und erzeugt so, wie Kurator Luca Lo Pinto betont, Spannung. Einziger schneller Moment im Film ist der Beginn des Trainings, wenn im Morgengrauen Pferde und Reiter in die Startbox einziehen (einige von ihnen müssen hineingedrückt werden!) und starten. Doch wie passt Sadomasochismus zu diese sanften Bilder?
Hinter dieser Verbindung stehen jene Gedankensysteme, die für Camille Henrots bisherige Arbeit bereits wichtig waren und die auf der Grundlage binärer Gegensätze aufgebaut sind: maskulin/feminin, Dominanz/Submission, Anbieter/Abhängiger, Außen/Innen. Bereits seit mehreren Jahren untersucht Henrot die Neigung von Menschen, sich in Abhängigkeitsverhältnisse zu begeben (Technologie, Liebe oder Religion). In den frühen 1980er Jahren verknüpfte Michel Foucault in seinen Reflexionen über Macht, die seiner Ansicht nach auf Widerstand und Unterwerfung basiert, diese mit dem Sadomasochismus. Die beiden Skulpturen „Wait What“ und „I Say“ schaffen scheinbar untrennbare Beziehungen zwischen einem Sandsack und einer metallischen, organischen Form, deren gestreckter Mittelfinger wenig positiv zum Boden zeigt, sowie einer tierischen Form auf einer phallischen Säule. Der Säulenheilige wirkt wie aufgespießt, der Trainierende verflucht sich wohl gerade selbst für seine Obsession!
„Ich [Michel Foucault, Anm. AM] halte Widerstand für einen Teil des strategischen Verhältnisses, aus dem Macht besteht. Widerstand ist tatsächlich immer abhängig von der Situation, gegen die er kämpft. [...] Das SM Spiel ist deshalb interessant, weil es zwar ein strategisches Verhältnis ist, aber immer ein sehr fießendes.“1 (Michel Foucault, Juni 1982)
Im Herbst 2017 ist Camille Henrot eingeladen, das Palais de Tokyo in Paris zu bespielen. Schon heute gibt die Künstlerin bekannt, dass sie sich mit Zeit und Struktur der Woche, deren Namen mit dem Planetensystem, antiken Göttern und Eigenschaften verbunden sind, beschäftigt. Letztes Jahr hatte Camille Henrot in der Fondazione Memmo – Arte Contemporanea, Rom, eine Ausstellung „Monady“ betitelt (12.5.–6.11.2016). Sie vergleicht ihre Arbeitsweise auch mit der Entstehung von James Joyce‘s „Ulysses“, in dem ein Tag in 18 Episoden mit verschiedenen Stimmen und verschiedenen Sprachlevels erzählt wird. Handlungen, Erinnerungsfetzen, Assoziationen werden dabei gleichwertig behandelt. Camille Henrot schafft mit ihren Arbeiten ebenfalls sehr offene Assoziationsfelder, die sie jüngst mit Hilfe von Wochentagen strukturiert. Einmal mehr sind Köper, Worte und Macht die zentralen Fragestellungen von Camille Henrot.
Die Kunsthalle Wien zeigt Camille Henrot erstmals in Österreich.
Programm: Dienstag, 25.4.2017, 18 Uhr Kuratorenführung mit Luca Lo Pinto
Jüngst hat sich Camille Henrot in verschiedenen Medien wie Skulptur, Zeichnung, Fotografie und Film kulturellen Fragestellungen zugewandt: Wie überlebt die Vergangenheit? Wie reagieren kulturelle Veränderungen und Arten der Wissensüberlieferung aufeinander? Wie werden konstruierte Realitäten festgeschrieben? Letztlich hinterfragt sie damit den westlichen linearen Ordnungswillen, ohne den Betrachterinnen und Betrachter ihrer Werke Alternativen anzubieten. Immer ist es die Rezipienten oder Rezipientinnen, die ihre eigene Geschichte aus den Kunstwerken ableiten müssen.
„Ich interessiere mich für die Frage der Kontamination und Veränderung, dafür, wie wir nicht länger von „erster Kultur“ sprechen können, ohne dass dies problematisch ist. Dies [ist die] Relation von reziproker Kannibalisierung und Faszination; […] der Cargo-Kult als Gründungsprinzip aller Neuerung […]. Das Fetischisieren von Andersartigkeit als radikale Andersartigkeit ist immer noch sehr präsent. […] Anthropologie und zeitgenössische Kunst können vor allem durch die Frage der Andersartigkeit in Beziehung miteinander treten. Die heutige Anthropologie hat sich die Vorstellung der Verunreinigung sehr zu Herzen genommen, etwas, das die Kunstkritik längst in ihre Beziehung zum Kunstobjekt hätte integrieren müssen.“2 (Camille Henrot, 2012)
Booklet zur Ausstellung, herausgegeben von der Kunsthalle Wien, Camille Henrot: If Wishes Were Horses, Kunsthalle Wien, Wien 2017.
Katrin Bucher Trantow (Hg.), Bittersüße Transformation. Alina Szapocznikow, Kateřina Vincourová, Camille Henrot (Ausst.-Kat. Kunsthaus Graz), Wien 2016.