In den späten 1940er Jahren wandte sich Henri Matisse dem Papier als seinem primären Medium und der Schere als seinem wichtigsten Werkzeug zu und führte eine radikal neue Kunstform ein – das Cut-Out oder den Scherenschnitt. Um Cut-Outs herzustellen, bemalten seine Atelierassistent:innen Papier mit leuchtender Gouache, das Matisse dann in verschiedene Formen unterschiedlicher Größe schnitt.
USA | New York: MoMA
9.11.2024 – 20.1.2025
Mit Stecknadeln ordnete er die Formen zu lebhaften Kompositionen an, die später aufgehängt wurden. Die Cut-Outs wurden von einem Kritiker zunächst als „angenehme Ablenkung“ verspottet, gelten heute jedoch als die größte Innovation eines rastlos erfinderischen Künstlers. Matisse selbst beschrieb diese Technik abwechselnd als „direktes Schneiden in leuchtende Farben“ oder „Zeichnen mit der Schere“.
Die Ausstellung im MoMA zeigt zehn Cut-Outs von Matisse. Der Franzose experimentierte mit den Möglichkeiten des Scherenschnitts, als er körperlich bereits sehr angschlagen war (→ Henri Matisse: Biografie). Als Matisse die Praxis der Scherenschnitte fortführte, entwickelten sich die Cut-outs vom Intimen zum Expansiven, vom Dekorativen zum Abstrakten. Ursprünglich benutzte der Künstler Papier, um Motive zu entwerfen, die dann in anderen Medien umgesetzt wurden, darunter das illustrierte Buch „Jazz“ (1947) und das Kirchenfenster „Heiligabend“ (1952). Bald wurden die Scherenschnitte zu eigenständigen Kunstwerken, wie das monumentale Werk „Erinnerung an Ozeanien“ (1953), das Gegenständliches und Abstraktes verbindet.
Henri Matisse schuf mehr als 250 Scherenschnitte, von denen einige, wie „Le piscine [Der Swimmingpool]“ (1952), ganze Wände bedeckten, während andere nur ein einziges Blatt Papier umfassten. So bedeckte Matisse beispielsweise die Wände seines Esszimmers mit Papierformen, um „Le piscine“ zu schaffen. Dieses lichtempfindliche Werk war fünf Jahre lang restauriert worden, um seine ursprüngliche Farbigkeit wiederherzustellen. Bevor es nun wieder für längere Zeit ins Depot wandert, feiert das MoMA mit „Matisse’s Cut-Outs: A Celebration“ noch einmal den bahnbrechenden Einsatz dieser interessanten Technik.
Matisses Experimente begannen mit „Jazz“ (1947), einer Serie von 20 Arbeiten, die er für die französische Kunstzeitschrift „Verve“ schuf. Der Originaltitel lautete „Zirkus“, und das Thema zieht sich in Form von tanzenden Pferden und verdrehten Körpern durch die Werke. Es sind, wie Matisse sagt, „lebhafte und heftige“ Bilder, die „Erinnerungen an den Zirkus, an Volksmärchen und Reisen“ kristallisieren.
An einem Sommermorgen im Jahr 1952 sagte Matisse seiner Atelierassistentin und Sekretärin Lydia Delectorskaya, er wolle „Taucher sehen“, und so gingen die beiden in ein beliebtes Schwimmbad in Cannes. Matisse litt allerdings unter der sengenden Sonne und kehrte rasch nach Hause, ins Hôtel Régina in Nizza, zurück, wo er erklärte:
„Ich werde mir mein eigenes Schwimmbad bauen.“
Matisse bat Delectorskaya, die Wände seines Esszimmers, die mit Sackleinen ausgelegt waren, knapp über Kopfhöhe mit einem weißen Papierband auszustatten. Nur an den Fenstern und Türen an den gegenüberliegenden Enden des Raumes riss das weiße Band ab, sodass der Zyklus aus zwei gleich langen, einander gegenüberliegenden Streifen besteht. Matisse schnitt Taucher, Schwimmer und Meerestiere aus ultramarinblau bemaltem Papier und heftete sie auf das weiße Papier.
Das Ergebnis war Matisses erstes und einziges in sich geschlossenes, ortsspezifisches Cut-Out. Der Künstler sah in der Biegsamkeit des Papiers eine ideale Ergänzung zur Fließfähigkeit des Wassers, was das Werk zu einer perfekten Synthese aus Thema und Mitteln machte. Mit seiner Vereinfachung der Formen, der dynamischen Verwendung von Positiv- und Negativbildern und der Ausdehnung über die Wände stellte „Der Swimmingpool“ den Höhepunkt von Matisses Papierschnittwerk bis zu diesem Zeitpunkt dar.
Lydia Delectorskaya, Matisses Atelierassistentin und Sekretärin, beschrieb den Prozess, der zu „Akrobaten" führte. Auf Wunsch von Henri Matisse hatte ein in schwarze Strumpfhosen gekleidetes Modell einen akrobatischen Tanz für ihn aufgeführt, was in einer Reihe von Tuschezeichnungen mündete.
„Kurz darauf schnitt er einen blauen Akrobaten. Im Gegensatz zu den Zeichnungen, die er sehr gut fand, war er mit dieser blauen Form unzufrieden. Er machte sich daher daran, sie zu überarbeiten und sie wie eine Tonskulptur zu modellieren: manchmal fügte er diese Volumen hinzu, manchmal entfernte er sie. Während der Wochen dieser Arbeit schnitt er einen zweiten blauen Akrobaten, jedoch mit einem völlig anderen Ausdruck.“
Ein Foto zeigt den „Akrobaten“ gleich hinter der Tür zu Matisses Esszimmer, wo sich „Der Swimmingpool“ – mit seinen verwandten bogenförmigen blauen Figuren – befand.
Ein Höhepunkt der MoMA-Ausstellung ist „Heiligabend“ (1952), ein Buntglasfenster des französischen Glasmeisters Paul Bony. Es basiert auf einem gleich gegenüber präsentierten Matisse-Scherenschnitt aus dem „Life“-Magazin, für dessen New Yorker Firmensitz in Auftrag gegeben. Übersät mit hellen Sternen und gelben und grünen Blöcken ist es ein typisches Werk des späten Matisse, ornamental, farbenprächtig und fröhlich.