Das Kunstmuseum Solothurn beheimatet eine der bedeutendsten Werkgruppen der Waadtländer Künstlerin Aloïse Corbaz (1886–1964). Schlichtweg als Aloïse wurde sie als eine der ersten weiblichen Größen der sogenannten Art Brut | Outsider Art bekannt. Jenseits gesellschaftlicher Konventionen verleiht die Künstlerin mit zeichnerischen Mitteln einer opulenten inneren Welt Gestalt, in der ihre Protagonistinnen selbstbewusst leben und lieben.
Schweiz | Solothurn: Kunstmuseum
1. Stock, Großer Oberlichtsaal
7.3. – 2.7.2023
1886 in Lausanne geboren, kommt Aloïse als junge Frau ins Schloss Sanssouci in Potsdam bei Berlin, wo sie als Kindermädchen angestellt ist. Im „preußischen Versailles“ verliebt sie sich in den deutschen Kaiser Wilhelm II und malt sich eine leidenschaftliche Affäre mit ihm aus – eine Fantasie, die sie zunehmend als Realität begreift. Der erste Weltkrieg zwingt Aloïse zur Rückkehr in die Schweiz, wo sie mit ihrem religiös-pazifistisch gefärbten Aktivismus und Vegetarianismus aneckt. 1918 wird sie im Alter von 32 Jahre als schizophren diagnostiziert und in die psychiatrische Klinik eingeliefert, wo sie bis zu ihrem Tod 1964 bleibt.
Durch die Kunst baut Aloïse in der Klinik ihren eigenen Kosmos aus. Sie macht Packpapier und Zeitschriften zu ihren Bildträgern, die sie nach Bedarf mit Nadel und Faden zusammennäht und vor- wie rückseitig bespielt. Bleistift und Tinte oder auch Zahnpasta und bunte Blütenblätter werden zu Gestaltungsmitteln. In ihrer Psychiaterin Jacqueline Porret-Forel findet Aloïse eine Unterstützerin, die sie nicht nur mit Material versorgt, sondern auch Jean Dubuffet vorstellt. Dubuffet, der den Begriff der Art Brut prägte, sieht in Aloïses Schaffen einen Raum, in der die Autorin frei von einem restriktiven Gesellschaftskorsett leben kann.
Kräftige Farbstriche verweben sich in Aloïses Werken zu verführerischen Motiven und lebhaften Szenerien: Reich geschmückte Frauenkörper verschmelzen mit royal anmutenden Männerfiguren in gegenseitigem Begehren; Brüste und Früchte, Perlen und Pfaue verflechten sich zu ornamentalen Farbteppichen, aus denen androgyne und hybride Wesen hervorgehen. Aloïse schlüpft selbst in eine Vielzahl von Rollen: Sie ist Geliebte, Papst und Patientin; mal Mater Dolorosa, die schmerzenreiche Mutter, und immerfort die Künstlerin und Dichterin. Starre Rollenzuschreibungen und damit einhergehende Machtverhältnisse schwinden in Aloïses metamorphischer Bilderwelt dahin.