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Der spielende, sammelnde und staunende Mensch 55. Biennale von Venedig: Il Palazzo Enciclopedico – Teil 5

Peter Fischli/David Weiss (* 1952/1946-2012), Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview, 1981-2012, Learning from Las Vegas, Installationsfoto: Alexandra Matzner.

Peter Fischli/David Weiss (* 1952/1946-2012), Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview, 1981-2012, Learning from Las Vegas, Installationsfoto: Alexandra Matzner.

Der unterhaltsamste Raum im Zentralen Pavillon ist jener von Dorothea Tanning (1910-2012) sowie Peter Fischli und David Weiss (* 1952/1946-2012), die in der Ton-Figuren-Serie „Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview“ (1981-2012) einen humorvollen Blick auf die Welt geben: Dorothea Tanning zeigt sich in einem „Selbstporträt“ (1944) als kleine Figur vor der gigantischen Bergkulisse von Arizona, wohin sie gemeinsam mit Max Ernst ein Jahr zuvor, aus New York kommend, übersiedelt war. Tanning hat in ihrer Position durchaus einen gewissen Überblick, wenn auch der Eindruck vorherrscht, sie wäre durch die Natur mehr eingeschüchtert und nicht, als würde sie sie beherrschen.

Fischli/Weiss führen vor Augen, wie der Spieltrieb des Menschen zu höchst kreativen Schöpfungen führen kann. Die kleinformatigen Tonfiguren sprühen vor Witz und Ironie. Sie zeigen, z.B. was es heute hieße, der berühmten Theorie „Learning from Las Vegas“ (1972, von Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour publiziert) zu folgen, erklären den „Gegensatz von Theorie und Praxis“, zeigen das zermatschte Gesicht von „Cassius Clay nach dem Kampf gegen Joe Frazier“, enthüllen, wie „Roald Amundsen den Nordpol“ und „Filippo Brunelleschi die Perspektive“ (er)fanden, enträtseln die vita activa vs. melancholica, illustrieren die „Desastres la guerra“ neu. Die insgesamt ca. 180 handlichen Tonskulpturen entwickeln einen hintergründig-humorvollen Blick auf Traditionen, Wortschöpfungen, Historisches und gesellschaftliche Konventionen.

Auf der Ebene darunter sind Fotografien von Viviane Sassen (* 1972) mit metaphysischer Geheimniskrämerei sowie Shinro Ohtake (* 1955) seit 1977 entstandene „Scapbooks“ ausgestellt. Mehr als 60 höchst unterschiedlich gestaltete Bücher führen sie – ähnlich wie in der Arbeit von Carl Andre und doch viel expressiver was Farben und Formen anlangt – Fundstücke zusammen. Sie sind keine Tagebücher, sondern „Kristallisationspunkte der visuellen Kultur“ (Biennale-Katalog, S. 135).

Auch die wenig bekannte Arbeit „Passport“ (1960) von Carl Andre (* 1935) im anschließenden Raum kreist um die Idee des Zusammenstellens eines inneren Bildes, wurde das Notizbuch doch mit all jenen Fotografien von Illustrationen, Skulpturen usw. gefüllt, die den jungen Künstler beschäftigten.

Irgendwo zwischen Kunstproduktion und persönlichem Ausdruckswillen siedeln die Werke von Friedrich Schröder-Sonnenstern (1892-1982), der als Art Brut Künstler mit den Surrealisten gemeinsam ausstellte und nackte Frauen mit Monstren und Herzen auf dekorative Weise miteinander verband.

Levi Fisher Ames (1843-1923) ist mit einigen seiner phantasievollen und phantastischen kleinen Holztiere vertreten, die er ab den frühen 1880ern für ca. 30 Jahre auf Wanderschaft mitnahm und dem erstaunten Publikum zeigte.

Völlig neue Tierspezies erfand auch der römische Maler Domenico Gnoli (1933-1970) in der Serie „Was ist ein Monster?“ (1967). Das moderne Bestiarium erinnert an Hieronymus Boschs phantastische Kreaturen, lässt die Druckgrafik des frühen 16. Jahrhunderts als Vorläufer erscheinen und sind durch die Settings dennoch deutlich in den 1960er Jahre verankert. Skurril!

Der französische Philosoph und Soziologe Roger Caillois (1913-1978) hätte sich wohl nie träumen lassen, dass seine Mineralien-Sammlung2013 in einer Ausstellung zeitgenössischer Kunst gezeigt werden würde. Er bewunderte an ihnen ihre Muster, Farben, Strukturen, die ihn an Landschaften, Schatzkammern der Natur erinnerten. Caillois suchte nach „Schrift im Stein“ und fand den Schriftgranit mit keilschriftartigen Formationen. Nicht die Geologie der Steine interessierte den Intellektuellen, sondern die von den Naturwissenschaften ausgegrenzten Erfahrungsbereiche der Mystik, des Traums, der Imagination, weshalb er dann auch wieder perfekt in die Ausstellung passt.

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Bilder

  • Peter Fischli/David Weiss (* 1952/1946-2012), Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview, 1981-2012, Learning from Las Vegas, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Peter Fischli/David Weiss (* 1952/1946-2012), Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview, 1981-2012, Was sollen wir tun?, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Peter Fischli/David Weiss (* 1952/1946-2012), Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview, 1981-2012, Cassius Clay nach dem Kampf gegen Joe Frazier, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Peter Fischli/David Weiss (* 1952/1946-2012), Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview, 1981-2012, Unterirdisch, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Peter Fischli/David Weiss (* 1952/1946-2012), Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview, 1981-2012, Brunelleschi entdeckt die Perspektive, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Peter Fischli/David Weiss (* 1952/1946-2012), Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview, 1981-2012, Desastres de la guerra, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Peter Fischli/David Weiss (* 1952/1946-2012), Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview, 1981-2012, Konstruktion und Destruktion, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Peter Fischli/David Weiss (* 1952/1946-2012), Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview, 1981-2012, Amundsen fragt nach dem Weg zum Nordpol, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Peter Fischli/David Weiss (* 1952/1946-2012), Plötzlich diese Übersicht/Suddenly This Overview, 1981-2012, Theorie und Praxis, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Viviane Sassen (* 1972) auf der Biennale, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Shinro Ohtake (* 1955), Scapbooks, ab 1977, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Shinro Ohtake (* 1955), Scapbooks, ab 1977, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Shinro Ohtake (* 1955), Scapbooks, ab 1977, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Carl Andre (* 1935), Passport, Detail, 1960, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Carl Andre (* 1935), Passport, Detail, 1960, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Friedrich Schröder-Sonnenstern (1892-1982) auf der Biennale, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Levi Fisher Ames (1843-1923), Bestiarium, um 1870-1900, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Levi Fisher Ames (1843-1923), Bestiarium, um 1870-1900, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Levi Fisher Ames (1843-1923), Bestiarium, um 1870-1900, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Domenico Gnoli (1933-1970), aus der Serie: Was ist ein Monster?,1967, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Roger Caillois (1913–1978), Mineralien-Sammlung auf der Biennale, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Roger Caillois (1913–1978), Mineralien-Sammlung auf der Biennale, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
  • Roger Caillois (1913–1978), Mineralien-Sammlung auf der Biennale, Installationsfoto: Alexandra Matzner.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.