Pflanzen vor dem mumok, eine Giraffe am Poster – derzeit überzeugt das mumok mit einer breit angelegten Schau über Darstellungen der Natur. Mitnichten steht hier die Entwicklungsgeschichte der Natur im Zentrum, sondern „das Ineinander von Geschichte und Natur“, wie Kurator Rainer Fuchs erklärt. Weder naturalisierte Geschichte noch historisierte Natur sind seine Reflexionsgegenstände, stattdessen zeigt er auf drei Ebenen wie Künstlerinnen und Künstler über Geschichte – Kolonialismus, Holocaust, Völkermord, Flucht, Konstruktion von Natur, „Pflanzenjäger“ – nachdenken und anhand von Naturmotiven visualisieren. Viele dieser Arbeiten sind auf dem ersten Blick ästhetisch ansprechend und zeigen ihr dramatisches Potenzial erst durch die Kontextualisierung. Das an der Oberfläche „Schöne“ kann sich schnell in etwas ganz „Hässliches“ verwandeln.
Österreich | Wien: mumok
23.9.2017 – 14.1.2018
Der „Drei-Schwestern-Korridor“ (2017) von Christian Philipp Müller (* 1957) führt beispielhaft in das Konzept ein: Die Installation vor dem Haus verbindet Mais, Bohne, Kürbis in einem Doppel-Hochbeet. Damit wird nicht nur dem sonst wenig begrünten MQ ein vegetabiler Spiegel vorgehalten, sondern verweist auch auf den Import von Nutzpflanzen aus der Neuen Welt. Gleichzeitig erinnert Müller eine indigene Pflanzweise und die Kolonisierung der USA: Die Bohnen ranken sich an den Maispflanzen empor und schützen den Kürbis am Boden. Und jeden vierten Donnerstag im November versammelt sich die Familie zu Thanksgiving (Erntedank), um dem Pionierleben in den Vereinigten Staaten zu gedenken. Dabei verspeist man traditionellerweise einen Truthahn, Kartoffeln, Kürbiskuchen und Mais. Die Pflanzen vor dem mumok werden im Laufe der Ausstellungsdauer reifen aber auch vergehen. Entstehungsprozess und Verfall sind Teil des Werks, das von naturkundlichen Publikationen aus der Stiftsbibliothek Melk und einem Film zu „Die Neue Welt“, einer Pflanzenskulptur von Müller im Stift (seit 2006), begleitet wird.
Musealisierung ist in der westlichen Kultur gleichbedeutend mit dem (verzweifelten) Versuch, Verfallsprozessen Einhalt zu gebieten. Aus diesem Grund sind die in Teer getränkten Objekte – u.a. ein menschliches Skelett, ein skelettierter Baum mit daran aufgehängten Vögeln – aus Mark Dions „The Tar Museum“ (2006) im Naturhistorischen Museum aufgestellt. Naturgeschichte ist immer auch eine Menschheitsgeschichte – vielleicht mehr im Sinne einer Geistes- als einer Entwicklungsgeschichte zu verstehen. Das Verhältnis hat sich allerdings nie zu einer für beide Seiten fruchtbaren Symbiose entwickelt, vielmehr scheint die Menschheit ein parasitäres Verhalten an den Tag zu legen. Ausbeutung der Ressourcen und Umweltverschmutzung sind dabei nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs, der jüngst als Anthropozän in eine neue Epoche der menschlich designten Erdgeschichte mündete.
Künstler der Neoavantgarde der 1970er Jahre nutzten Naturmotive bzw. reale Pflanzen und Tiere, um über gesellschaftliche und historische Prozesse nachzudenken. In diesem Bereich zeigt Fuchs Arbeiten von Marcel Broodthaers, Joseph Beuys, Hans Haacke, Mario Merz, Hélio Oiticica oder der Gruppen Sigma aus Rumänien und OHO aus Slowenien.
1974 installierte Marcel Broodthaers (1924–1976) „Un jardin d’hiver II“, bestehend aus Kübelpalmen, Klappstühle, dem knatternden Filmprojektor, auf dem „Jardin d‘Hinver“ läuft, Tierdarstellungen aus dem 19. Jahrhundert, darunter ein Kamel. Kamel in der Schautafel, Kamel im Film, Wintergarten im Museum, Palmen vor den weißen Wänden, alles Künstlich, diese Exotik in den europäischen vier Wänden. Sogar wenn man die Kolonialgeschichte Belgiens außer Acht lässt (was man nicht tun sollte), stellt die häufig gezeigte Installation den White-Cube in Frage. Sie bringt den Filmabend der Siebzigerjahre vom privaten Wohnzimmer in die Öffentlichkeit, und enttarnt Phantasien von der Ferne.
Ähnlich verfährt auch Margherita Spiluttini (*1947) mit ihren Fotografien vom Gartenpavillon Stift Melk (2008), der mit Fresken von Johann Wenzel Bergl (1763/64) ausgestattet ist. Auch hier treffen Kunst und Natur ungebremst aufeinander, wenn die illusionistischen Fresken Bananenstauden zeigen und jemand echte Bananen zu zusätzlichen Behübschung und „Verlebendigung“ des Rundbildes in den Pavillon stellt. Der in den 1760er Jahren höchst beliebte Ein Abschnitt zeigt die Entdeckung Amerikas. Im Hintergrund ankern Schiffe, die Conquistatoren nähern sich bereits im Mittelgrund, um die „Wildnis“ zu erobern.
Die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen der Eroberung, ja Einverleibung der Welt durch europäische Mächte sind bis heute zahllos: Joseph Beuys (1921–1986) erinnerte in der Aktion „I Like America and America Likes Me“ (Mai 1974), für die er sich eine Woche mit Kojoten in eine Zelle begab, sowohl an die Ausrottung der indigenen Kulturen Amerikas wie auch den Watergate Skandal. Der Art Povera Künstler Mario Merz (1925–2003) zitierte in „Igloo di Giap“ (1969) den viatnamesischen General Võ Nguyên Giáp aus dem Vietnamkrieg. Mit „Tropicália“ (1966/67) reagierte Hélio Oiticica (1937–1980) nicht nur auf den Militärputsch in Brasilien, sondern verband „mondrianartige“ Häuser mit tropischen Pflanzen und Papageien. Der Brasilianer Jonathas de Andrade (* 1982) ließ Arbeiter auf Zuckerrohrplantagen das „ABC da Canna“ (2014) nachstellen, um die Zusammenhänge zwischen Bildung, Monokulturen und Gesellschaftsordnung in Brasilien aufzuzeigen. Hans Haacke (* 1936) verband mit seinem „Grass Cube“ (1967) Minimalismus mit Land Art. Kunst ist ein Prozess – hier ein höchst natürlicher, von einer Lampe angetriebener. Ob man das Gras wachsen hören kann?
Die nachfolgenden Generationen bedienen sich sowohl kolonialismuskritischer als auch geschichts- und gesellschaftskritischer Traditionen der Neoavantgarde und aktualisieren sie für ihr eigenes zeitgeschichtliches Umfeld. Eine kritisch-analytische Sicht auf koloniale und postkoloniale Geschichte findet sich in den Arbeiten von Jonathas de Andrade, der sich brasilianischen Plantagearbeitern zuwendet, oder bei Matthew Buckingham, Andrea Geyer und Stan Douglas, die die Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents thematisieren. Auch Mark Dions Installation über einen fiktiven Ethnografen, Candida Höfers Fotografien von Zoologischen Gärten, Christian Philipp Müllers oder Isa Melsheimers Bezugnahme auf das Verhältnis von Kolonialisierung und Pflanzentransfer sowie Margherita Spiluttinis Fotografien von exotischer Kulissenmalerei des 18. Jahrhunderts beleuchten Aspekte kolonialer Geschichte und deren Folgen bis in die Gegenwart.
Isa Melsheimer (* 1968) befüllt Ward’sche Kästen und überlässt die Pflanzen sich selbst. Die Erfindung dieser geschlossenen Systeme führte im frühen 19. Jahrhundert zu einer Explosion der Pflanzenimporte (zuvor waren nur Samen transportierbar, ab etwa 1830 auch lebendes Material) und schlussendlich zur aktuellen Orchideen-Mode. Melsheimer sammelt in verschiedenen Städten Samen (im Untertitel angegeben) und überlässt sie sich selbst. Mit Erstaunen hat die Künstlerin festgestellt, dass Urformen wie Farne häufig zu den „Gewinnern“ im Mikrokosmos zählen. Abgestorbene Mini-Gärten mutieren zu Vanitas-Stillleben.
Vergleichsweise dramatisch zeigt sich auch der Kontext von Christian Kosmas Mayers zweiter Arbeit im mumok: „Life Story of Cornelius Johnson’s Olympic Oak and Other Matters of Survival“ (2017) erzählt die Geschichte eine riesige Eiche in Koreatown, Los Angeles. Der einjährige Pflänzling war ein Geschenk des NS-Regimes an den Olympiasieger Cornelius C. Johnson, der als US-Hochspringer einen neuen Olympiarekord aufgestellt hatte. Genauso wie Jesse Owens konterkarierte dieser Sieg Adolf Hitler und dessen Ideologie der Vormachtstellung der Arier, weshalb der „Führer“ das Stadion vorzeitig verließ. Doch auch der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt verwehre den heimgekommenen afroamerikanischen Athleten den Handshake. Doppelt gedemütigt, pflanzte Johnson die Eiche im Hof seines Elternhauses. 80 Jahre danach lebt eine mexikanische Familie in dem Haus. Symbolisierte die Eiche in der NS-Ideologie Treue, Standfestigkeit und nationale Einheit, steht die „Hitler-Eiche“ nun in einer der multikulturellsten Städte der Welt.
Mayers Arbeit wird „gerahmt“ von Werken Heimrad Bäckers, der die Reste von gleichsam ausgelöschten Konzentrationslagern aufspürte, Mirosław Bałkas „Winterreise“ „Bambi, Bambi, Pond“ (2003 → Mit Mirosław Bałka auf Spurensuche) und Tatjana Lecomtes Fotoserie „Der Teich“ (2005 → Fotografie und Politik seit 9/11), beide über das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und dessen „Ascheteich“.
Zeit- und Systemkritik zeigen sich ebenso in Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern aus osteuropäischen Staaten. Fortschrittsglaube, Karrieredenken und politischer Widerstand konnten in Kunstwerken rund um Natur und Wissenschaft indirekt geäußert gewerden: Nonkonformistische Kunst der Sigma-Gruppe (Ștefan Bertalan, Constantin Flondor, Roman Cotosman, Doru Tulcan u. a. ab 1969) reagierte auf das zunehmend restriktiver werdende Ceauşescu-Regime, indem sie Natur und Wissenschaft als Plattformen einsetzte. Constantin Flondor und Doru Tulcan analysierten die geometrische Ordnung von organischem Material und übertrugen sie in Gitterstrukturen. Sie übermalten Fotografien, um die gewachsenen Formen in mathematische Formeln zu übertragen. Ștefan Bertalan zeichnete Blüten und Keimlinge, um Wiederholungen, Wellen, dynamische Strukturen davon abzuleiten und in scheinbar ungegenständliche Bilder zu übertragen – wie auch Constantin Flondor in „Feld – Sonne“ (1967) zeigt.
Die slowenische OHO-Gruppe (1966–1970, Marko Pogačnik, David Nez, Milenko Matanović, Andraž Šalamun, Naško Križnar, Marjan Ciglic u. a.) knüpfte ihre Amerika-/Vietnam-Kritik an Werke, die sich mit dem Thema Natur auseinandersetzen.
Gesellschaftlicher Verfall lässt sich mit Naturmotiven genauso symbolisch darstellen, wie Flucht und Vertreibung. Anri Sala (* 1974) zeigt in „Arena“ (2003) den Verfall des Zoos in Tirana als Folge und Metapher zerbrochener gesellschaftlicher Ordnung. Der Korrosionsprozess von Mount Rushmore imaginiert Matthew Buckingham (* 1963) in „The Six Grandfathers, Paha Sapa, in the Year 502,002 C.E.“, wenn er die vier Präsidentenköpfe als Schutthalde in einem Foto vorstellt. „The Six Grandfathers“ ist der indigene Name der Felsformation im „Paha Sapa“ (Schwarze Berge) genannten Gebirge in der Sprache der Sioux. „Wüstung“ (2017) von Lois Weinberger (* 1947) verbindet in der obersten Ausstellungsebene die Themen Flucht/Migration und Widerständigkeit. Die von dem Künstler so häufig eingesetzten Neophyten, eingeschleppte Pflanzen, bevölkern vornehmlich Wegränder, Schuttplätze oder Ruinen. Die fotografische Dokumentation solcher anonymen Orte führt er in einer Installation in den Ausstellungsraum hinein fort. Auf bunten Plastiksäcken liegen zerbrochene Lehmscheiben, Symbole von Umweltverschmutzung und der sich anpassenden, widerständigen Natur. Gleich daneben platziert Fuchs „Debrisphere“ (2017) von Anca Benera und Arnold Estefán über Militärbasen sowie Nikita Kadans „Limits of Responsibility“ (2014) über die Selbstversorgung der Protestbewegung auf dem Majdan Platz mit Hilfe von Kleingärten. Die beiden aktuell so prächtigen Kohlköpfe sind einmal mehr „Spuren des Poslitischen“.
Kuratiert von Rainer Fuchs, Stellvertretender Direktor des mumok
Jonathas de Andrade, Mirosław Bałka, Heimrad Bäcker, Anca Benera & Arnold Estefan, Joseph Beuys, Marcel Broodthaers, Matthew Buckingham, Mark Dion, Stan Douglas, Andrea Geyer, Ion Grigorescu, Hans Haacke, Candida Höfer, Sanja Iveković, Alfredo Jaar, Sven Johne, Nikita Kadan, Tatiana Lecomte, Christian Kosmas Mayer, Isa Melsheimer, Mario Merz, Christian Philipp Müller, OHO Gruppe, Hélio Oiticica, Anri Sala, Sigma Gruppe, Margherita Spiluttini, Ingeborg Strobl, Sandra Vitaljić, Lois Weinberger, Christopher Williams.
Rainer Fuchs (Hg.)
Mit Essays von Noit Banai, Maja Fowkes, Rainer Fuchs, Cristina Freire, Ileana Pintilie und Raluca Voinea
Beiträge zu den Objekten von Ines Gebetsroiter, Lisa Grünwald, Marie-Therese Hochwartner, Naoko Kaltschmidt, Manuel Millautz, Jörg Wolfert
312 Seiten, 27,5 x 19,5 cm, Hardcover
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln
25. November 2017, 14 bis 19 Uhr - Eintritt frei
Mit u. a. folgenden Teilnehmer_innen: Noit Banai, Anca Benera und Arnold Estefan, Constantin Flondor, Maja Fowkes, Sanja Iveković, Sven Johne, Nikita Kadan, Christian Kosmas Mayer, Tatiana Lecomte, Christian Philipp Müller, Ileana Pintilie, Margherita Spiluttini, Raluca Voinea, Christopher Williams
16.11.2017, 19:00 Im Rahmen der ViennaArt Week hält Marko Pogačnik, ehemaliges Mitglied der OHO-Gruppe und Geomantiker, einen Vortrag über die Künstlergruppe und die daraus hervorgegangene Šempas-Familie.