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Weltausstellungen, Medien und Musik im 19. Jahrhundert Ausstellung "Wege in die Moderne"

Wege in die Moderne (Cover), Verlag des Germanischen Nationalmuseums 2014.

Wege in die Moderne (Cover), Verlag des Germanischen Nationalmuseums 2014.

„Wege in die Moderne. Weltausstellungen, Medien und Musik“ benennt jene drei Blickpunkte, von denen aus die Sammlungsbestände des Bayerischen Gewerbemuseums in Nürnberg helfen, Aspekte der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besser zu verstehen. Mehr als sechs Millionen Besucher_innen hatten 1851 die erste Weltausstellung im Crystal Palace in London gestürmt, um Waren von etwa 17.000 Ausstellern zu bestaunen. Die verbesserte Infrastruktur ermöglichte auf den Gebieten Kunsthandwerk, Maschinenbau, Wissenschaft und Kunst erstmals einen internationalen Vergleich. Um im globalen Warenverkehr bestehen zu können, wurden in der Folge allerorts repräsentative Mustersammlungen für Handwerker und Gewerbetreibende angelegt.

Das Bayerische Gewerbemuseum ist als eine Reaktion auf die erste Weltausstellung 1851 in London und als private Initiative entstanden. Es befindet sich seit 2003 als Dauerleihgabe des Freistaates Bayern im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Der Untertitel der Schau „Weltausstellungen, Medien und Musik“ benennt jene drei Gattungen, mittels derer die Sammlungen neu analysiert und präsentiert werden. Gleichzeitig dient die Sonderausstellung als Probe für die neu zu konzipierenden Dauerpräsentation der Sammlungsbestände. Der begleitende Katalog ist daher ein bildreiches Kompendium, dessen drei Kapitel durch kompakte Zusammenfassungen der wichtigsten Daten und Fakten eingeleitet werden. Reiche Information bieten die Objekttexte, die jedes Ausstellungsstück in einen konkreten Kontext setzen. Übergänge zwischen den Themen werden sowohl in der Schau wie auch dem Katalog als „Passagen“ herausgearbeitet.

Warum drei Wege in die Moderne?

Die Veränderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigen sich als konstitutiv für heutige Auffassungen über den globalen Wettbewerb, Musikpraxen und Starkult wie auch Printmedien und Werbung. Ausgangspunkt für den Erfolg der Weltausstellungen war die Überzeugung, die Welt als Mikrokosmos abbilden zu können. Wissen um die Welt und menschlich-handwerkliche Fähigkeiten wurden in Vitrinen präsentiert, ohne dabei den Unterhaltungswert zu vergessen. Die ab 1851 von verschiedenen Städten in Europa, den USA und Australien organisierten Weltausstellungen waren erste Großevents, irgendwo zwischen Warenhaus und Museum angesiedelt. Dass im Zuge dieser Entwicklung eine Reihe von Kunstgewerbemuseen als Lehrsammlungen für heimische Handwerker das Licht der Welt erblickte, spielte im Nationenvergleich eine gewichtige Rolle. Die Entdeckung der exotischen Welt durch ein Massenpublikum wird in diesem Zusammenhang und vor den Sammlungsobjekten des Germanischen Nationalmuseums nur am Rande beleuchtet.

Parallel dazu entwickelte sich in der Musik heute noch aktuelle Präsentationsformen wie das Orchester und sein Dirigent. Auch der Starkult rund um die Virtuos_innen war eine Neuerung im Musikgeschäft. Darüber hinaus diente Musik, vor allem der Gesang, der Huldigung der eigenen Nation, während die Weltausstellungen zunehmend auch außereuropäische Musikerfahrungen ermöglichten. Dass all das ohne die zunehmende Alphabetisierung der Bevölkerung nicht möglich gewesen wäre, liegt auf der Hand. Printmedien und Werbung prägen sich in gängige Formen wie der bebilderten Illustrierten und dem Plakat aus. Sie sind es, die die Kunde von den aktuellsten Neuigkeiten und dem letzten Schrei um die Welt tragen.

Roland Prügel stellt seinen Aufsatz über die Weltausstellungen unter das Thema „Die Welt als Vitrine“ (S. 18-33) und beschreibt sie als Umschlagplätze von Waren und Wissen, Schaubühnen für die neuesten technischen und künstlerischen Errungenschaften, Orte der nationalen Selbstdarstellungen und des interkulturellen Austauschs. Als „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware“ bezeichnete sie ironisch Walter Benjamin. Es wurden nicht nur Unmengen von Objekten in neuen Präsentationsformen gezeigt, sondern auch von den neu gegründeten Gewerbevereinen erworben. Ziel war es, die zunehmend industriell produzierten Konsumgüter funktional wie ästhetisch ansprechend zu gestalten. Die Besucher_innen konnten sich über den jeweils aktuellsten Stand, auch die Moden, informieren und die von international besetzten Jurys verliehenen Auszeichnungen als Gütesiegel verstehen.

Schon die zweite Weltausstellung in Paris 1855 verband die Welt der Waren mit der Präsentation von Kunst aus dem alljährlichen Salon. Bereits ab der vierten Weltausstellung 1867, ebenfalls in Paris abgehalten, wandelte sich die Ausstellung zu einer Inszenierungsplattform für ländliche Kultur wie den Bauernstuben und den Trachten auf Figurinen. Folklorismus und Orientalismus gingen Hand in Hand. Diese Lust am Schauen fand auch Gefallen an der Präsentation „primitiver Völker“ und befeuerte die „Orientmode“. Dass beispielsweise mit exotischen Motiven ausgeführte Shawls nicht nur das transatlantische Publikum erfreut werden sollte, macht der Hinweis auf erhoffte Absätze in den Ursprungsländern der Muster deutlich.

In „Eine Welt im Wandel. Zur Medienlandschaft des 19. Jahrhunderts“ zeigt Stephanie Gropp vor allem die rasante Entwicklung neuer Kommunikationsmittel auf. Unter dem Schlagwort der „Medienexplosion“ listet sie von den ersten öffentlich aufgestellten Briefkästen (1820er) über die Etablierung der Correspondenz- und Bildpostkarten bis zum Telefon alle wichtigen Übertragungsmedien des 19. Jahrhunderts auf. Für die Reproduktion von Bildern waren die Präsentation der Fotografie 1839 und die erste Filmvorführung in Frankreich am 28. Dezember 1895 von höchster Bedeutung. Der gesteigerte Warenkonsum – ermöglicht durch die Industrialisierung und repräsentiert durch die Weltausstellungen – aber auch die Unterhaltungsindustrie führten zudem zur Erneuerung der Werbung, die ab den 1890er Jahren erfolgreich auf Litfaßsäulen, charakteristische Bildfindungen und kurze Texte setzte.

Markus Zepf stellt seine Überlegungen zur Musikkultur im 19. Jahrhundert unter den Titel „Um von vielen gehört zu werden“ und streicht damit seinerseits die „Geburt der Massenkultur“ im besagten Zeitraum hervor. In der Musikgeschichte stellt das Jahr 1806 mit der Gründung des Rheinbundes und dem Ende des Heiligen Römischen Reiches eine markante Zäsur dar, die sich in der Gründung von Männergesangsvereinen nach Vorbild der Liedertafel 1809 äußert. Vor allem Carl Maria von Weberns Oper „Der Freischütz“ (1821) wurde als „deutsche Nationaloper“ akklamiert. Ihr folgten Volksliedsammlungen verbunden mit deutschnationaler Gesinnung (z.B. Achim von Arnim / Clemens Brentano „Des Knaben Wunderhorn“ (Heidelberg 1805/6 und 1808)). Ludwig van Beethoven hatte bereits 1808 mit seiner 5. Sinfonie das große Orchester unter der Leitung eines Dirigenten etabliert. Damit erzwangen er und seine Generation den „Rückzug der Dilettanten in die Privatsphäre der Kammermusik“ und verhinderten den Zugang von Frauen. Persönlichkeiten wie Clara Schumann und Pauline Fichtner-Erdmannsdörfer sollten die großen Ausnahmen bleiben.

Das romantische Zwei-Welten-Modell, das der von Widrigkeiten bestimmten irdischen Welt die Sphäre der Musik entgegenhält, wurde auf die ländliche Musik übertragen. Während Stockviolinen das Musizieren in der Natur erlaubten, fanden Hörner Eingang ins Orchester und standen akustisch für Jagdszenen. Alphörner und Zithern wurden wegen ihres Symbolcharakters auch in städtischen Konzerten gespielt. Besonders skurril mutet aus heutiger Perspektive der Streit an, ob man für das Hören einer Zither eine passende Umgebung brauche. Künstler wie Franz Defregger stellten Zitherspieler daher gerne in ländlicher Umgebung und heimischer Tracht dar.

Doch erst die beiden Erfinder Thomas Alva Edison und der 1870 in die USA ausgewanderte Hannoveraner Emil (Emile) Berliner (1851–1929) machten die Stars ab 1900 unsterblich, indem sie Schallplatten und Grammophon erfanden. Diese Technologie wurde ab 1877 auf den Weltausstellungen präsentiert und vermarktet. Darüber hinaus waren die Großveranstaltungen wichtig für die Instrumentenbauer und die Kenntnisnahme außereuropäischer Musik.

„Wege in die Moderne. Weltausstellungen, Medien und Musik“ ist ein außerordentlich gut recherchierter Katalog, wobei die einführenden Texte Überblicke verschaffen und die Objekttexte die präsentierten Werke zum Sprechen bringen. Hier zeigt sich die Innovationskraft der Aussteller und ihr Kommerzialisierungswille. Der Bogen reicht von folkloristischen Beiträgen wie der Hindelooper Stube mit ihren bemalten Klapptischen, die auf der Pariser Weltausstellung 1878 zum Symbol für die gesamten Niederlande avancierte, und Serviererinnen in landestypischen Trachten zu den ersten bunten Reklamedrucken von Lucien Lefèvre und Jules Chéret (→ Jules Chéret. Pionier der Plakatkunst). In der Musik-Abteilung wird den Männergesangsvereinen und dem Nürnberger Dirigenten Max Erdmannsdörfer (1848–1905) und dessen Gattin, der Pianistin Pauline Fichtner (1847–1916), gedacht. Das Virtuosentum des 19. Jahrhunderts zwang die Künstler_innen nicht nur permanent zu reisen, sondern machte auch einige Erfindungen nötig: So ermöglichten stumme Violinen permanentes Üben ihrer außerordentlichen Fähigkeiten. Grammophone und Schallplatten schufen Ende des 19. Jahrhunderts eine weitere Facette der Musikverbreitung und des -genusses, indem es das Spielen und das Hören voneinander trennte.

Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, gelingt es dem Katalog ein vielschichtiges Epochenbild zu zeichnen. Vor allem der Verbindung von Medien-, Musik- und Kulturgeschichte zeigt sich als gelungener Ansatz die Entwicklung der Massenkultur im späten 19. Jahrhundert und die Dynamik der Moderne zu begreifen. Das Germanische Nationalmuseum geht in der Aufarbeitung der Gründungsgeschichte des Bayerischen Gewerbemuseums erfrischend über die Grenzen der Kunst- und Stilgeschichte hinaus.

Liste der offiziell anerkannten Weltausstellungen zwischen 1851 und 1914

1851 London, Crystal Palace – ca. 17.000 Aussteller, davon werden ca. 5.300 mit Auszeichnungen geehrt, mehr als sechs Millionen Besucher_innen
15. Mai - 31. Oktober 1855 Paris – Auf Befehl von Napoleon III. (1808–1873) wird der jährlich stattfindende Salon auf die Weltausstellung verlegt. 1,5 Millionen Besucher_innen; 23.954 Aussteller aus 34 Ländern.
1. Mai - 1. November 1862 London – Im Fine Art Department stellen 2.305 Maler und Bildhauer aus allen Ländern aus; 28.000 Aussteller aus 36 Ländern und 15 Kolonien; knapp über 6 Millionen Besucher_innen.
1. April - 3. November 1867 Paris – Erstmals wird der enzyklopädische Ansatz wichtig und Wirtschaft, Politik, Erziehung und Wissenschaften präsentiert. Der zivilisatorische Fortschritt wird über die Sonderausstellung „Histoire du travail“ mit kunsthandwerklichen Produkten dargestellt. Den Kompositionswettbewerb kann Camille Saint-Saëns für sich entscheiden. Über 9 Millionen Besucher_innen; Neuheiten sind: Hydraulischer Fahrstuhl von Otis, Stahlbeton, Gasmotor, Anilinfarben.
1. Mai - 2. November 1873 Wien – Die USA machen ihre Teilnahme von einem Patentschutzabkommen abhängig und erhalten Recht. Ca. 53.000 Aussteller aus 35 Ländern; 7,2 Millionen Besucher_innen
10. Mai – 10. November 1876 Philadelphia – Rückgang der Aussteller auf 14.420, über 10 Millionen Besucher_innen; Das Prinzip des allumfassenden Zentralbaus wird aufgegeben. Alexander Graham Bell (1847–1922) präsentiert seinen Apparat zum Übertragen von Sprache. Weitere Neuheiten sind: Nähmaschine, Schreibmaschine, Thonet-Stuhl. Die „Women`s Centennial Executive Commitee“ beauftragen Richard Wagner mit der Komposition eines Festmarschs, der auch aufgeführt wird.
1. Mai - 31. Oktober 1878 Paris – ca. 52.835 Aussteller, Bau des Palais du Champ de Mars mit 420.000 m² Grundfläche, dessen Fassaden landestypisch gestaltet wurden; 16 Millionen Besucher_innen; erste Präsentationen von elektrischem Licht und Eismaschinen
(nicht offiziell anerkannt: 17. September 1879 – 20. April 1800 Sydney knapp über eine Million Besucher_innen)
1. Oktober 1880 - 30. April 1881 Melbourne
8. April - 9. Dezember 1888 Barcelona
6. Mai - 31. Oktober 1889 Paris – über 61.000 Aussteller. Bau des Eiffelturms. Erstmals kommt Musik aus Java und den arabischen Ländern auf eine Weltausstellung und beeinflusst Künstler wie Claude Debussy. Weitere Neuheiten sind der Phonograph von Edison; das verbesserte Fahrrad und die Weiterentwicklung der Motoren.
1. Mai - 30. Oktober 1893 Chicago – ca. 50.000 Aussteller und 48 Millionen Besucher_innen. In Chicago wird das erste Riesenrad aufgestellt.
10. Mai - 8. November 1897 Brüssel
15. April - 12. November 1900 Paris – Auszeichnungen für mehr als 40.000 Aussteller, über 50 Millionen Besucher_innen. Mit dem „Kinetoskop“ von Thomas Alva Edison erobert der Film die Weltausstellung
30. April - 1. Dezember 1904 St. Louis
27. April - 6. November 1905 Lüttich
28. April - 11. November 1906 Mailand
23. April - 1. November 1910 Brüssel – 29.000 Aussteller aus 26 Ländern
26. April - 3. November 1913 Gent

Museumsgründungen rund um die Weltausstellungen

1852 Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg wurde 1852 auf Initiative des fränkischen Adeligen Hans Freiherr von und zu Aufseß gegründet und verdankt seine Entstehung dem „Ordnungssinn“ des 19. Jahrhunderts, dessen sichtbarstes Zeichen neben Museumsgründungen die Weltausstellungen waren.
1857 London, South Kensington Museum (heute: Victoria and Albert Museum)
1864 Wien, Museum für Angewandte Kunst (heute: MAK)
1866 Gewerbemuseum in Berlin
1868 Gewerbemuseum in Leipzig
1869 Bayerisches Gewerbemuseum (seit 2003 als Dauerleihgabe in Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum)

Die „Medienrevolution“ des 19. Jahrhunderts in wichtigen Daten und Fakten

Alphabetisierungsraten: um 1800 – 25%; 1871 – 88%; 1910 – ca. 100%
1797/99 Erfindung der Lithografie
Um 1800 Erfindung des Stahlstichs
1811 Einführung der Schnellpresse
1820er Aufstellen erster offizieller Briefkästen
1825 der Pariser Optiker Pierre Lemière entwickelt das Opernglas.
1830er Gründung von Nachrichtenagenturen
1839 Vorstellung der Fotografie
1840 Briefmarken und Telegrafennetz werden in Deutschland ausgebaut
1855 Erfindung der Litfaßsäule
1865 Unterseekabel verbindet Europa mit den USA
1869/70 Einführung der „Correspondenzpostkarte“ in der österreichisch-ungarischen Monarchie
1870er Einführung der Bildpostkarten und Alben
1877 Thomas Alva Edison stellt den Zinnfolien-Phonographen vor, ein Diktiergerät, das eine bis eineinhalb Minuten Gespräch aufnehmen kann (1889 sind es schon zwei Minuten).
1878 Chronofotografie durch Muybridge vorgestellt
Ab den 1880ern wird telefonieren in Deutschland möglich, da es hier nicht durch ein Patent geschützt wird.
1890er der Holzstich wird durch die Autotypie ersetzt – Fotografien werden gemeinsam mit dem Text druckbar
1907 Emile Berliner (1851–1929) erfindet die beidseitig bespielbare Langspielplatte mit insgesamt zehn Minuten Spieldauer

Ausstellungskatalog

Jutta Zander-Seidel, Roland Prügel (Hg.)
440 Seiten, 550 farbige Abb.
Festeinband 27,5 x 22,5 cm
ISBN 978-3-936688-82-5
Verlag des Germanischen Nationalmuseums

Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.