ORLAN (*30.5.1947, Saint-Étienne) ist eine französische transmediale bildende Künstlerin und Feministin der Gegenwart (→ Zeitgenössische Kunst). ORLAN hinterfragt radikal soziale und politische Konventionen. In den 1990er Jahren erregte sie mit ihren Operations-Performances großes Aufsehen, während ihr ab den 1960er Jahren entstandenes Frühwerk nahezu unbekannt blieb. Die Wahl ihrer Medien ist vielseitig und reicht von Skulptur (aus Carrara-Marmor, Epoxidharz oder im 3D-Druck), Fotografie, Malerei, Zeichnung, Performance und Video bis hin zu 3D-Technologie, Multimedia-Installationen, Augmented Reality, Tokens, Biotechnologie (Kulturen aus eigenen Zellen, Kulturen aus Mund-, Darm- und Vaginalflora, plastische Chirurgie), Künstlicher Intelligenz und Robotik, Musik, Schreiben und anderen Ausdrucksformen.
ORLAN erfindet sich sowohl künstlerisch als auch optisch immer wieder neu. Für ihren aktuellen Signature Look trägt sie ihr Haar und ihre Lippen in einem leuchtenden Blau. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Paris, New York und Los Angeles.
„Es gab wenig Freiheit für Frauenkörper, und für mich ist der Körper politisch und jeder hat einen Körper. Meine Arbeit hinterfragt also den Status des Körpers in der Gesell schaft über die politischen, religiösen, kulturellen und traditionellen Zwänge, die sich in den Körper ein -schreiben.“1
ORLAN wurde als Mireille Suzanne Francette Porte am 30. Mai 1947 Saint-Étienne geboren.
In den 1960er Jahren begann ORLAN, Fotografien und Performances zu machen. Davor schrieb sie bereits Gedichte, tanzte und spielte Theater. Ihre „Prosésies écrites [Schriftliche Prosa]“ (1962–1967) veröffentlichte sie 1969 in einer illustrierten Sammlung. Die Künstlerin entschied sich bewusst, sich mit dem eigenen Körper direkt ausdrücken zu wollen. Sie wollte all ihr Nicht-Können, ihre Zerbrechlichkeit, ihr mögliches Scheitern vor einem Publikum aufzeigen.
Bei ihren ersten Performances trug ORLAN Gedichte auf öffentlichen Plätzen vor oder spazierte 1964 in Zeitlupe durch die Straßen von Saint-Étienne, Toulon, Marseille, Nizza und Avignon. Diese ersten Performances bedeuten der Künstlerin sehr viel, da sie den Anfang des Einsatzes ihres Körpers im öffentlichen Raum als künstlerische, aufrührerische und gewaltfreie Geste darstellen. Zeitgleich begann sie, fotografisch mit ihrem Körper zu experimentieren.
Im Jahr 1964 änderte die junge Künstlerin ihren Namen in ORLAN. Die Wendung „OR“ steht für das französische Wort „Gold“ und „LAN“ für „langsam“. Mit dem geschlechtslosen Künstlernamen erschuf sie eine neue künstlerische Identität: „ORLAN accouche d’elle m’aime [ORLAN gebiert ihr geliebtes Selbst]“.
In den Jahren von 1964 bis 1967 arbeitete ORLAN an der Serie „Corps-sculptures [Körper-Skulpturen]“. Die Künstlerin spielte mit der Form und Formbarkeit ihres Körpers, mit Perspektive und Blickpunkt, Licht und Schatten sowie Möglichkeiten der Verwandlung mittels Maskerade. Es entstanden die Schwarz-Weiß-Fotografien „Corps-sculpture en perspective sur socle n°8 [Körper-Skulptur in perspektivischer Darstellung auf Sockel Nr. 8]“, „Corps-sculpture dit ‚batracien‘ sur fond noir [Die sogenannte ‚amphibische‘ Körper-Skulptur auf schwarzem Grund]“ und „Corps-sculpture – Danse avec mon ombre bras en haut [Körper-Skulptur – Tanz mit meinem Schatten, Arme nach oben gerichtet]“ (1965). In ihnen näherte ORLAN ihren Körper einer abstrahierten Skulptur an.
Mit der Fotografie „Tentative de sortir du cadre [Versuch, dem Rahmen zu entkommen]“ stellte sich ORLAN 1966 in die kunsthistorische Tradition des barocken Trompe-l’oeil. Darauf folgten 1967 die Fotografien „Nu descendant l’escalier – contre-plongée avec tête [Nackt die Treppe hinabsteigend – Untersicht mit Kopf]“ ud „Corps-sculpture sans visage sexe à l’avant en mouvement dansant avec ombre n°3 [Körper-Skulptur Nr. 3 ohne Gesicht mit nach vorne zeigendem Geschlecht, mit Schatten tanzend]“. Für „Nu descendant l’escalier“ ließ sich ORLAN aus Froschperspektive auf einer Treppe fotografieren. Dadurch entsteht ein Bild des extrem in die Länge gezogenen Körpers, der nahezu ausschließlich aus Beinen besteht.
Im Jahr 1968 begann ORLAN, „MesuRAGE [WUTmessung]“ auf öffentlichen Straßen und Plätzen sowie in großen Kulturinstitutionen zu performen. Die Künstlerin vermaß diese Orte, indem sie sich auf dem Boden der Länge nach austreckte und die jeweilige Distanz durch die von ihr definierte Maßeinheit, dem ORLAN-corps [ORLAN-Körper], ermittelte und auf den Straßen mit Kreide markierte.
Ihr eigener Körper wurde zum Maß der Dinge und relativiert somit die symbolische Größe der jeweiligen Institution. Für die Performance zog ORLAN ein Kleid an, das sie aus den Laken ihrer Aussteuer gemacht hat, immer das gleiche, bis es abgetragen und ganz durchgewetzt war. Dann präsentierte sie es zwischen zwei Glas- oder Plexiglaswänden, es wurde in Galerien oder Museen gezeigt, manchmal auch verkauft.
ORLAN vermaß den Raum mit ihrem Körper, indem sie sich auf den Boden legte und mit Kreide eine Linie hinter ihrem Kopf zog. Dann ging sie auf alle Viere und bewegte sich weiter vorwärts, legte sich wieder auf den Rücken, ihre Schuhe bündig mit der Kreidelinie. Mit einem, zwei oder mehr Zeugen zählte die Künstlerin die Anzahl der „ORLAN-corps [ORLAN-Körper]“, die in diesem Raum enthalten waren. Daraufhin schrieb sie einen Bericht, holte Wasser, zog ihr Kleid aus, wusch es in der Öffentlichkeit, nahm Proben von diesem schmutzigen Wasser und füllte es in Flaschen. Diese wurden beschriftet, nummeriert und mit Wachs versiegelt, um eine kleine Auflage mit dem Foto der Erstellung des Berichts zu machen.
1In den 1970er Jahren reiste ORLAN oft von Lyon nach Paris, wo sie Bekanntschaft mit der damaligen französischen feministischen Bewegung machte und wichtige Künstlerinnen traf, darunter Léa Lublin, Gina Pane und Vera Molnár. Obwohl Frauen in den 1970er Jahren politisch sehr aktiv waren, standen feministische Künstlerinnen zu dieser Zeit noch immer im Schatten ihrer männlichen Kollegen.
In der ersten Hälfte des Jahrzehnts malte ORLAN abstrakte Bilder wie die „Sérigraphies“ (1971–1972) und „Problématique Géométriques [Geometrische Problematik]“ (1973–1975).
Mit „Strip-tease occasionnel avec les draps du trousseau [Gelegenheitsstriptease mit den Laken der Aussteuer]“ (1974/75) stellte sich ORLAN an die Spitze der feministischen Avantgarde in Frankreich. Sie stickte die Spermaflecken ihrer Liebhaber auf den weißen Laken ihrer Aussteuer nach und nutzte die Tücher dann als Drapierung in einer Entkleidungsperformance. Eine Sequenz von 18 Schwarz-Weiß-Fotografien dokumentiert ihre Verwandlung von der Madonna mit dem Kinde in eine Venus Pudica [schamvolle Venus]. Auch wenn sich die Künstlerin dabei entkleidete, so verkleidete sie sich als stilisierte Frauendarstellung und Ikone der Kunstgeschichte, Sandro Botticellis „Die Geburt der Venus“ (1484–1486). Ausgangspunkte für ihre Arbeiten waren Gian Lorenzo Berninis „Die Verzückung der Heiligen Teresa“ aus den Jahren 1647 bis 1652 und Ingres für „ORLAN en Grande Odalisque d’Ingres [ORLAN als große Odaliske im Stil von Ingres]“ (1977).
Mit „Se vendre sur les marchés en petits morceaux [Sich auf dem Markt in kleinen Stücken verkaufen]“ (1976) bot ORLAN Teile ihres Körpers in Form von ausgeschnittenen, auf Holz aufgeklebten Schwarz-Weiß-Fotografien auf einem Markt in Caldas da Rainha, Portugal, zum Verkauf an. Die Bilder zeigten den Mund, das Ohr, die Brust usw. der Künstlerin in Lebensgröße. Die Künstlerin schichtete sie auf einem Karren neben anderen Lebensmitteln auf, bepreiste ihre Körperteile und gab eine Reinheitsgarantie ohne Farb- und Konservierungsstoffe ab.
Noch einen Schritt weiter ging die Künstlerin mit der Performance „Le Baiser de l’Artiste“ am 22. Oktober 1977. ORLAN sorgte damit auf der Pariser Kunstmesse FIAC für einen Skandal. Für 5 Francs konnten die Besucher:innen damals einen Kuss von der Künstlerin erhalten oder eine Kerze anzünden. ORLAN analysierte dabei den Zusammenhang zwischen ihrem Dasein als Künstlerin, Prostitution und Sündenerlass der Kirche. Diese Provokation hatte Konsequenzen für die Künstlerin. Trotz des Protests ihrer Schüler:innen verlor sie ihre Anstellung an der Privatschule Les Trois Soleils und damit ihr Einkommen sowie den Anspruch auf Sozialversicherung.
ORLANs Experimentierfreude zeigt sich in ihren Collagen (1976–1980), die sie mit dem Fotokopierer erarbeitete. In den Werken verband sie ihr Interesse für barocke Formensprache, christliche Ikonografie und den Einsatz moderner Technik.
Im Jahr 1984 gründete die Künstlerin gemeinsam mit Frédéric Develay und Frédéric Martin im französischen Vorläufer des Internets, dem sogenannten „Minitel“, ihr erstes Online-Magazin für zeitgenössische Kunst: „Art Accès“.
In den 1990er Jahren wurde ORLAN mit ihren Chirurgischen Performance-Eingriffen international berühmt. Mit dem Manifest „Art charnel [Fleischeskunst]“ von 1989 legte ORLAN den Grundstein dafür. Die Performance-Künstlerin erklärte ihren Körper als Selbstporträt im klassischen Sinn, das mithilfe moderner Mittel entsteht. Im selben Jahr erhielt sie ein Stipendium des Fonds d’Innovation Artistique et Culturelle en Rhône-Alpes für einen Forschungsaufenthalt in Indien.
Anknüpfend an das ein Jahr zuvor veröffentlichte Manifest, unterzog sich ORLAN zwischen 1990 und 1993 neun chirurgischen Performance-Eingriffen, die unter dem Titel „La Réincarnation de Saint ORLAN [Reinkarnation der heiligen ORLAN]“ zusammengefasst werden. Als erste Künstlerin setzte sie die Chirurgie zu künstlerischen Zwecken ein und kritisierte auf diese Weise den gesellschaftlichen Druck, den menschlichen Körper zu optimieren.
Am 6. Juli 1990 fand die „1ère Opération chirurgicale-performance [1. chirurgischer Performance-Eingriff]“ in Paris statt, gefolgt von drei weiteren im selben Jahr: Einhorn (25. Juli), „Operation gelungen“ (6. September), Performance-Eingriff (8. Dezember). Beginnend mit Knien, Rücken, Taille und Nacken, ging ORLAN später dazu über, ihr Gesicht verändern zu lassen. Bei allen Eingriffen war sie bei Bewusstsein und nur lokal betäubt. Es entstanden Objekte, wie blutgetränkte Tupfer oder Fettklumpen, die in kleinen Behältern aufbewahrt und später wie Reliquien öffentlich ausgestellt werden. Aus dem Verkauf dieser Objekte und Fotografien, die während der Performances gemacht wurden, finanzierte sie die jeweils nächste Operation.
In der Operation „Omniprésence [Omnipräsenz]“ (21.11.1993) in New York ließ sich ORLAN zwei Silikonimplantate über den Augenbrauen einsetzen, die sie in der Folge schminkt oder mit Pailletten verziert. Der Operationssaal wurde zum Atelier der Künstlerin. Der gesamte Prozess wurde wie eine Performance präzise inszeniert und live nach Paris in das Centre Pompidou, das McLuhan Centre for Culture and Technology in Toronto sowie das Multimedia Institute in Banff, Kanada, übertragen. Die dort anwesenden Schaulustigen konnten sich per Video zuschalten lassen oder via Telefon und Fax mit der Künstlerin Kontakt aufnehmen.
Sechs Tage nach dem 7. chirurgischen Performance-Eingriff (8.12.1993) in New York zeigte ORLAN sich vor der New Yorker Skyline mit blutunterlaufenen Augen, geschollenen Lippen und anderen Folgen der Operation: „Die Frauen ähneln dem Mond, meine Augen ähneln Blumen oder Selbstporträt mit Narzissen, angefertigt von der Körper-Maschine“ (24.12.1993).
In Zusammenarbeit mit einem Spezialisten für digitale Bildbearbeitung erstellte ORLAN fotografische Porträts, in denen ihre Gesichtszüge mit Figuren und Masken präkolumbianischer Zivilisationen, wie die der Olmeken, Azteken und Maya, und später auch indigener sowie afrikanischer Kulturen fusioniert werden. Gleichzeitig lehrte die Künstlerin an der École Nationale Supérieure d’Arts de Cergy-Pontoise im Großraum Paris.
Anfang der 2000er Jahre begann sich ORLAN mit unterschiedlichen Kulturen auseinanderzusetzen, sowohl in Hinblick auf ihr eigene Identität als auch auf die Idee gesellschaftlich genormter Schönheitsideale.
2019/20 entstand eine Reihe von Fotografien mit dem Titel „Self-hybridation entre femmes (acte 2: Les femmes qui pleurent sont en colère) [Selbstkreuzung unter Frauen (Akt 2: Frauen, die weinen, sind wütend)]“, die das Klischee der Frau als Modell und Muse, als stille Inspirationsquelle der sogenannten großen Meister der bildenden Kunst aufgreift. Vor allem der von ORLAN verehrte spanischen Künstler Pablo Picasso inspirierte sie zu einer Reihe von weinenden und zugleich zornigen ORLAN-Selbstporträts im „Picasso-Stil“.
ORLAN machte 2003 ihr Projekt hybrider Hautzellzucht erstmals anlässlich der Ausstellung „L’art biotech“ im Kunstzentrum Le Lieu unique in Nantes öffentlich, suchte per Flyer potenzielle, dunkelhäutige Hautspender sowie bewarb das Tissue Culture & Art Project. Erst vier Jahre später konnte die Künstlerin ihr Konzept umsetzen.
ORLAN war 2007 drei Monate Gast bei SymbioticA, dem Labor für kollaborative Forschung von Kunst und Wissenschaft der University of Western Australia in Perth. Während des Aufenthalts arbeitete sie gemeinsam mit anderen Bio-Art-Künstler:innen an dem Projekt „Le manteau d’Arlequin [Der Mantel des Harlekin]“ (2007–2010). Dafür verband ORLAN eigene Hautzellen mit denen anderer Personen in rautenförmigen Petrischalen zu einem biotechnologischen „Haut-Mantel“‹, ihre erste biotechnologische Multimedia-Installation.
In der Serie „ORLAN Avatar“ nutzt sie 2014 eine Augmented Reality-App, um ORLAN-Avatare aus farbenprächtigen Werken steigen und vor den Augen der Betrachter:innen lebendig werden zu lassen.
Die Künstlerin widmete sich ab 2018 der Sphäre der künstlichen Intelligenz und erschuf den sprechenden KI-Roboter ORLAN-oïde. Damit ging sie der Frage zur Identität nach. In Zusammenarbeit mit der Science Gallery Dublin erforschte sie unterschiedliche Themen der Wissenschaft und Biogenetik. Der ORLAN-oïde hinterfragt neue Technologien, die den Begriff des menschlichen Körpers grundlegend umdefinieren. ORLAN präsentierte dieses Werk erstmals im Rahmen der Ausstellung „Artistes & Robots [Künstler:innen & Roboter]“ im Grand Palais in Paris. Im selben Jahr erhielt ORLAN den Preis Hundred Heroines of Photography der Royal Photographic Society in Paris.