Frühgotik in Frankreich

Die wichtigsten frühgotischen Kathedralen der Île-de-France

Die gotische Baukunst entstand aus dem Baugefüge und den Formen romanischer Kirchen in Frankreich, genauer in der fruchtbaren Île-de-France (Paris und Umgebung). Zur ersten Blüte gelangte die Gotik mit dem frühgotischen Neubau der Abteikirche von Saint-Denis (1130/35–1144), der königlichen Grablege. Trotz des bewusst neuen Konzeptes besaß der Chor der Abteikirche von Saint-Denis anfangs keinen Modellcharakter. In der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde in Frankreich noch sehr viel experimentiert und variiert, bis man mit der Kathedrale von Chartres eine Lösung fand, die formal so überzeugend war, dass sie zum Vorbild für viele Nachfolgebauten wurde. In dieser experimentellen Phase entstanden in Frankreich zwischen 1140 und 1194 beispielsweise die frühgotischen Kathedralen von Sens und Laon, sowie wichtige Bauteile der Kathedralen von Soissons und Noyon und schlussendlich die Kathedrale Notre-Dame in Paris.

  • Paris, Abteikirche von Saint-Denis, 1137–1144 – der „Gründungsbau“ der gotischen Architektur
  • Sens (Yonne), Kathedrale Saint-Étienne, 1140–1168
  • Laon (Aisne), Kathedrale Notre-Dame, um 1160–1210
  • Noyon (Oise), Kathedrale Notre-Dame, um 1150
  • Soissons (Aisne), Kathedrale Saint-Gervais et Protais, um 1180/90
  • Paris, Notre-Dame, 1163–1182 Chor / bis 1196 Langhaus / Querhaus nach 1225 Vergrößerung der Fenster

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstanden die Kathedralen von Chartres, Reims, Amiens (Langhaus) und Bourges, die der Hochgotik in Frankreich zugerechnet werden. Zu den Höhepunkten dieser Phase zählt der vollendete Umbau der Abteikirche von Saint-Denis (Langhaus), die königliche Pfalzkapelle Sainte-Chapelle in Paris, die Kathedrale von Troyes und die königliche Schlosskapelle Saint-Germain-en-Laye.

Historische Situation: Aufstieg der Capetinger

Graf Odo von Paris (vor 866–898) wehrte erfolgreich die Normannen ab und wurde 888 als erster „Nicht-Karolinger“ zum König der Westfranken gewählt (reg. 888–898). Einhundert Jahre später konnte einer seiner Nachfolger, Hugo Capet, den Thron ebenfalls besteigen und damit die neue königliche Dynastie der Capetinger begründen. Die Krondomäne beschränkte sich zu diesem Zeitpunkt lediglich auf das unmittelbare Umland von Paris, von der Île-de-France bis Orléans im Süden.

Im 11. Jahrhundert trugen die Nachfolger Hugo Carpets zwar bereits den Titel rex francorum, de facto führten sie aber gegenüber dem deutschen Kaiserreich und den Vasallen ein Schattendasein. Erst mit König Ludwig VI. (1108–1137) konnten die Capetinger an machtpolitischer Stärke zugewinnen. König Ludwig VI. gelang es, ein handlungsfähiges Parlament und einen funktionstüchtigen Verwaltungs- und Beamtenapparat aufzubauen und die unbotmäßigen Vasallen der Krondomäne (u. a. die Normannen) zu unterwerfen. Die Feudalisierung des Landes nahm folglich zu.

Neue Konflikte drohten jedoch von Seiten der Normannen: Da jene durch den Sieg Herzog Wilhelms in der Schlacht von Hastings (1066) England erobert hatten, waren sie sowohl dort, als auch auf dem Kontinent Lehensträger und dienten damit zwei Herren gleichzeitig. Im 12. Jahrhundert nahm der Einfluss des normannisch-angevinischen (Anjou) Reiches noch zu: 1154 heiratete Heinrich Plantagenêt (1133–1189), Herzog der Normandie, die geschiedene Gemahlin des französischen Königs Ludwig VII., Eleonore von Aquitanien. Als Heinrich II. regierte er ab 1154 in England (reg. 1154–1189) – durch die Ländereien seiner Gemahlin geriet ganz Westfrankreich - Poitou, Auvergne und Aquiatanien - in englischen Besitz. Sein Sohn, König Richard Löwenherz, errichtete nach seiner Rückkehr vom Kreuzzug die Festung Château-Gaillard auf einem 100 Meter hohen Kreidefelsen an der Seineschleife zwischen Rouen und Paris. Die Turmhügelburg mit mächtigem Donjon (Wohnturm) wurde in nur 14-monatiger Bauzeit 1196/97 gebaut.

In der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts, als die ersten gotischen Bauten entstanden, war die französische Krondomäne politisch eingeengt und erstreckte sich auf ein Herrschaftsgebiet zwischen Toulouse, dem westlichen Burgund, der Champagne, Vermandois, Flandern sowie die Île-de-France. Dennoch sollte gerade diese prekäre Ausgangssituation zu einer bedeutenden Triebfeder im königlichen Machtstreben unter den Herrschern Ludwig VI. und Ludwig VII. werden. 1337 brach durch den Erbanspruch Edwards III. von England der 100-jährige Krieg zwischen Frankreich und England aus.

Architektur zeigt Herrschaftsanspruch

Die zahlreichen Konflikte zwischen den theologischen Lehrmeinungen erhielten in Frankreich im 12. Jh. durch die Initiativen zweier sehr gegensätzlicher Äbte – den Zisterzienser Bernhard von Clairvaux und den Benediktiner Suger von Saint Denis – eine eminent politische Dimension: Als radikaler, nüchterner Reformer löste Bernhard allfällige Konflikte (Mauren, Türken) vornehmlich mit Waffengewalt. Ihm gelang es nicht nur, König Ludwig VII. zur Teilnahme am zweiten Kreuzzug zu bewegen, sondern auch, die Eroberungsfeldzüge vom Papst sanktionieren zu lassen. Abt Suger hingegen stand im Dienst der Könige von Frankreich und konzentrierte sein Interesse v. a. auf die Neuerungen der Kunst. Er war gemeinsam mit Ludwig VI. in St-Denis erzogen worden und wurde schließlich zum Kanzler ernannt. Abt Sugers ganzes Streben galt der Stärkung der Macht des französischen Königs. Er griff dabei zu einem überaus publikumswirksamen Mittel, das symbolisch-imperialen Wert besaß: er veranlasste den teilweisen Neubau der Klosterkirche von Saint-Denis.

Zwischen 1180 und 1270 wurden in Frankreich rund 80 Kathedralen (städtische Bischofskirchen) gebaut. Dazu kommen noch unzählige Neubauten wie Abtei-, Kollegiats- und Pfarrkirchen. Da die französischen Könige, allen voran Philipp August (1180–1223) und Ludwig IX. (1226–1270), die Vormachtstellung Frankreichs in Europa ausbauten, wurde der Stil der französischen Kathedralgotik, die „französische Bauweise“, stilbildend.