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Abteilkirche von Saint-Denis: der „Gründungsbau“ der gotischen Architektur

Die heute in einem der Pariser Außenbezirken gelegene Abteikirche von Saint-Denis war im Mittelalter noch nicht eingemeindet. Da die Abtei als Grablege der französischen Könige und als Aufbewahrungsort der Kroninsignien seit den Merowingern fungierte, galt sie als eine der wichtigsten Klosterkirchen des Landes. Pippin, der Vater Karls des Großen, war 754 in Saint-Denis zum fränkischen König gesalbt und dessen Urenkel Karl der Kahle dort bestattet worden. Zudem glaubte man, dass in der Abteikirche auch der französische Nationalheilige Dionysius bestattet worden wäre. Dieser angeblich erste Bischof von Paris und sein Namensvetter, der Schüler des Apostels Paulus Dionysos Areopagites, wurde zudem miteinander verschmolzen und dieser fiktiven Figur die Schriften „Pseudo-Dionysios“ zugeschrieben. Darin findet sich die Überzeugung, dass der König als ein göttlicher Vertreter an der Spitze der Gesellschaft steht.

Der Umbau der symbolträchtigen Abteikirche unter Abt Suger (lat. Sugerius, 1081–1151) sollte die Herrschaftsansprüche des französischen Königtums bestärken. Daraus leitete der Abt eine staatspolitische Rolle ab, die er persönlich als Verantwortlicher für den Umbau und bei der Planung desselben mitberücksichtigte. Als der Chor eingeweiht wurde, trug König Ludwig VII. persönlich die Gebeine des Hl. Dionysius aus der alten Krypta in den neuen Oberchor.

Abt Suger stand im Dienst der Könige von Frankreich und konzentrierte sein Interesse v. a. auf die Neuerungen der Kunst. Er war gemeinsam mit Ludwig VI. in St-Denis erzogen worden und war später einer der engsten Freunde des Königs. Als Vertrauter, wichtiger Berater und Diplomt stand Abt Suger im Dienst Ludwigs VI. und Ludwigs VII. Als Ludwig VII. gemeinsam mit seiner Frau am zweiten Kreuzzug teilnahm (1147–1149) ernannte er Abt Suger zum Reichverwalter, was dieser zur Zufriedenheit erfüllte. Abt Sugers ganzes Streben galt der Stärkung der Macht des französischen Königs, die weniger auf politische oder wirtschaftliche Dominanz in Frankreich beruhte als auf der geistigen Ebene als gesalbter König. Er griff dabei zu einem überaus publikumswirksamen Mittel, das symbolisch-imperialen Wert besaß: er veranlasste den teilweisen Neubau der Klosterkirche von Saint-Denis. Nachdem Suger 1122 Abt von St. Denis wurde, veranlasste er die Renovierung.

 

Spitzbogen, Strebepfeiler und gotische Rosette

Das Langhaus der Abteikirche stammte aus der karolingischen Zeit und sollte bestehen bleiben. Anfangs waren nur der Neubau von Westbau und Chorabschluss angedacht; das Langhaus wurde im 13. Jahrhundert erneuert. Die Leistung von Abt Suger war, die Raumteile von St. Denis auf eine neue, besonders ausgewogene Art miteinander zu verschränken. Damit setzt sich dieser Bau von dem gleichzeitig entstandenen, aber romanischen Kloster Paray-le-Monial (um 1090–1130) mit den additiv zusammengesetzten Bauteilen ab und „erfand“ die Gotik. Als richtungsweisender Bau der Frühgotik in Frankreich wurde die Abteikirche in der Kathedrale von Chartres nach deren Brand 1194 künstlerisch übertrumpft. Es sollte nahezu 100 Jahre dauern, bis die neue Ästhetik und Bauweise sich in Frankreich durchsetzte.

Die einzelnen Bau- und Dekorationsformen von St-Denis sind keine Neuerfindungen. Vor allem in England, der Normandie und in Burgund waren sowohl der burgundische Spitzbogen als auch das normannische Rippengewölbe bereits zuvor eingesetzt worden. Das Neue an der Abteikirche von St. Denis ist die stringente Kombination der einzelnen Elemente– die Konsequenz, mit der diese Synthese durchgeführt wurde, markiert den Beginn einer neuen Epoche. St-Denis entstand nicht als einfache Fortentwicklung der romanischen Architektur, sondern in bewusster Auseinandersetzung mit der Tradition und mit dem Ziel, etwas Neues zu schaffen. Der frühgotische Chor war allerdings so filigran gebaut, dass er bereits 1231 einzustürzen drohte und ersetzt werden musste.

 

Neuerungen in der Abteikirche von St. Denis

Westbau | Westfassade | Westwerk, um 1137–1140

  • Portalanlage mit Doppelturmfassade (Während der Französischen Revolution wurden der Nordturm und die Portalskulpturen zerstört.)
  • Grundriss von drei Joch Breite und zwei Joch Tiefe
  • Drei Portale als repräsentativer Zugang
  • Reicher Skulpturenschmuck an den Portalen
  • Im Obergeschoss sind mehrere Kapellen untergebracht. Hier kommen dicke Bündelpfeiler und modernes Kreuzrippengewölbe zum Einsatz.
  • Dreiteilung der Fassade spiegelt das dreischiffige Langhaus wider
  • Wehrhafter Charakter mit Zinnenkranz erinnert an eine Burganlage, was als Zeichen weltlicher Macht verstanden werden kann.
  • Plastisch stark gegliederte Strebepfeiler, was sich in den Türmen fortsetzt
  • Fassade reich gegliedert und stärker differenziert als beispielsweise der Westbau der Abtei von St.-Etienne in Caen, der Grablege des normannischen Herzogs und englischen Königs Wilhelm dem Eroberer.
  • Geschosshöhen zwischen Mitte und Seiten sind nicht gleich hoch
  • Stärkeres Verbinden von Baukörper und Türmen
  • Rosenfenster: Dieser Bauteil wird das Erscheinungsbild der gotischen Fassaden maßgeblich prägen.

Chorabschluss, 1140–1144

  • Doppelter Chorumgang (verdoppelt im Vergleich zu romanischen Bauten), wodurch eine Umgangskrypta entsteht
  • Stützelemente: schlanke, monolithe Rundpfeiler und Wand mit einer reichen Abfolge von Diensten (meist Halbsäulen), von denen bis zu acht Rippen ausstrahlen.
  • Dadurch konnte die Wandfläche weitgehend reduziert werden. Zudem wird sie von schlanken Diensten verstellt.
  • Rippengewölbe systematisch angeordnet
  • Optisches Verschmelzen von Chorumgang und Kapellen
  • Vergrößerung der Fenster im Vergleich zu den romanischen Bauten. Sie nützen die gesamte zur Verfügung stehende Wandfläche aus und schneiden in das Gewölbe ein. Als Folge erscheint der Raum in einer neuen Helligkeit.
  • Untergeschoss des Chorumgangs und der Kapellen ist bis heute im Original erhalten.

Langhaus, 1247–1281

Da die Legende besagte, dass das Langhaus angeblich von Christus selbst geweiht worden wäre, sollte es anfangs erhalten bleiben. Abt Suger dachte daran, antike Säulen aus Rom zu beschaffen, um sie dort aufstellen zu lassen. Mitte des 13. Jhs war die Bedeutung dieser Legende in den Hintergrund getreten, so dass an bauliche Veränderungen gedacht werden konnte.

Quellen nennen ab 1247 den angesehenen Pariser Architekten Pierre de Montreuil als Bauleiter. 1281 war der Bau des Langhauses abgeschlossen. Wie schon im ersten Drittel des 12. Jhs spielte die Abteikirche von St. Denis eine große Rolle in der Entwicklung und Durchsetzung eines neuen Stils, der sogenannten Raionnant-Gotik. Um 1231 war der Umgangschor aus der Frühgotik so einsturzgefährdet, dass an eine Veränderung gedacht werden musste. Vielleicht stand aber auch der Wunsch dahinter, einen stilistisch einheitlicheren Raum zu schaffen (vergleichbar den Kathedralen von Chartres, Reims oder Amiens).

Wenn auch der doppelte Chorumgang des 12. Jh. erhalten blieb, so ersetzte Pierre de Montreuil im Chor die Rundpfeiler. Im Langhaus benutzte er ab 1231 Pfeiler über kreuzförmigem Grundriss - ein Novum. Der Pfeilerkern wird hier von Dienstbündel verborgen. So kommt es zu einer Vereinheitlichung der Pfeiler zwischen dem Langhaus und der Vierung. Da die Dienste von der Bodenplatte ohne Zäsur bis in die Gewölbezone führen, kann die Kapitellzone gestaltet werden: Erst dadurch wurde es möglich, auf einzelne Kapitelle zu verzichten, um die Geschosse stärker zusammenzufassen und den Höhenzug sowie die Harmonisierung zu betonen.

Die durch Dienste gegliederten Wände der Abteikirche wirken filigran und leicht. Dem Vorbild von Amiens folgend, hat man auch hier die Verglasung bis in die Triforienzone heruntergezogen; die großen Maßwerkfenster sind reich strukturiert. Im Unterschied zu den klassischen Kathedralen ist das Langhaus nun sehr breit, der Innenraum wirkt in seiner Weite luftig und leicht. Den krönenden Abschluss der Architektur bilden neben dem Chor vor allem die Fenster der inneren Querhausfassaden mit den großen Rosen. Bezeichnenderweise legen diese Querhausrosen das Maßverhältnis und damit die Aufrissgestaltung der gesamten Kirche fest: Die Rosenfenster nehmen die volle Breite des Querhauses ein; als unterer Abschluss dient ein Triforienband. Der Radius der Rosen bedingt daher einerseits die Querhausbreite, andererseits die Lage der Triforien und schließlich auch die Höhen des Arkadengeschosses und der Fensterzone. Die Ableitung von Größe, Proportion und Lage einzelner Bauteile von einem gemeinsamen Bezugspunkt lässt das Gebäude harmonisch und vereinheitlicht erscheinen.

 

Glasfenster und Rosette – die Lichtmystik von Abt Suger

„Die edle Helligkeit des Werkes dazu da, um die Geister zu erleuchten und sie durch wahres Licht zu dem wahren Licht zu führen, dessen wahre Pforte Christus ist.“ (Abt Suger)

Er selbst berichtete in „Libellus de sua gestis“ (um 1145/50) und „De rebus in administratione“ über den Bau der Abteikirche und liefert damit seltene Einblicke in die Argumentationsstrategie eines geistlichen Bauherrn des frühen 12. Jhs.

Die neue Bedeutung großer, bunter Glasfenster ist nach Auffassung des Abtes Suger auf die spirituelle Wirkung des Lichtes zurückzuführen. Eine wesentliche Anregung dafür hatte der Abt wohl durch die damals verbreitete – irrtümliche – Annahme erhalten, dass der in St-Denis verehrte erste Bischof von Paris, der Hl. Dionysius, mit dem byzantinischen Theologen Dionysius Areopagita identisch wäre. Dieser hatte dem Licht in seiner Theologie ebenfalls Macht zugeschrieben. Nach Dionysius Areopagita war „das Göttliche der glühende Brennpunkt, von dem alle Inbrunst ausstrahlt und nach der sich alle (christliche) Sehnsucht verzehrt“. Suger bezeichnete das Leuchten als „Lux mirabilis et continua [wunderbares und ewiges Licht]“ und die Fenster als „sacratissimae vitrae [allerheiligste Fenster]“. Das Licht bringt Suger mit dem „Erleuchten“ in Zusammenhang: vom Materiellen (Licht der Fenster, Edelsteine) zum Geistigen (Licht Gottes). Das Licht, das Christus ist, strahlt aus und überbringt die Heilsbotschaft.