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Fotografie und Politik seit 9/11

Hans-Peter Feldmann, 9/11, 2001, Detail 4, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.

Hans-Peter Feldmann, 9/11, 2001, Detail 4, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.

Was haben Hans-Peter Feldmanns „9/11“ (2001) und Panos Tsagaris „Golden Newspaper“ (seit 2011), Anna Jermolaewas „120 m“ (2015/16) und Florian Rainers „Fluchtwege“ (2015) gemeinsam? Sie nutzen Fotografie als Dokumentations- und Kommunikationsmittel, dekonstruieren die Verwendung von Fotografie in Massenmedien und stellt Lebensbedingungen vieler seit 9/11 vor. Kuratorin Gunda Achleitner stellte gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen vom EMOP eine Gruppenausstellung zusammen, deren dramatischer Beginn mit dem Fall der Türme, der Wirtschaftskrise in Griechenland bis zur Flüchtlingsbewegung von 2015 reicht.

Wenn Bilder Nachrichten werden

Den Künstlerinnen und Künstlern der aktuellen Ausstellung im MUSA ist ein dokumentarischer Zugang eigen. Hans-Peter Feldmann (* 1941) sammelte Titelseiten vom Tag nach dem Anschlag auf die Twin Towers. Die Bilder der in sich zusammenbrechenden Türme gingen um die Welt, die der sich in die Tiefe stürzenden Menschen nicht.1 Die im Raster gehängten Titelblätter erzählen ihre eigene Geschichte von der weltreiten Reaktion auf den Terroranschlag. Welche Fotografie wurde ausgewählt und wie groß abgedruckt? Welcher Text begleitet die Bilder? Welche Unterschiede zeigen sich in der weltweiten Reaktion der Medien?

Dass die Künstlergruppe Gelitin (gegr. 1978) ein Jahr zuvor in einer zehnminütigen Aktion einen Balkon im Millennium Hilton bauten, um im 91. Stockwerk der Twin Towers den Sonnenaufgang zu genießen oder einfach die Abhängigkeit von der selbst gebauten Konstruktion oder die Gefahr oder den Nervenkitzel, so etwas Unvorstellbares einmal gemacht zu haben, mag im Vergleich wie ein absurdes Spiel wirken. Ein Film und eine Fotografie dokumentieren „The B-Thing“ aus dem Jahr 2000.

Wolfgang Reichmann (* 1962) stellte in „NYC 2002_08_22/23“ (2002) ein mosaikartiges Nacht-Panorama der Skyline und der Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft des Ateliers in Manhattan zusammen, das trotz aller Romantik in der Farbgebung auf die Überwachungstechniken des inzwischen alarmierten Staates verweist. Rechts oben fehlen die Twin Towers, die im Jahr davor das Symbol westlicher Ökonomie angegriffen und dabei Tausende Menschen getötet worden waren. Die Stimmung in der Millionenmetropole, so erzählt der Künstler, war von (für österreichische Verhältnisse) eigentümlichem Patriotismus und beginnender Überwachung geprägt. Die USA gründeten 2002 Homeland Security Agency, mit der Bedrohungen im eigenen Land begegnet werden soll. So manchem Bewohner kann man auch in Reichmanns Fotografie ungehindert in dessen Wohnzimmer schauen, und Rainer Ganahl (* 1961) übte 2003 in „Homeland Security, I–IV“ schon einmal in elf Sprachen die Sätze: „Ich bin kein Terrorist“, „Ich zahle kein Geld an terroristische Netzwerke“, „Ich weiß nicht, wie man Bomben baut“ und „Ich lade aus dem Internet keine gefährlichen Informationen herunter“.

Überwachung

In diesem Kapitel versammelt Gunda Achleitner Arbeiten des Ungarn Balázs Deim (* 1987), Anna Jermolaewa (* 1970), Raphaël Dellaporta (* 1980) aus Frankreich, dem Spanier Daniel Mayrit (* 1985) sowie den Luxemburger Schwestern Carine und Elisabeth Krecké (* 1965). Balázs Deim nahm mit einer Camera Obscura Langzeitbelichtungen von Budapester Plätzen auf. Die wie Überwachungskameras installierten Aufnahmegeräte lieferten aber Bilder, die sich nicht zur Beobachtung von Menschen (mehr der Himmelskörper!) eignen. Unschärfe, die Spuren der wandernden Sonne, fehlende Menschen lassen die belebten Plätze wie geheimnisvolle, aber gespenstische Orte wirken. In den Fotografien erscheinen sie, wie man sie in Realität nie wird sehen können.

Raphaël Dellaporta hingegen interessiert sich für die Dokumentation von Zerstörung, da in ihr die Vergänglichkeit von Dingen zum Ausdruck kommt. „Ruins“ zeigt Kompilationen von Fotografien aus Nord-Afghanistan, wo er 2010 eine archäologische Expedition begleitete. Mit selbst gebauten Drohnen schoss er Fotos, die den Forschern bei der Entdeckung von baktrischen Strukturen helfen. In der kriegsgebeutelten Region werden die unbemannten Fluggräte sonst immer nur für militärische Zwecke eingesetzt. Dass sie hier dazu dienen der Geschichte des Landes auf die Spur zu kommen, dessen Kunst bis in das 2. Jahrtausend vor u. Z. zurückreicht (baktrische Prinzessinnen → dOCUMENTA (13): Themenfelder).

Im Gegensatz dazu zeigt Daniel Mayrit, wie Fotografie zur Überwachung eingesetzt wird. Die große Arbeit „You Haven’t Seen Their Faces“ (2015) geht auf eine Polizeiaktion aus dem Jahr 2011 zurück. Nach einer eskalierten Demonstration am 6. August 2011 in Tottenham kam es zu Unruhen in England mit Brandanschlägen, Plünderungen und Sachschäden in Millionenhöhe.2 Monate später verteilte die Polizei Flugblätter mit Überwachungsfotos von Demonstranten und Teilnehmern der Krawalle an die örtliche Bevölkerung mit der Bitte um Mithilfe bei der Erfassung der Abgelichteten. Mayrit dreht in seiner Arbeit den Spieß um und fahndet virtuell nach den Auslösern der Unruhen, die u. a. eine Folge der Wirtschaftskrise waren. Er stellt in einer Geste der Hierarchieumkehrung die mächtigsten Wirtschaftsbosse und Bankmanager der City of London an den Pranger. So als ob sie von den Überwachungskameras Londons bei ihrer Arbeit gefilmt worden wären.

Die Schwestern Carine und Elisabeth Krecké zeigen in ihrer Installation „404“ (2016) das Fehlen von Bildern in Google Street View. Was kann das weltweit diskutierte Programm des Online-Riesen wirklich? Was zeigt das „objektive Auge“, was wird verheimlicht, was gelöscht? Mit Hilfe des Suchalgorithmus fanden die beiden den gefährlichsten Ort der Welt: Ciudad Juárez in Mexiko. Sie fuhren die Straßen der Stadt an der mexikanisch-amerikanischen Grenze virtuell ab und fanden wahrhaftig Gewalt, vielleicht sogar den toten Körper einer Frau. Das Dokumentationspotenzial von Google Street View nutzend, stellten die Krecké einen Atlas von 100 Bildern zusammen, die sie aufgrund von Copyright Bedingungen jedoch nicht zeigen dürfen. Ein Archivschrank, ein in einer Glasvitrine eingesperrtes Buch, eine Luftaufnahme des Viertels und ein Gedicht verdichten die während ihrer Recherche gewonnenen Erfahrungen der Künstlerinnen.

Routen

Direkte Auswirkungen der Kriege im Nahen Osten und der Weltwirtschaftskrise sind Fluchtbewegungen, die nicht erst seit 2015 auftreten, aber in diesem Jahr auch für Europa nicht mehr zu ignorieren waren. Anna Jermolaewas Fotografien von Fahrrädern „120 m“ zeigen keine Menschen, die diese Grenze zwischen Russland und Norwegen passieren, sondern die Räder, die sie dazu verwenden müssen. Nach russischem Recht muss diese Grenze nämlich auf mindestens zwei Rädern passiert werden, was einen schwunghaften Handel mit Fahrrädern aufkommen ließ. Während sich Pressefotografen meist auf die Akteure konzentrieren, gelingt es Jermolaewa in nur vier Aufnahmen die Ökonomie der lokalen Fluchtbedingung auf den Punkt zu bringen.

„Empire“ (2012–2014) von Samuel Gratacap (* 1982) zeigt Flüchtende im Flüchtlingslager Choucha in Tunesien, das 2011 während des Bürgerkriegs eigens für Menschen aus Subsahara-Afrika eingerichtet wurde. Ärmliche Hütten mitten im Nirgendwo, so könnte man die Lebensumstände der hier Gestrandeten am besten beschreiben.

Die spanische Enklave Melilla an der marokkanischen Küste ist hingegen das Ziel von Tanja Boukal (* 1976). Sie führte mit Flüchtenden auf beiden Seiten der Grenze Projekte durch und fotografierte sie mit einer selbst gestrickten Decke. Auf dieser finden sich zwei Strophen der „Ode an die Freude“ von Friedrich von Schiller, die als Text des Schlusssatzes der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven in die Geschichte einging. Wenn auch die EU die textlose Variante der Sinfonie als ihre Hymne verwendet, so steckt die Botschaft von Vereinigung und Gleichheit der Menschen, die Suche nach dem Glück in der Musik. Doch was bleibt davon in der harten politischen Realität?

Hier und Jetzt - zwischen Krise und Hilfe

Das Hier und Jetzt ist noch immer bestimmt von Krisen und Kriegen, die in den letzten Jahren ihren Ausgang nahmen. Panos Tsagaris (* 1979) vergoldet Leitartikel der New York Times, die sich mit der Wirtschaftskrise in Griechenland beschäftigen. Er hebt nach eigener Aussage den Alchimisten gleich das „materielle zu einem göttlichen Level“. Wie Ikonen stehen die Texte als Symbole für eine turbulente Zeit. Die Bilder könnten von Dimitris Michalakis (* 1977) stammen, der seit 2009 seine Umgebung fotografisch begleitet. Das Leben sei sehr hart geworden, erzählt der aus Athen angereiste Künstler. 23% der griechischen Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 62%. Seine Bilder erzählen von sozialer Krise, ohne Antworten auf unzählige Fragen geben zu wollen.

Der 1981 geborene deutsche Fotograf Julian Röder führt die Besucherinnen und Besucher nach Abu Dhabi auf die Waffenmesse IDEX. „World of Warfare“ (2011) gibt unzensurierte Einblicke in die Alltäglichkeit der Waffenhändler und -käufer. Da posiert schon mal ein Zweijähriger in einem gepanzerten Fahrzeug für seinen stolzen Vater, fliegen Kampfjets wie im Hollywood-Film über das Gelände oder Angehörige des Militärs informieren sich über die aktuelle Technik.

Gegenüber installierte Gunda Achleitner die Arbeiten von Aldo Gianotti (* 1977), der das prekäre Un/Gleichgewicht mit Hilfe einer einfachen Holzwippe sucht. Im MUSA wie im öffentlichen Raum hängt es immer von der Verteilung der Massen ab, in welche Richtung die Wippe zeigt. Haltung und Position sind aber stets Auslöser für Aktionen.

Einen ähnlichen wenn auch weniger metaphorischen Zugang hatte auch Florian Rainer, als er im Herbst 2015 am Höhepunkt der Fluchtbewegung in Österreich „Fluchtwege“ fotografierte und dann ein Buch daraus machte. Er wollte den Medienbildern von Menschenmassen Fotos entgegensetzen, die die Lebensbedingungen der Flüchtenden zeigen. Eine Sporthalle als Schlafplatz, Handys als Anker, Unmengen an Ladegeräten, Essen zeigen auch die Hilfsbereitschaft der Österreicherinnen und Österreicher.

Looking for The Clouds: Fotos

  • Florian Rainer, Fluchtwege, 2015, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Aldo Gianotti, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Julian Röder, World of Warfare, 2011, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Dimitris Michalakis, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Panos Tsagaris, The Union, 2011, Triptychon, 56 x 30,5 cm je, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Panos Tsagaris, Death is life – Life is death, 2011, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Samuel Gratacap, Empire, (2012–2014), Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Tanja Boukal, Ode an die Freude, 2014, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Anna Jermolaewa, 120 m, 2015/16, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Carine und Elisabeth Krecké, 404, 2016, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Balázs Deim, Surveillance System, 2013 (links), Raphaël Dellaporta, Ruins, 2010, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Wolfgang Reichmann, NYC 2002_08_22/23, 2002 (links), Raphaël Dellaporta, Ruins, 2010, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Hans-Peter Feldmann, 9/11, 2001 (links), Wolfgang Reichmann, NYC 2002_08_22/23, 2002, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Hans-Peter Feldmann, 9/11, 2001, Detail 1, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Hans-Peter Feldmann, 9/11, 2001, Detail 2, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Hans-Peter Feldmann, 9/11, 2001, Detail 3, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Hans-Peter Feldmann, 9/11, 2001, Detail 4, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  • Gelitin, The B-Thing, 2000, Ausstellungsansicht MUSA 2016, Foto: Alexandra Matzner.
  1. Der New Yorker Fotojournalist Richard Drew fotografierte „The Falling Man“, wie im Katalog angeführt. Dass die Wiener Ausstellung diese Aufnahme u. a. zugunsten der großen Arbeit von H.-P. Feldmann nicht zeigt, hat wohl mit der dezidiert künstlerischen Ausrichtung der Schau zu tun. Dass das Thema bis heute einen wunden Punkt in der Geschichte von 9/11 darstellt, machte auch Eric Fischl in seiner Albertina-Ausstellung Eric Fischl klar, in der die Bronze einer „fallenden Frau“ zu sehen war.
  2. Siehe Wikipedia: „Unruhen in England 2011“ https://de.wikipedia.org/wiki/Unruhen_in_England_2011, letzter Aufruf 25.10.2016.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.