Leonardo da Vinci, Kopf eines Kriegers, Detail, 1504, Rötel, 19 x 21 cm (Szepmueveszeti Muzeum, Budapest)
Anfang Oktober 1503 erhielt Leonardo da Vinci von Gonfaloniere Piero Soderini den Auftrag, die „Schlacht von Anghiari“ zu malen; knapp ein Jahr später sollte auch Michelangelo Buonarroti ein Schlachtengemälde, die „Schlacht von Cascina“, anfertigen.1
Die „Schlacht von Anghiari“ sollte ein etwa 18 Meter breites Wandgemälde werden, das den Florentiner Sieg von 1440 über die Truppen der in Mailand herrschenden Visconti darstellen sollte.2 Das Werk war für den Großen Ratssaal des Palazzo della Signoria bestimmt. Die vollständige Komposition ist unbekannt. Es wird vermutet, dass Leonardo wahrscheinlich die von links vorrückenden Mailänder Truppen, in der Mitte ein wildes Reitergefecht zwischen vier Hauptleuten und auf der rechten Seite, jenseits eines Flusses, über den eine strategisch wichtige Brücke führt, die versammelte florentinische Kavallerie darstellen wollte.
Obwohl die Fresken von Leonardo und Michelangelo nie ausgeführt wurden, hatten sie eine unschätzbare Wirkung auf die nachfolgenden Generationen. Am deutlichsten wird dies in den Werken der Künstler des 16. Jahrhunderts, die die Kartons von Leonardo und Michelangelo noch im Original sahen. Leonardos „Kampf um die Standarte“, das zentrale Bildmotiv, wird am besten durch eine Zeichnung im Louvre vermittelt, die Peter Paul Rubens überarbeitet hat.3
Leonardo da Vinci erhielt am 3. Oktober 1503 den Auftrag für die „Schlacht von Anghiari“ vom Gonfaloniere Piero Soderini.4 Diese Schlacht fand am 29. Juni 1440 in der Nähe der toskanischen Stadt Anghiari statt und endete mit einem Sieg der Florentiner und ihrer päpstlichen Verbündeten über die mailändischen Truppen. Die wichtigste Episode der Schlacht war die Eroberung der feindlichen Fahne oder Standarte, was Leonardo da Vinci zum zentralen Element seines Historiengemäldes machte.
Auftragsvergabe und Themenwahl sind vor dem politischen Hintergrund zu sehen. Eines der wichtigsten Ziele von Florenz in den Jahren 1503 bis 1509 war die Rückeroberung von Pisa, das sich 1494 gegen die florentinische Oberherrschaft aufgelehnt hatte. Die Florentiner versuchten sogar, den Arno von Pisa wegzuleiten. Leonardo da Vinci arbeitete 1503 an diesem Projekt; von seiner Hand ist der Plan eines Arno-Kanals erhalten, der jedoch in dieser Form nicht verwirklicht wurde. Die Darstellung der Schlacht von Anghiari sollte den zeitlich letzten großen Sieg der Florentiner darstellen und kann auch als Plädoyer für den militärhistorisch wichtigen Einsatz der leichten Kavallerie gedeutet werden.5 Zudem sollte eine florentinische Miliz die Söldnerheere ersetzen, ein Projekt Niccolò Machiavellis.
Leonardo kannte die Gegend um Anghiari gut. Der Künstler arbeitete auf der Grundlage eines Berichts in Leonardo di Piero Datis „Trophaeum Anglaricum“ (1443), den Agostino Vespucci für ihn übersetzt hatte und der im „Codex Atlanticus“ (fols 202a, 202b) erhalten ist6 Noch im Oktober kommentierte Vespucci seine Abschrift von Ciceros „Epistulae ad familiares“ (Universitätsbibliothek Heidelberg) mit den Worten:
„[Apelles] pictor. Ita leonar dus uincius facit in omnibus suis picturis. ut est Caput lise del gio condo. et anne matris uirginis videbimus quid faciet de aula magni consilii. de qua re conuenit iam cum vexillario. 1503. 8bris [[Apelles] ist ein Maler. Das ist es, was Leonardo in all seinen Gemälden tut. ebenso wie das Haupt der Lise del Giocondo [Mona Lisa]. und Anna, die Mutter der Jungfrau. wir werden sehen, was er mit dem Saal des großen Rates tun wird. worüber er sich bereits mit dem Fahnenträger beraten hatte. 1503. 8ber]“ 7
Im „Kampf um die Standarte“ konzentrierte sich Leonardo auf die Darstellung von vier Hauptleuten in einem erbitterten Kampf: Francesco Piccinino und sein Vater Niccolò (die Hauptleute der Mailänder Streitkräfte aus Perugia); sowie Lodovico Scarampo und Piergiampaolo Orsini (die Hauptleute der verbündeten päpstlichen und florentinischen Armeen).8 Das Werk ist in mehreren Kopien dokumentiert, von denen die eindrucksvollste von Peter Paul Rubens angefertigt wurde, als er eine Zeichnung eines Anonymus aus dem 16. Jahrhundert überarbeitete.
Der Kampf um die Standarte war höchstwahrscheinlich nur das zentrale Element einer größeren Komposition. Als die Signoria Leonardo 1507 eine Frist setzte, gab sie sich damit zufrieden,
„wenn der besagte Leonardo beginnen würde, die Wand des besagten Raumes mit jenem Teil [„quella parte“] zu bemalen und auszumalen, den er gezeichnet und in dem besagten Karton beigefügt hat.“9
Dies impliziert, dass Leonardos Karton nur einen Teil einer größeren Komposition darstellt. Diese Schlussfolgerung wird durch seine Skizzen von Schlachten oder Kavalleriegefechte bestätigt, die nicht in direktem Zusammenhang mit dem Karton stehen.10 Eine zarte Kompositionsskizze in schwarzer Kreide scheint eine sich der Schlacht nähernde Kavallerie zu zeigen, und eine heute stark verblasste Kohlezeichnung zeigt Fußsoldaten und Kavallerie in heftiger Auseinandersetzung.
Am 24. Oktober erhielt Leonardo die Schlüssel zur Sala del Papa im Chiostro Grande von Santa Maria Novella von Santa Maria Novella, um dort den Karton für die „Schlacht von Anghiari“ im Maßstab 1:1 anzufertigen. Leonardo trat wieder in die Lukasgilde ein und begann mit der Arbeit an seinem Porträt der Lisa del Giocondo, besser bekannt als „Mona Lisa“ (um 1503–1517, Louvre) aber auch am Karton „Hl. Anna selbdritt” (um 1503–1519, Louvre).
Zwischen 1504 und 1505 wurde dem Künstler auch ein festes Gehalt ausgezahlt. Das Bausekretariat des Palazzo tätigte auch Zahlungen an Leonardos Gehilfen, für größere Mengen Papier (28.2.1504) und Leim für den Karton, für Malutensilien und ein bewegliches Gerüst (30.8.1504). Weitere Zahlungen gingen an Apotheker für Grundierungs- und Anstrichmittel (30.8.1504). Am 4. Mai 1504 wurde Leonardo ein überarbeiteter Vertrag für die „Anghiari-Schlacht“ übermittelt, wonach die Arbeiten am Karton bis Ende Februar 1505 abgeschlossen sein mussten.11
Im Frühjahr 1505 begann Leonardo da Vinci mit der Ausführung des Wandgemäldes: Am 28. Februar erhielt er eine Zahlung für Gerüste in der Sala del Gran Consiglio. Erneute Zahlungen am 30. April für Gerüstbau und Malermaterialien. Papier wurde bestellt für das Gemälde („per la pictura“), möglicherweise für den Ersatzkarton zur Übertragung des Entwurfs. Weiters ist eine Zahlung zur Deckung von Leonardos Gehalt für drei Monate, sowie die Löhne für seine Assistenten belegbar.
Leonardo experimentierte mit einer neuen, aber verheerenden Öltechnik. Mit Sicherheit stand er am 6. Juni 1505 auf dem Gerüst, denn er hinterließ eine berühmte Notiz in einem Skizzenbuch (Madrid):
„Am 6. Juni 1505, einem Freitag, um die 13. Stunde, begann ich im Palast zu malen, und in dem Moment, als ich den Pinsel ansetzte, wurde das Wetter schlecht, und die Glocke läutete und rief die Männer zur Versammlung; der Karton löste sich; das Wasser lief aus, da das Gefäß, in dem es sich befand, zerbrach; und plötzlich wurde das Wetter schlecht, und es regnete bis zum Abend mit großen Wassermassen; und das Wetter war dunkel wie die Nacht.“12
Die zentrale Szene mit dem „Kampf um die Standarte“ entstand im Juni 1505 und wurde bis zum Sommer 1506 fertiggestellt. Aufgrund schlechter Materialwahl blieb die Farbe jedoch nicht an der Wand haften, weshalb das Projekt eingestellt wurde.
„Und da er sich vorstellte, mit Öl auf die Wand malen zu wollen, stellte er eine so dicke Mischung her, um die Wand zu verkleben, dass sie, während er in dem besagten Raum weiter malte, zu tropfen begann, so dass er sie nach kurzer Zeit aufgab.” (Giorgio Vasari)
Im Sommer 1506 wurde Leonardo da Vinci von auf Einladung von Charles II. von Amboise, dem amtierenden französischen Gouverneur, nach Mailand berufen, was die Florentiner Regierung aus diplomatischen Gründen gestattete. Daher blieb das Wandgemälde (vorerst) unvollendet zurück. Leonardos Vertrag mit der Signoria vom 30. Mai 1506 sah vor, dass er innerhalb von drei Monaten zurückkehren musste, um seine Arbeit an den Wandgemälden zu vollenden, und dass er eine Kaution beim Ospedale di Santa Maria Nuova hinterlegen musste, um dies zu gewährleisten.
Mehrere Versuche, den Künstler zur Rückkehr nach Florenz zu zwingen, blieben ungehört. So beklagte sich Piero Soderini, Leiter der Florentiner Regierung, gegenüber Charles d’Ambroise, Gouverneur von Mailand:
„Leonardo hat sich gegenüber der Republik nicht benommen, wie er sollte, denn er hat eine beträchtliche Summe Geld entgegengenommen und nur einen kleinen Anfang zu einem großen Werk gemacht, das er hätte anfangen sollen.“13
In den folgenden zwei Jahren beschäftigte sich Leonardo mit Staffeleibildern, darunter „Johannes der Täufer“ (um 1506–1515, Louvre), vor allem aber seinen anatomischen Studien. Obwohl sich Leonardo in den Jahren 1507 und 1508 mindestens zweimal in Florenz aufhielt, nahm er die Arbeit an dem Gemälde nicht wieder auf. Nur der Mittelteil, der als der „Kampf um die Standarte“ bekannt ist, wurde im Wesentlichen vollendet, wie Kopien belegen. Als Leonardo im Frühjahr 1508 endgültig nach Mailand zog und ein Gehalt von Ludwig XII. von Frankreich bezog, war das Projekt des Anghiari-Schlacht endgültig zum Scheitern verurteilt.
Leonardos „Kampf um die Standarte“ wurde 1563 bei der Neudekoration der Sala di Gran Consiglio durch Giorgio Vasari zerstört oder verdeckt. Vermutlich kurz davor hielt es Francesco Morandini, genannt Poppi (?), in der „Tavola Doria“14 in einer historisch bedeutenden Kopie noch einmal fest.
Ursprünglich war Leonardos „Schlacht von Anghiari“ für die neu errichtete Sala del Gran Consiglio (heute: Salone dei Cinquecento), den Großen Ratssaal, im Palazzo della Signoria bestimmt. Die Sala del Gran Consiglio ist 54 Meter lang, 23 Meter breit und 18 Meter hoch und der prestigeträchtigsten Saal des Machtzentrums der Stadt nach einem Entwurf von Simone del Pollaiolo, genannt il Cronaca, und Francesco di Domenico (1495/1496). Hier fanden die Sitzungen des Großen Rates der Republik statt; 500 Florentiner Bürger bildeten eine Art Parlament.
Am 1. November 1502 trat Piero Soderini sein Amt als Gonfaloniere di giustizia an und ließ in der Folge einen Teil des Palazzo Vecchio zu einer Residenz für sich und seine Frau umbauen. In diesem Zusammenhang ist wohl auch die geplante Ausschmückung der südlichen Hälfte der Ostwand der Sala Grande durch Leonardo zu sehen; die andere Hälfte der Wand sollte Michelangelo gestalten. Die Größe der beiden Wandgemälde wird jeweils etwa 7 mal 17,5 Meter betragen haben.15.
Das Wandgemälde Leonardos sollte Teil eines größeren Dekorationsprogramms sein, das die von der Tyrannei der Medici befreite Republik Florenz verherrlichen sollte. Der mit Holzvertäfelungen ausgekleidete Raum sollte von einer Statue des Erlösers Christus von Andrea Sansovino an der Ostwand beherrscht werden, gegenüber einem Altarbild von Fra Bartolommeo, das ursprünglich bei Filippino Lippi in Auftrag gegeben worden war. Dieser Plan wurde nie ganz verwirklicht. Luca Landucci schrieb in sein Tagebuch:
„Wenn ein Botschafter die Signoria besuchte, verblüffte der Raum diejenigen, die ihn sahen, wenn sie einen so großen Ort betraten und vor einen so eindrucksvollen Rat von Bürgern traten.“16 (Luca Landucci, 12.12.1512)
Umstritten ist nach wie vor die Platzierung der Wandgemälde von Leonardo und Michelangelo. Die Meinungen gehen auseinander, ob beide für die Ostwand vorgesehen waren oder ob sie sich an gegenüberliegenden Wänden gegenüberstehen sollten. Bartolomeo Cerretani berichtet, dass sich Leonardos Szene über den Sitzen der Dodici Buonuomini befand, einem Kollegium von zwölf Männern, die die Regierung berieten, aber ansonsten lässt sich wenig mit Sicherheit sagen.17 Die Kompositionen werden von verschiedenen Seiten beleuchtet, aber ob sie dasselbe Fenster flankierten oder von getrennten Fenstern an den beiden Enden des Raumes beleuchtet wurden, lässt sich nicht sagen - obwohl die heutige Meinung eher zu einer gemeinsamen Position an der Ostwand tendiert.18
Laut Cecilia Frosinini hat Leonard nie in der Sala di Consiglio gemalt, da er bereits Probleme bei der Vorbereitung der Wand hatte. Die Expertin für Leonardo da Vinci und Leiterin der Abteilung für die Restaurierung von Wandgemälden am Opificio delle Pietre Dure in Florenz veröffentlichte ihre Forschungsergebnisse in „La Sala Grande in Palazzo Vecchio e la Battaglia di Anghiari di Leonardo da Vinci. Dalla configurazione architettonica all’apparato decorativo“.19
Die erhaltenen Skizzen und Zeichnungen sowie Kopien nach den Kartons (oder vielleicht nach dem unvollendeten Wandgemälde) beschränken sich im Wesentlichen auf einzelne Episoden: Leonardos „Kampf um die Standarte“. Leonardos Methode sah keine geordnete Abfolge einer Entwicklung vor. Man sieht, wie er sich immer wieder mit demselben Motiv beschäftigt und die Studien in verschiedenen Medien ausführt.
Leonardo fertigte Kompositionsskizzen, Detailstudien einzelner Elemente und schließlich einen Karton an. Der Künstler arbeitete hauptsächlich mit schwarzer und roter Kreide oder mit Feder und Tinte. Teile seiner Komposition entwickelte er in schnellen, kleinformatigen Skizzen, zunächst mit Feder und Tusche. Es handelt sich nicht um streng kompositorische Zeichnungen, sondern eher um schnelle, experimentelle Übungen, die ohne großes Interesse an detaillierten Studien entstanden. Mit einer Ausnahme sind alle diese Zeichnungen in der Gallerie dell’Accademia in Venedig erhalten.20 Sie wurden vermutlich in Skizzenbüchern ausgearbeitet. Dazu kommen noch weiter ausgearbeitete Versionen von Feder- und Tuschezeichnungen der Typen.
Hinzu kommen Gesichtsstudien und eine erneute Konzentration auf das Aktstudium. Leonardo konzentrierte sich auch auf die Pferde und ihre Bewegungen. Er füllte ein ganzes Notizbuch mit „Pferden, die er für den Karton skizziert hatte“, von denen sich einige Zeichnungen in der Royal Collection erhalten haben.21
Die Schlachtendarstellungen Michelangelos und Leonardos unterscheiden sich grundlegend, wie schon Giorgio Vasari feststellte. Der Wettstreit der Künstler wurde immer wieder als Kampf der Titanen beschrieben. Sie kämpften freilich nicht um den Auftrag selbst, sondern um eine bestimmte Vorstellung davon, was Kunst leisten kann: Für Michelangelo war der menschliche, nackte Körper – verkürzt und in Aktion – das wichtigste Ausdrucksmittel, für Leonardo das durch extreme Emotionen verzerrte Gesicht, sei es von Mensch oder Tier. Figuren knurren einander an, ihre Physiognomien verzerren sich zu tierischen Fratzen. Pferde stoßen zusammen und scheinen zu schreien, Rüstungen nehmen groteske Lebensformen an. Leonardo hat den bestialischen Schrecken des Krieges dargestellt.