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Alexander Kluge: Das Pluriversum des Vorzeigeintellektuellen im Museum Installationen des deutschen Filmemachers im Folkwang und Belvedere 21

Alexander Kluge, Blick in den Abgrund der Sterne, 2017, Alfred Edel, Lieblingsschauspieler von Alexander Kluge und Christoph Schlingensief als Galaktischer Kämpfer gemalt von Margrit Sickert, Aus: Blick in den Abgrund der Sterne Filmstill, 11 Minuten © Kairos Film und Margit Sickert.

Alexander Kluge, Blick in den Abgrund der Sterne, 2017, Alfred Edel, Lieblingsschauspieler von Alexander Kluge und Christoph Schlingensief als Galaktischer Kämpfer gemalt von Margrit Sickert, Aus: Blick in den Abgrund der Sterne Filmstill, 11 Minuten © Kairos Film und Margit Sickert.

Soeben ist die Ausstellung „Alexander Kluge. Pluriversum“ im Museum Folkwang in Essen zu Ende gegangen. Ab Juni 2018 macht sie im Belvedere 21 in Wien Station. Um die Wartezeit bis zur erneuten Präsentation etwas zu verkürzen hier ein kleiner Rückblick auf die Ausstellung in Essen und ein inhaltlicher Ausblick auf den Kunstsommer in Wien mit Alexander Kluge.

Manege frei für Alexander Kluge

Noch bevor man das Pluriversum Alexander Kluges (*1932 in Halberstadt) im Museum Folkwang betritt, mag einem schon die Frage beschäftigen: Warum widmet ein Kunstmuseum einem sich selbst als Autor und Filmemacher bezeichnenden Vorzeigeintellektuellen wie Alexander Kluge eine Ausstellung? Bereits der im Eingangsfoyer angebrachte Lebenslauf sorgt dafür, dass jegliche Zweifel an Legitimität noch vor Betreten der Ausstellung aus dem Weg geräumt werden. Die Positionierung Kluges in der Kunstwelt macht etwa die Hälfte der Lebenslinie aus, obwohl seine Involvierung in die zeitgenössische Kunst erst 2006 beginnt: In der Londoner Serpentine Gallery hat Kluge 2006 und 2009 Filmabende gestaltet. 2007 zeigte er im Münchener Haus der Kunst die „Mehrfachbilder für 5 Projektoren“, seine erste räumliche Videoinstallation, welche nun in aktualisierter Form auch im Museum Folkwang zu sehen ist. 2012 nahm Kluge an der documenta 13 teil, 2015 war er auf der Biennale di Venezia vertreten. Zuletzt stellte Kluge 2017 in der Fondazione Prada in Venedig gemeinsam mit Thomas Demand und Anna Viebrock aus. Kooperationen mit Künstlern wie Gerhard Richter, Demand, Georg Baselitz und Künstlerinnen wie Kerstin Brätsch, Adele Röder und Sarah Morris komplettieren die Legitimierung. Genug Referenzen um Alexander Kluge auch mit dem Prädikat Künstler zu versehen? Kuratorin Anna Fricke sagt ja. Es ist an der Zeit den musealen Raum für die künstlerische Denk- und Arbeitsweise Kluges frei zu geben.

Kosmische Dimension im Œuvre Kluges

Das Lebenslaufentrée wird akustisch von drei Interviews Kluges begleitet, die sich durch die nahe Positionierung der Lautsprecherboxen bis in die Unverständlichkeit überlagern. Von hier aus geht es weiter in den ersten Ausstellungsraum mit dem Titel „Sternenkarte der Begriffe“. Auf einer Sternenhimmeltapete versammeln sich Zitate, einzelne Begriffe, Begriffskombinationen sowie pseudomathematische Wurzelfunktionen frei im Raum. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen Hasen“, „Die meiste Zeit ist Gabi Teichert eher verwirrt: Das ist eine Frage des ZUSAMMENHANGS.“, „Eingemachte Elefantenwünsche“, „Philosophie der Fußsohle“, „Zirkus“ und „√-1“ oder „7√Ich“ fungieren als Referenzen auf das Œuvre Kluges und als Teaser für die in den folgenden Sälen ausgestellten Exponate. Zentral im Raum auf einem Museumspodest ist eine Flaschenpost positioniert. Das dazugehörige Schild verrät: „In Seenot werfen Seeleute eine Flaschenpost ins Wasser: solche Hoffnung zeigt Mut.“, passend zu der Flut an Assoziationen und Verwirrung, die der erste Raum bei Kluge-Neulingen verursachen kann.

Lebenszeit als Währung

Im anschließenden Raum wartet die nächste Reizüberflutung, welche sich dem Leben per se widmet und postuliert, dass unsere Lebenszeit eine Währung ist. Sechs Videos gehen auf Teilbereiche des modernen Lebens ein: Arbeit, Anti-Arbeit, Liebe und Krieg. Textinserts – bewusst in trashiger WordArt-Schrift gehalten, um sich von Werbung und Design abzugrenzen – kommentieren und ergänzen die Bilder.

Die Einführung erfolgt über eine Kopie von Paul Klees berühmten Aquarell „Angelus Novus“, daneben ein Original von Klees „Stachel, der Clown“ - ein humoristischer Verweis auf Walter Benjamins Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, welche die Thematik der Aura des Originals ins Bewusstsein bring. Insofern relevant, als der Raum von sechs wenig auratischen Videoarbeiten dominiert wird. Fünf „objects trouvées“ ergänzen das Ensemble: eine Lupe, ein Fernrohr, ein Hebammenwerkzeug, ein Teleskop sowie ein Blindgänger. Letzterer hat – zumindest bei der Autorin dieses Textes – eine stark „auratische“ Wirkung.

„Wo du nicht lieben kannst, da geh’ vorüber“

Dieses Zitat begegnet dem Ausstellungsbesucher mehrmals in den musealen Räumlichkeiten und ist wie eine Bedienungs- oder Handlungsanleitung zu lesen. Das Überangebot an Filmen, Bildern, Zitaten, Kurzgeschichten, Gesichtern, Assoziationen und eigenen Gedanken soll sich so der individuellen Erfahrung unterordnen. Mit anderen Worten: Jeder soll seine eigene Ausstellungserfahrung seinen eigenen Interessen, Gedanken und Assoziationen gemäß kreieren. Die gezeigten Exponate sollen bloß als Stimuli für einen intellektuellen Prozess fungieren.

Das bewusste Nicht-Anführen der Zitatquellen hat auch seinen Sinn. Durch die Nennung eines Namens findet sofort eine Kontextualisierung statt. Wenn ich beispielsweise lese „Nur Arbeit ohne Spiel macht dumm.“ (Karl Marx) verbinde ich dies sofort mit einem konkreten historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext. Dies kann allerdings eine sehr beschränkende Wirkung haben. Bei Kluge ist es jedenfalls ratsam, sich gedanklich zu öffnen und von derartigen starren Verbindungen zu befreien. Das einführende Zitat ist übrigens von Elenora Duse, der große italienische Schauspielerin der Jahrhundertwende, die auch schrieb:

„Ist es Kunst, über die ich zu Euch sprechen soll? (...) Ich glaube ja, aber glaub Ihr, dass man über Kunst sprechen kann? Es wäre dasselbe, wie wenn man die Liebe erklären wollte. (...) Es gibt so viele Arten zu lieben und es gibt eben so viele Offenbarungen der Kunst“1. (Elenora Duse in einem Brief an Icilio Polese Santarnecchi)

„Mehrfachbilder für 5 Projektoren“

Vorbei am „Arbeitszimmer“ Kluges, gelangt man zum Herzstück der Ausstellung: der raumübergreifenden Videoinstallation „Mehrfachbilder für 5 Projektoren“. An den vier Wänden und der Decke werden Filmsequenzen, teils in Split Screen, gezeigt. Die Videos sind aufeinander abgestimmt und zeigen ein umfangreiches Spektrum der modernen Erfahrungswelt von 1917 bis 2017: die aktuelle mediale politische Sphäre wird mit Aufnahmen von Merkel, Trump und Putin visualisiert – unter den Aufnahmen ist etwa das von Kent Nagano dirigierte Konzert in der Hamburger Elbphilharmonie im Rahmen des G20-Gipfels 2017. Im Kontrast dazu zeigt Kluge Bilder von Krieg und Flüchtlingsbooten. Der technische Fortschritt und die Wissenschaft werden ebenso filmisch visualisiert. Dem gegenüber präsentieren sich lange Einstellungen der steten Natur.

Das Prinzip der Installation ist ebenso simpel wie überzeugend: Die einzelnen Filme für sich sind eindimensional. Indem man den Blick – ob nun metaphorisch oder buchstäblich - zur Seite oder nach oben hin öffnet und damit die Perspektive wechselt, werden neue Zusammenhänge sichtbar. Kluge bietet dem Betrachter mit seiner Installation ein Angebot an Zusammenhängen und eine Schule der Reflexion, die sich auch in den Alltag mitnehmen lässt.

Kluge und die Kunstwelt

In den beiden letzten Räumen „Archiv – Das Gedächtnis der Bilder“ und „Uns trennt von Gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage“ werden Kooperationen Kluges mit verschiedenen KünstlerInnen, FilmemacherInnen und TheoretikerInnen vorgestellt. Ein sehr anschauliches Beispiel stellt die filmische Ergänzung zu Thomas Demands Fotografie „Backyard“, welche den unscheinbaren, ja – mit einem blühenden Kirschbaum – geradezu idyllischen Hinterhof des Hauses eines der beiden Boston-Attentäter zeigt. Dem Film kommt dabei eine kunstvermittelnde Funktion zu, indem es jene Fotografie um mediale Filmaufnahmen ergänzt, holt es die Fotografie zudem zurück in die Realität. Weitere Kurzfilme zeigen Kluge im Gespräch mit Thomas Demand, Gerhard Richter, Hans Belting und Werner Nekes – er führt darin den Dialog als anschaulichen Prozess des Erkenntnisgewinns vor.

„Wer an die Märchen nicht glaubt, war nie in Not.“

Im letzten Raum erwartet den Besucher ein kleines Holzhäuschen, eine Urhütte, welche im Inneren mit Bildern und Texten zu den Grimm’schen Märchen aufwartet. Daneben an der Wand die Worte: „Wer an die Märchen nicht glaubt, war nie in Not.“ Dass die Grimm’schen Märchen alles andere als harmlos und unschuldig sind, ist bekannt. So zeigt ein 2017 aufgenommenes kurzes Gespräch Kluges mit Michael Haneke über „Das eigensinnige Kind“, das kürzeste Märchen der Gebrüder Grimm, die regulative Funktion und Brutalität der Märchen auf. Auf einem Tisch voller Tabletts kann der Betrachter neben jenem Video weitere Kooperationen Kluges mit Helge Schneider sehen oder den Kurzfilm für ein modernes Märchen mit dem Titel „Die Ziege geht in die Stadt“. Das Narrativ wird in diesem letzten Raum als Kunstform präsentiert. Zurecht, da das Narrativ aufgrund seiner Zuordnung zu Literatur und dem Filmgenre vermehrt mit Unterhaltungskultur und weniger mit Kunst in Verbindung gebracht wird. Abermals in dieser Ausstellung öffnet Kluge damit den Blick über Grenzen hinaus und fordert einen umfassenderen Begriff dessen, was hinlänglich als Kunst verstanden wird. Und das ist es schließlich, was die Avantgarde-Kunst auch der Gegenwart ausmacht, die Öffnung hin zu neuen Denkmustern, Disziplinen und Kunstformen. Dies hat Alexander Kluge vorbildlich mit seiner Ausstellung gemeistert.

Kuratiert von Anna Fricke

Alexander Kluge. PLURIVERSUM: Ausstellungskatalog

Hg. von Museum Folkwang Essen und dem Belvedere 21
In deutscher und englischer Sprache
472 Seiten, ca. 240 Abbildungen
ISBN 978-3-95905-171-2
Spector Books, 2017

Alexander Kluge: Bilder

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* 1987 in Rohrbach/OÖ, Studium der Kunstgeschichte und Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und Paris. Seit 2009 im Bereich der zeitgenössischen Kunst tätig. Publikationen u.a. für die Sammlung Verbund Wien, BOZAR Brüssel, Hamburger Kunsthalle und Kunst im öffentlichen Raum Wien. Lebt und arbeitet als freie Autorin in Köln.