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Kunst und Spiritualität, Mythen oder einfach nur private Obsessionen 55. Biennale von Venedig – Teil 4

Anna Zemánková (1908-1986), Biennale von Venedig, Installationsfoto: Alexandra Matzner.

Anna Zemánková (1908-1986), Biennale von Venedig, Installationsfoto: Alexandra Matzner.

Im Zentralen Pavillon findet sich noch eine Reihe von weiteren Positionen, die weder innerhalb des Kunstzirkels geschaffen wurden noch für diesen bestimmt waren.

Anonyme tantrische Malereien treffen auf Zeichnungen aus der ethnologischen Sammlung des Wiener Fotografen und Volkskundlers Hugo A. Bernatzik (1897-1953) und Shaker Gift Drawings aus den USA (19.Jahrhundert). Morton Bartlett (1909-1992) hyperrealistische Puppen entstanden genauso im Geheimen wie die Fotografien von Kohei Yoshiyuki (* 1946), aber nicht die von Nikolay Bakharev (* 1946). Die Tarotkarten-Entwürfe von Frieda Harris (1877-1962) für Aleister Crowley (1875-1947) verweisen auf private Mythologien und Götterhimmel, während Guo Fengyi (1942-2010) sich als Medium empfand. Anna Zemánková (1908-1986) arbeitete nur für sich selbst, ließ Blumen erblühen und bekämpfte ihre Depression.

Anonyme tantrische Malereien weisen ovale Strukturen auf, die Shivas unendliche Macht repräsentieren (tantrika, Síva linga= Ovoid, 1960er bis 2004). Die ethnologische Sammlung des Wiener Fotografen und Volkskundlers Hugo A. Bernatzik (1897-1953) zeigt die menschliche Beschäftigung mit dem Zeichnen als „universelle Sprache“1, wobei die Blätter auch überlappende Repräsentationsstrategien unterschiedlicher Kulturen in Melanesien belegen.

Von der anderen Seite der Welt stammen die „Shaker Gift Drawings“, Zeichnungen von 16 Shakern aus den USA des 19. Jahrhunderts. Obwohl die Sekte der Shaking Quakers ein absolutes Bilderverbot ausüben, gestalteten ihre Schöpfer_innen in diesen ornamentierten Blättern Bilder von Visionen, die zur Lehre verwendet wurden.

Der amerikanische Fotograf und Grafiker Morton Bartlett (1909-1992) fertigte zwischen 1936 und 1963 im Geheimen anatomisch perfekte Puppen, die er auch in Fotografien inszenierte. Sie wurden erst nach seinem Tod von einem Antiquitätenhändler im Nachlass entdeckt und werden seither ausgestellt. Von den ca. 15 noch existierenden, erstaunlich lebensechten Puppen sind drei im Zentralen Pavillon zu sehen. Leider fehlen die dazugehörigen, inszenierten Fotografien und Farbdias (ca. 200 Fotos und 17 Stück Dias).

Zu den privaten Obsessionen gehören wohl auch die schwarz-weiß Fotografien von Kohei Yoshiyuki (* 1946), der zwischen 1971 und 1979 Duzende von Nachtaufnahmen kopulierender Paare und Spannern in Tokyoter Parks machte. 1980 fanden die Fotografien dann doch den Weg in die Kunstwelt, als sie erstmals ausgestellt und dann publiziert wurden.

Einen Raum weiter werden Fotografien des Russen Nikolay Bakharev (* 1946) gezeigt, die Menschen am Strand porträtieren. Unbekümmert präsentieren sie sich dem Fotografen, dem es gelingt, einen Hauch von Poesie in Bilder von Freundschaft und Zusammengehörigkeit zu zaubern.

Das Okkulte thematisieren die Tarotkarten-Entwürfe von Frieda Harris (1877-1962) für Aleister Crowley (1875-1947). Die 78 nach seinen Vorstellungen gestalteten Karten entstanden über einen Zeitraum von fünf Jahren (1938-43), nachdem die beiden einander 1937 kennengelernt hatten. Wie im „Roten Buch“ von C.G. Jung ist auch diese Bildschöpfung von Symbolen der Weltkulturen durchsetzt: Beispielsweise zeigt die Mond-Karte den schakalköpfigen Gott Anubis. Inhaltlich folgen sie jedoch dem privaten Götterhimmel des Spiritisten Aleister Crowley.

Anna Zemánková (1908-1986) kam über ihren Sohn Bohumil zum Zeichnen und Malen, da sie nach ihrer Menopause in Depressionen verfallen war. Sie widmete sich immer zwischen vier und sieben Uhr morgens der künstlerischen Beschäftigung, tranceartig entstanden so gezeichnete und gestickte Bilder von amorphen Formen und Blumen, die, wie Zemánková feststellte, „sonst nirgendwo blühen“ (Biennale-Katalog, S. 198).

Ähnlich verhielt es sich mit der Chinesin Guo Fengyi (1942-2010), die, nachdem sie bereits jahrelang Qigong praktiziert hatte, 1987 eine Vision erlebte und zu zeichnen begann. In den folgenden 13 Jahren bis zu ihrem Tod 2010 entstanden etwa 1000 Zeichnungen mit Tusche, Kugelschreiber und Bleistift in der Form von traditionellen, horizontalen Rollbildern. Sie stellte darin Figuren der chinesischen Mythologie und Legenden dar, widmete sich aber auch der Krankheit SARS. Zeichnen, so die Künstlerin, sollte ihr helfen zu verstehen.

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  1. So der Buchtitel, unter dem die Blätter 2011 in Wien publiziert wurden: Doris Byer, Christian Reder (Hg.), Zeichnung Als Universelle Sprache / Drawing As Universal Language: Hugo A. Bernatzik Sammlung Collection 1932-1937, Wien 2011.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.