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Wolfgang Tillmans. Neue Welt Eine Werkschau

Wolfgang Tillmans, Tukan, 2010, Courtesy Galerie Buchholz, Köln/Berlin

Wolfgang Tillmans, Tukan, 2010, Courtesy Galerie Buchholz, Köln/Berlin

Wolfgang Tillmans jüngste Ausstellung firmiert unter dem Titel „Neue Welt“ in der Züricher Kunsthalle. In drei separate Raumfolgen im neuen und renovierten Löwenbräukunst-Areal, wo die Kunsthalle Seite an Seite mit Galerien aktuelle Werke internationaler Künstler_innen zeigt, inszeniert Tillmans große Prints seiner jüngsten Arbeiten. Entgegen der sonst so häufig anzutreffenden collageartigen Durchmischung seiner Fotografien auf den Ausstellungswänden, wirkt diese wie eine brav gehängte, das Einzelbild respektierende Schau. Dass Tillmans dennoch Wert auf Gegenüberstellungen und Blickachsen gelegt hat, lässt nicht nur ein Blick in den gleichnamigen Fotoband des TASCHEN Verlags erahnen.

Über die Bedeutung der Überraschung und die Sichtbarkeit des Allgemeinen an der Oberfläche

Wolfgang Tillmans (geboren 1968 in Remscheid, lebt und arbeitet in Berlin und London) hat sich 2009 auf eine ziellose Weltreise begeben. Er ließ sich treiben, ihm genügt ein kurzzeitiges „Volleintauchen“, ein Arbeiten an der „Oberfläche“, immer auf der Suche nach Objekten, „die etwas über die Zeit aussagen, in der ich lebe“. Tillmans nutzt, wie er im Katalogbuch gesteht, „den Moment des sich Überraschen-Lassens“. Nicht bereits vordefinierte Antworten (aus dem Internet) interessieren den Künstler, sondern „etwas Allgemeines sichtbar zu machen“. Dass sich Tillmans dafür nicht tiefer in die von ihm bereisten Gesellschaften begibt und nur an der „Oberfläche“ bleibt, hätte, so der Künstler damit zu tun, dass man „die Wahrheit der Dinge im Grund anhand der Oberfläche der Welt ablesen“ müsse. Der Rundgang durch die Ausstellung bzw. der Blick ins Buch bestätigt über diese Welt und ihre fotografische Repräsentation nur zwei Gewissheiten: Erstens, dass sie so vielgestaltig ist, dass man nur Fragmente davon wahrnehmen kann, und zweitens, dass die Fotografie kein erzählerisches Medium ist. Was dieses „Allgemeine“ also ist, dass Tillmans an der Oberfläche finden will, muss sich je nach Kontext und Zusammenschau mit anderen Bildern entschlüsseln.

Wolfgang Tillmans aktuelle Fotopraxis

Die Erkenntnis, dass man heutzutage keine fremden Bilder von einer Reise mitbringen könne, führte Wolfgang Tillmans zur fragmentarischen Verarbeitung seiner Lebenswelt. Die Sonnenfinsternis in Shanghai 2009 veranlasste den deutsch-britischen Fotografen mit großem Interesse an den Sternen, nach China zu fliegen. Darauf folgte eine langsame Rückreise über verschiedene asiatische Länder, wobei Tillmans teilweise analog und digital fotografierte. Da die digitale Fotografie mit HD und detailscharfen Großformatbildern inzwischen bei den Menschen angekommen sei, interessiert sich Tillmans für deren Möglichkeiten. Die Detailgenauigkeit der digitalen Fotografie, die auch die riesigen Formate der Ausstellung ermöglicht, entspricht nicht der alltäglichen Seherfahrung und bedingt aktuell eine Verschiebung in den Wahrnehmungsgewohnheiten. Den Drang, alles auf dem Monitor sofort zu kontrollieren, widerstand er genauso wie der Retusche und der Manipulation. Erst Wochen und Monate später kontrollierte Tillmans – wie auch bisher schon – sein Material, um im zeitlichen Abstand herauszufiltern, welches Bild als Fotografie funktioniert.

Die „Neue Welt“ als Inszenierung in Zürich

Neben den collageartig installierten Ausstellungen von Wolfgang Tillmans gibt es immer wieder jene, in denen die Bilder in Reih und Glied – also wie in einer traditionellen Kunstausstellung – an der Wand hängen. Die nahezu gleich großen, über 2 Meter hohen Tintenstrahldrucke auf Papier werden nicht als Dibond oder mit Passepartout und Rahmen ausgefertigt, sondern mit einfachen, handelsüblichen Foldbackklammern an den Wänden befestigt, was der Ausstellung etwas Direktes und Ungekünsteltes verleiht. Dass Tillmans seine jüngeren Arbeiten mit älteren, abstrakten Fotografien aus den 90ern mischt, lässt so manche „Pause“ entstehen.

Auf den ersten Blick wirken die Nachbarschaften befremdlich, hängt das überlebensgroße Bild einer Lupine doch neben einem fast zur Gänze verspiegelten Rolltreppenanlage einer Shopping Mall und dem Einblick in ein durchschnittliches Hotelzimmer. Oder wenn die Rosétöne von Krabbenschalen, auf denen sich genüsslich eine fette Fliege breit gemacht hat, auf das Pink eines Honda in Saudi-Arabien trifft. Dazwischen hängt Tillmans Arbeiten aus der Serie „Silver“, für die er mit ausgelaugter oder unreiner Entwicklerflüssigkeit die chemischen Prozesse in der Dunkelkammer verfremdet, um auf der Oberfläche des Papiers Abrieb oder Kratzer zu erzeugen. Diese abstrakten, ohne Kamera entstandenen Fotografien widersetzen sich einer leichten Lesbarkeit, betonen aber den Materialcharakter der analogen Fotografie.

Eine Fotografie von zwei Schafen, die erst durch ihre Schatten als zwei Tiere erkennbar werden, hängt neben einer Aufnahme des Sternenhimmels und eines digitalen Sternenatlas`. Hieran lässt sich das Interesse des Fotografen an Astronomie deutlich festmachen: So wie Fotografien von Sternen manchmal die Entscheidung schwer machen, welcher helle Punkt die Wiedergabe eines Sternes oder Teil des Bildrauschens ist, so wird auch erst bei genauer Analyse des Bildes mit den Schafen deutlich, dass es sich um zwei Tiere handelt. Die in der gesamten Ausstellung verteilten Aufnahmen des nächtlichen Sternenhimmels lassen an eine  Spruch Tillmans im Katalog denken: „Das Leben ist astronomisch.“ Immer wieder gleitet der Blick von den unendlichen Weiten des Alls zu den menschlichen Interaktionen, der Schönheit der Natur oder auch der Künstlichkeit und Brüchigkeit so mancher gebauter oder gar verbauter Umwelt. Wie mit einer Fernbedienung zappt man sich von einer eingefangenen Situation zur nächsten, ohne Plan, ohne offensichtliche Bevorzugung eines Genres oder Themas. Die Message, könnte man meinen, ist die unüberschaubare Variationsbreite menschlichen Lebens – quasi von der Hochglanz-Shopping Mall zum traditionellen Markt, vom Viehtreiber zum Sternengucker, von der HIV-Positiven zum schlafenden Baby im Auto. Das „Wahre“, das Tillmans mit seinen Fotografien einfangen möchte, speist sich aus seinem ungeschönten Blick auf die Welt. Er stürzt sich ohne Sicherheitsnetz von einer Situation in die nächste, schildert auch Peinlichkeiten und monumentalisiert Alltägliches.

In den Gegenüberstellungen bringt er im Züricher Kunsthaus Unvorhergesehenes zusammen (wie die Unsichtbarkeit der Schafe und der Sterne), im Katalog schichtet er die Bilder, so dass nicht immer alles zu sehen ist. Manches taucht auf der Oberfläche auf, anderes sinkt ab, bildet eine Basis oder wird dem Vergessen überantwortet. Das Fragmentarische der Weltsicht und der ewige Wunsch nach Vollständigkeit und Ordnung prallen in Tillmans Projekten immer vehement aufeinander. Die Suche nach dem Missing Link bestimmt den Weg durch die Ausstellung. Was verbindet die Werke miteinander? Immer wieder geht es dem Fotografen um Ähnlichkeiten in den Farbtönen, den Oberflächen und Texturen, den Verkleidungen, den Verschachtelungen und Verspiegelungen. Letztere machen Räume für ihn wohl besonders spannend, denn einerseits lösen sie die Architektur auf und andererseits zeigen sie, was eigentlich außerhalb des Sichtfeldes (Kaders) liegt. Weit entfernte Sterne lassen sich überhaupt nur mit riesigen Spiegeln sichtbar machen.

Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.