Nil Yalter

Wer ist Nil Yalter?

Nil Yalter (*15.1.1938 in Kairo) ist eine türkische Grafikerin, Fotografin, Malerin und Installationskünstlerin der Gegenwart (→ Zeitgenössische Kunst). Sie gilt weithin als Pionierin der globalen feministischen Kunstbewegung. Seit sechs Jahrzehnten setzt Nil Yalter die Mittel des Portapak-Videorekorders oder neuerdings der Smartphone-Kamera, der Fotografie, der Zeichnung, der Installation und des Schreibens als Methoden für das ein, was sie als eine Form der soziokritischen Forschung betrachtet. 2024 wird ihr der Goldene Löwe für ihr Lebenswerk von der Biennale von Venedig verliehen.

Nil Yalter lebt und arbeitet in Paris im politischen Exil.

Kindheit und Ausbildung

Nil Yalter wurde am 15. Januar 1938 in Kairo, Ägypten, geboren. Sie lebte bis zu ihrem vierten Lebensjahr in Kairo, danach in Istanbul, wo ihre Familie herkam. Dort erhielt sie ihre Ausbildung am Robert College.

Yalter reiste von 1956 bis 1958 als Pantomime-Künstlerin mit dem Dichter Théo Lésoual’ch in den Iran, nach Pakistan, Indien und arbeitete 1963 und 1964 für divers Theater als Bühnenbildnerin und Kostümbildnerin. Daneben konzentrierte sie sich zunehmend auf die Malerei. Yalter hat nie eine formelle Ausbildung in bildender Kunst erhalten und gilt als autodidaktische Künstlerin.

Werke

Ihre künstlerische Karriere begann 1957, als Nil Yalter ihre erste Ausstellung im Französischen Kulturinstitut in Mumbai, Indien, veranstaltete. Yalter hat erst in den 1960er Jahren kontinuierlich ihre eigenen Praktiken und Interessengebiete erweitert und dabei in den Bereichen Malerei, Zeichnung, Video, Skulptur und Installation gearbeitet.

Paris

Im Jahr 1963 nahm Nil Yalter an der „3. Pariser Biennale“ teil und zog 1965 nach Paris. Sie beteiligte sich an den französischen revolutionären Bewegungen der späten 1960er Jahre und hatte in Frankreich eine Vorreiterrolle als Mitglied von „Collectif Femmes / Art“.

Seit den 1970er Jahren arbeitete Nil Yalter als Pionierin einer gesellschaftlich engagierten und technisch avancierten Kunst. In den 1960er und 1970er Jahren leistete Yalter mit ihrem künstlerischen Werk Pionierarbeit für einen soziologischen und konzeptionellen Ansatz zu ethnischen, Identitäts-, Migrations- und Klassenproblemen, indem sie dokumentarische Videos, Zeichnungen und Fotografien in Kombination mit Recherchen aus erster Hand zu den statistischen und materiellen Problemen von Einwanderergemeinschaften verwendete. Sie hat sich insbesondere auf die Lebensbedingungen und das politische und wirtschaftliche Exil von Gemeinschaften in der Türkei, Frankreich, den Vereinigten Staaten, Portugal, Algerien und Chile konzentriert. Als eine der ersten Künstlerinnen in Frankreich nutzte sie das neu aufkommende Medium Video.

Topak Ev

Nil Yalter rückte undokumentierte oder fehl- und unterrepräsentierte Stimmen in den Mittelpunkt ihrer Kunst. Sie begann, sich mit konzeptuellen Kunstpraktiken mit sozialen Themen zu befassen, insbesondere im Zusammenhang mit Einwanderung und den Erfahrungen von Frauen.

Ihre erste Einzelausstellung hatte sie 1973 im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris. Dafür schuf sie „Topak Ev“. Entlang ethnologischer und soziologischer Fragestellungen untersuchte die Künstlerin die Position der Frau in der turkmenischen Nomadengesellschaft. Begleitend zu „Topak Ev“, einem eigens nachgebauten Zelt, schuf sie Wandtafeln mit Zeichnungen und Fotokopien von Fotos und Texten, die das Leben der Nomad:innen widerspiegeln.

The Headless Woman

Im folgenden Jahr präsentierte sie „The Headless Woman or The Belly Dance“, eine feministische Videoarbeit, die sich mit der sexuellen Befreiung von Frauen und der orientalistischen Objektivierung von Frauen aus dem Nahen Osten befasst. Damit war Yalter 1974 in der ersten internationalen Ausstellung zur Videokunst in Frankreich vertreten und trat als Pionierin der französischen Videoperformance hervor.

La Roquette, Prison de Femmes

Gemeinsam mit der Malerin Judy Blum und der Videokünstlerin Nicole Croiset realisierte Nil Yalter die mehrteiligen Installation „La Roquette, Prison de Femmes [La Roquette, Frauengefängnis]“ (1974/75), bestehend aus einem Video, einem Transkript, Zeichnungen und Fotografien.

Das Pariser Gefängnis La Petite Roquette war bis 1974 eine staatliche Infrastruktur im Zentrum einer europäischen Hauptstadt zur Bestrafung von Frauen, die ihre Rechte über ihren Körper einforderten oder gegen das antikommunistische Regime Frankreichs während des Zweiten Weltkrieges oder des globalen Kalten Krieges kämpften. Über die ehemalige Insassin Mimi, die für die Arbeit eine Selbstaufnahme zur Verfügung stellte, erfährt man etwas über den Sexismus im französischen Gefängnis-Industriekomplex.

Temporary Dwellings

Darüber hinaus befasste sich ihre Arbeit „Temporary Dwellings“ (1977–2005), die erstmals 1977 gezeigt wurde, mit dem Leben von Wanderarbeiter:innen, wie es von Frauen erzählt wird.

„Temporary Dwellings“ besteht aus sieben Archivtafeln, auf denen die Künstlerin Einzelheiten über das Leben von Einwanderergemeinschaften in Istanbul (2), Paris (2) und New York (3) festgehalten hat. Mithilfe von Zeichnungen, Texten und Collagen (aus Abfällen, die sie während ihrer Zeit in diesen Städten gesammelt hat) verbindet sie einen soziologischen Ansatz mit einem poetischen und kritischen Blick. Die sieben Panels werden von sechs Videos begleitet, die aus dokumentarischen Interviews mit den Bewohnerinnen dieser Orte bestehen. Die Arbeit entstand über einen Zeitraum von drei Jahren zwischen 1974 und 1977.

Im Jahr 1980 veranstaltete Nil Yalter eine Solo-Videoprojektion und -Konferenz mit dem Titel „Rahime, Femme Kurde de Turquie“ im Centre Georges Pompidou, Paris, aus.

Auch die Arbeit „Exile Is a Hard Job [Exil ist harte Arbeit]“ (1983/2019/20221) zeugt vom solidarischen Engagement der Künstlerin innerhalb intersektionaler Kämpfe. Die unter anderem als Plakat realisierte Reihe basiert auf Fotografien, einem Zitat und auf Video aufgenommenen Gesprächen mit Frauen und Familien aus Portugal oder der Türkei. Ihre Worte konfrontieren „die metropolitane Mehrheit“ (Nikita Dhawan) mit der Frage, was es bedeutet, im Exil zu leben. Dieses erfordert täglich harte Arbeit, um Fähigkeiten und Kenntnisse zu entwickeln, die es ermöglichen, die Gewalt des Schweigens und der Unsichtbarmachung innerhalb einer vermeintlich repräsentativen Demokratie zu überleben.

Mit dem Aufkommen digitaler Technologien in den 1990er Jahren setzte sie bei ihren Arbeiten dreidimensionale Animationstechniken und elektronische Tonbearbeitung ein. Diese Phase markierten für Yalter eine Zeit der kreativen Erkundung und Anerkennung.

Lehre

1980 bis 1995 war sie an der Universität Sorbonne tätig.

Nil Yalter auf der Biennale von Venedig 2024

Für die 60. Internationale Kunstausstellung wird Yalter eine Neukonfiguration ihrer innovativen Installation „Exile is a hard job“ in Verbindung mit ihrem ikonischen Werk „Topak Ev“ (1973) präsentieren, das im ersten Raum des Zentralpavillons der Giardini platziert ist.

Ehrungen

  • 2024: Goldener Löwe für das Lebenswerk der Biennale von Venedig
  • 2018: Prix AWARE vom Archiv der Künstlerinnen, Forschung und Ausstellung (AWARE), da sie sich mit Fragen des Feminismus und der Migration auseinandersetzte.

Ausstellungen (Auswahl)

  • Ludwig Museum, Köln,
  • Hessel Museum of Art,
  • Annandale-on-Hudson, New York,
  • Musée d'Art Contemporain du Val-de-Mame, Frankreich,
  • Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris,
  • Centre Georges Pompidou, Paris
  • Nil Yalter hat unter anderem an der Biennale von Venedig (2024), der Sharjah Biennale (2023), der Berlin Biennale (2022), der Gwangju Biennale (2014), der Istanbul Biennale (2013), der Bienal de São Paulo (1979) und der Biennale de Paris (1977) teilgenommen.

Yalters Arbeiten befinden sich in den Sammlungen des Istanbul Modern, des Centre Pompidou, Paris, des F.N.A.C. Fonds National d’Art Contemporain, Frankreich, Tate Modern, Vereinigtes Königreich, Museum Ludwig, Köln, Kunstsammlung der Deutschen Telekom, Museo Reina Sofia, Madrid, unter vielen anderen.

  1. Nil Yalter realisierte „Exile Is a Hard Job [Exil ist harte Arbeit]“ in ihrer Einzelausstellung im Museum Ludwig in Köln 2019 und während der 12. Berlin Biennale 2022 erneut im öffentlichen Raum und in der Ausstellung.