Henri Matisse
Wer war Henri Matisse?
Henri Matisse (Le Cateau-Cambrésis 31.12.1869-3.11.1954 Nizza) zählt zu den bedeutendsten Malern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der studierte Jurist begründete gemeinsam mit André Derain den Fauvismus (1905) und entwickelte sich in Auseinandersetzung u.a. islamischer Ornamentik und der Farbenpracht Tunesiens eine flächige, farbintensive Malerei fern jeglicher Perspektivkonstruktion. Während des Ersten Weltkriegs malte er schwarze Bilder, die erst nach seiner Übersiedelung nach Nizze erneut dem Fenster- und Odliskenmotiv wichen. In den 1920er Jahren stieg Matisse (neben Pablo Picasso) zum wichtigsten lebenden Künstler Frankreichs auf. Besondere Popularität ereichte der Künstler mit seinen späten Scherenschnitten (Cut-outs) und spielerisch wirkenden Kompositionen in leuchtenden Farben.
Hier findest Du die wichtigsten → Matisse: Ausstellungen 2024
Kindheit & Ausbildung zum Juristen
Henri Matisse wurde am 31. Dezember 1869 in Le Cateau-Cambrésis als Sohn eines Getreidehändlers geboren. Seine Mutter Héloïse Matisse verkaufte in ihrem Lebensmittelgeschäft auch Farben. Zur Vorbereitung auf ein Studium der Rechtswissenschaft hielt sich Henri Matisse ein Jahr lang in Paris auf. Nach der Prüfung wurde er 1889 als Anwaltsgehilfe in Saint-Quentin tätig.
Eine Blinddarmentzündung zwang den 20-jährigen 1890 nahezu ein ganzes Jahr im Bett zu bleiben. Um ihm Abwechslung zu verschaffen, schenkte ihm seine Mutter einen Farbenkasten. Matisse, der schon zuvor einen Zeichenkurs der Stiftung Quentin de la Tour besucht hatte, begann zu malen. Kurz darauf entschloss er sich, Maler zu werden, und kehrte spätestens Anfang des Jahres 1891 nach Paris zurück.
Frühwerk (1869–1899)
„Als ich zu malen anfing, fühlte ich mich wie im Paradies […] Im Alltag langweilte und ärgerte ich mich, wenn mir die Leute ständig sagten, was ich zu tun hätte. Sowie ich zu malen anfing, fühlte ich mich wunderbar frei, in Ruhe gelassen und allein.“ (Henri Matisse)
In Paris bereitete sich Henri Matisse an der Académie Julian für die Aufnahmeprüfung an der Ecole des Beaux-Arts vor, wurde jedoch im Januar 1892 nicht aufgenommen. In dieser Zeit lernte er Albert Marquet in der Kunstgewerbeschule [Ecole des Arts décoratifs] kennen. Seine ersten Bilder führte Henri Matisse in einer tonigen, akademischen Malerei aus, deren Wurzeln im Naturalismus lag. Ab 1893 besuchten sie als Gasthörer die Klasse von Gustave Moreau (1826–1898), einem Hauptvertreter des Symbolismus.
Im März 1895 nahm Gustave Moreau sowohl Matisse wie auch Marquet ohne Prüfung in seine Klasse auf und lehrte sie, die wahre Funktion des Künstlers wäre, sich selbst auszudrücken. Unter Moreaus Anleitung arbeitete Matisse erstmals im Freien. „Sie werden die Malerei vereinfachen“, soll Moreau einmal zu seinem Schüler gesagt haben. Im Sommer des Jahres 1895 entdeckte Matisse in der Bretagne den Impressionismus und die Wirkung von reinen, unvermischten Farben. Dieses neue Wissen wandte er sogleich in seinem ersten großformatigen Bild, „Der servierte Tisch“ (1897), an. In der Klasse von Moreau studierten zur gleichen Zeit Henri Manguin (1874–1949) und Georges Rouault (1871–1958), die knapp zehn Jahre später gemeinsam mit Matisse den Fauvismus begründeten.
Die Sommer 1896 und 1897 verbrachte Henri Matisse in der Bretagne, wo er sich in Landschaftsskizzen mit dem Impressionismus auseinandersetzte. Zudem lernte er 1897 Camille Pissarro kennen und im Salon des Indépentants sah er erstmals Werke von Paul Signac (1863–1935), der gemeinsam mit Geroges Seurat den Pointillismus erfunden hatte (→ Seurat, Signac, Van Gogh – Wege des Pointillismus). Während der 1890er Jahre lebte Matisse mit Amélie-Noémie-Alexandrine Parayre aus Toulouse zusammen, die 1894 eine gemeinsame Tochter Marguerite zur Welt brachte. Im Januar 1898 heiratete das Paar und reiste danach nach Korsika (Frühling und Sommer in Ajaccio), Südfrankreich (Herbst in Toulouse) und London, um das südliche Licht und die Werke William Turners zu sehen. Währenddessen verstarb Gustave Moreau und wurde durch Fernand Cormon, der u. a. der Lehrer von Henri de Toulouse-Lautrec war, ersetzt. Dieser verwies Henri Matisse von der Akademie, da dieser, wie er meinte, mit über 30 Jahren bereits zu alt wäre, um noch zu studieren.
Anfang 1899 kehrte Henri Matisse nach Paris zurück. Er schuf kleinformatige Werke, arbeitete im Freien und Freiheit. Seine Beschäftigung mit Farbtheorie führte zur Entdeckung der reinen Farbwerte. Bei dem berühmten Grafiker Eugène Carrière lernte er André Derain (1880–1954) kennen. Matisse kaufte „Drei Badende“ (1879–1882, Petit Palais) von Paul Cézanne, die Büste „Henri de Rochefort“ von Auguste Rodin, eine Zeichnung von Vincent van Gogh und das Gemälde „Junger Mann mit Tiaré-Blume“ von Paul Gauguin. Wenige Jahre später wurden diese drei Künstler als die „Väter der Moderne“ bezeichnet. Matisse schätzte an ihren Werken die Vereinfachung der Körper. Vor allem Paul Cézanne übte zwischen 1900 und 1904 einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung von Matisse aus, worauf dieser sich mit Männerakten beschäftigte.
Weg zum Fauvismus (1900–1905)
Ab 1899 lässt sich in den Werken von Henri Matisse beobachten, wie er zunehmend reine Farben einsetzte und schlussendlich diese für sich eroberte, d.h. sich bis zu einer unrealistischen Kolorierung vorwagte. Inspiriert wurde er dazu durch die Entdeckung japanischer Holzschnitte, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Künstlern der französischen Avantgarde angeregt rezipiert wurden (→ Monet, Gauguin, van Gogh …. Inspiration Japan):
„Mit welcher Freude entdeckte ich die japanischen Holzschnitte. Damals habe ich verstanden, dass man mit ausdrucksvollen Farben arbeiten kann, die nicht unbedingt eine beschreibende Funktion haben müssen.“ (Henri Matisse)
Eine weitere Inspirationsquelle stellte Paul Signacs Buch „Von Delacroix zum Neo-Impressionismus“ dar, das Matisse bereits 1898 oder 1899 gelesen hatte. Farbe, so war sich der Maler zunehmend sicher, soll Licht nicht einfach wiedergeben, sondern es erschaffen! Dennoch stellte sich der Weg zu Anerkennung und Ruhm für Henri Matisse als ein sehr steiniger dar. 1900 war er so mittellos, dass er für die Weltausstellung Dekorationen im Grand Palais malte, um Geld zu verdienen. Die Geburt des zweiten Sohnes Pierre erschwerte die Lage Matisses, zumal 1901 auch sein Vater die finanzielle Unterstützung einstellte. André Derain machte in dieser Zeit Henri Matisse mit Maurice de Vlaminck (1876–1958) bekannt. Die Akte aus dieser Zeit sind stark vereinfacht, außerdem experimentierte Matisse erstmals mit Plastiken.
Matisse als Plastiker
Ab 1900 nahm Henri Matisse Unterricht bei Antoine Bourdelle, der zur gleichen Zeit für Auguste Rodin arbeitete (→ Henri Matisse. Der Plastiker ). Wie sein berühmtest Vorbild ließ Matisse Arbeitsspuren des Giessprozesses sichtbar auf seinen Bronzen stehen. In der Konzeption ging er jedoch einen Schritt weiter und dokumentierte die Metamorphse seiner Werke mithilfe von Gipsformen. In der Malerei nutzte Matisse ab den 1930er Jahren die Fotografie, um Zustände seiner Bilder zu bewahren. Dabei schreckte der Maler-Plastiker nicht davor zurück, diese Zustände auch öffentlich neben den finalen Werken auszustellen und zu publizieren. Inspirationsquellen für Matisses plastisches Werk waren Rodin, Michelangelo Buonarroti und mit der Kunst der Antike, Fotografien weiblicher Modelle und afrikanische Kunst hauptsächlich aus West- und Zentralafrika (→ Afrikanische Kunst).
Aufenthalte bei Signac und in Collioure
1904 hatte Henri Matisse seine erste Einzelausstellung. Dieser Schau folgte eine Reise in den Süden, wo er sich zum ersten Mal mit orientalischen Mustern auseinandersetzte. Eigentlich wollte Henri Matisse sein Vorbild Paul Cézanne besuchen, machte aber einen Abstecher nach St. Tropez, wo Paul Signac lebte. Signac hatte nach dem frühen Tod von Paul Seurat, den Divisionismus durch Öffnung der Theorie gleichsam davor gerettet, zum starren Dogma zu verkommen. Signacs Arbeit als „Prophet des Pointillismus“ hatte schon mehrere Nachfolger angezogen, so auch Henri Matisse, der unter seiner Ägide stärker mit Komplementärfarben malte. „Luxus, Stille, Wollust“ (1904) ist Matisses erstes Bild des Neo-Impressionismus, das er nicht nach der Natur malte. Als er es im Salon des Indépendante 1905 präsentierte, war Paul Signac von dem Bild so begeistert, dass er es dem jungen Kollegen abkaufte.
Der Durchbruch zum Fauvismus, mit dem Matisse und Derain den Post-Impressionismus in Richtung expressiver Tendenzen auch gleich wieder verließen, gelang den beiden Malern im Sommer 1905 im Fischerdorf Collioure. Signac hatte Matisse den Ort empfohlen, da er pittoresk am Meer gelegen und mit roten Felsen der Pyrenäen jenes südliche Flair versprach, das seit Mitte der 1890er Jahre immer mehr Künstler nach Südfrankreich zog. Die Ausstellung der 1905 entstandenen Bilder im Herbstsalon führte dazu, dass die Gruppe um Henri Matisse als „Fauves [wilde Tiere, Wilde]“ verunglimpft wurde: unnatürliche Farbgebung in Rot, Grün und Lilarosa in markanten, kurzen Pinselstrichen schroff nebeneinandergesetzt, erzürnten sowohl Besucherinnen wie Kritiker, allen voran Louis Vauxelles, der den Begriff prägte (→ Matisse und die Künstler des Fauvismus). Im Zentrum der Kritik stand Matisses Porträt seiner Ehefrau, die „Frau mit Hut“ (1905, San Francisco), der das Maler erst kurz vor der Eröffnung des Salons vollendet hatte. Der Sammler Michael Stein kaufte das Bildnis und förderte in der Folge Henri Matisse. Einheitlicher in der Gesamtwirkung steht „Bildnis mit grünem Streifen“ (1905, Kopenhagen). Der titelgebende grüne Streifen trennt die linke beleuchtete Gesichtshälfte von der unbeleuchteten rechts. Für Henri Matisse bedeutete offensichtlich das Malen eines Bildes, die Formen nur mit Farben zu konstruieren. Licht und Schatten werden nicht als helle oder dunkle Zonen aufgefasst, sondern als unterschidliche buntfarbige Areale definiert. Zu den Freunden und Weggefährten des Fauvismus zählen: André Derain, Maurice de Vlaminck, Henri Manguin, Albert Marquet, Kees van Dongen, Georges Braque, Raoul Dufy. Zweieinhalb Jahre stellten sie gemeinsam aus und bildeten bis zur Entwicklung des Kubismus die Speerspitze der Avantgarde in Paris.
Erste Ankäufe durch die Familie Stein ermöglichten Henri Matisse eine sicherere Existenz. Obwohl die Stein Matisse schon früh förderten und sogar eine Akademie mit ihm begründeten, zogen sie ihm bald Pablo Picasso vor. Henri Matisse malte weiterhin im Freien, war aber nicht mehr am Objekt, sondern deren Wirkung interessiert (Stephane Mallarmé). Der Impressionismus war Matisse zu flüchtig, er suchte nach Beständigkeit. Wichtige Impulse in dieser Zeit kamen von Aristide Maillol, mit dem ihn eine Freundschaft verband; weiters konnte er Paul Gauguins Südseebilder (→ Paul Gauguin. Werke aus der Südsee) bei einem Freund sehen. Gleichzeitig ist der Einfluss von Henri Matisse auf den deutschen Expressionismus nicht unterzubewerten (→ Expressionismus in Deutschland und Frankreich). Die Maler der beiden wichtigsten deutschen Künstlervereinigungen – „ Die Brücke “ und der „Blaue Reiter“ – fanden in der französischen Kunst wichtige Grenzübertretungen, die sie auf ihren Wegen bestärkten: Karl Schmidt-Rottluff sowie Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Marianne von Werefkin, Alexej von Jawlensky, Franz Marc, August Macke zogen aus Matisses Werken ihre eigenen Lehren; der „Blaue Reiter“ publizierte die „Notizen“ von Matisse in seinem Almanach 1912.
Fauvismus: Paradies auf Erden (1906–1908)
Die Lebensfreude
Stets selbst auf der Suche nach dem ungestörten Paradies, schuf es Henri Matisse in unzähligen Gemälden der folgenden Jahrzehnte. Zu den wichtigsten gehört „Le Bonheur de vivre [Die Lebensfreude]“ (1905, Barnes Foundation, Merion), dessen Elemente schon in älteren Werken von Matisse bekannt sind. Die traditionsreiche Ikonografie lässt sich sowohl als Hirtenszene, Bacchanal oder Reigen der Nymphen deuten. Neu hingegen ist die rhythmische Zeichnung, die die Figuren in Schwingung versetzt. Zum erklärten Ziel von Henri Matisse wurde es, die Harmonie aller Farben in ihrer Klarheit zu zeigen.
„Ich habe versucht, das Vibrato durch eine klare Harmonie zu ersetzen, einfach und frei genug, um eine ruhige Bildoberfläche zu erhalten.“ Oder „Ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne Beunruhigung und sich aufdrängende Gegenstände, von einer Kunst, die für jeden Geistesarbeiter […] ein Beruhigungsmittel ist […] so etwas wie ein guter Lehnstuhl, in dem man sich von körperlichen Anstrengungen erholen kann.“ (Henri Matisse, Notizen eines Malers)
Matisse stellte „Die Lebensfreude“ als einziges Bild im Salon des Indépendants von 1906 aus, wo es zu heftigen Kontroversen führte. Für Signac bedeutete das Arbeiten mit Linien und Farbflächen einen Verrat am Neo-Impressionismus. Wieder einmal war es Leo Stein, der die Bedeutung des Werks erkannte und es erwarb. Im Salon der Geschwister Stein sahen es viele Besucherinnen und Besucher, die zum Zirkel der Avantgarde in Paris zählten. Darunter befand sich auch Pablo Picasso, der mit seinen 1907 beendeten „Demoiselles d’Avignon“ wohl auch Matisses „Die Lebensfreude“ zu übertrumpfen gedachte. Als Leo Stein von Matisse zu Picasso schwenkte, verkaufte er das Werk an den amerikanischen Sammler Albert Barnes, der es in Merion aufstellte und in der Folge zum wichtigen Auftraggeber für Dekorationen wurde.
Oase Biskra
Im Mai 1906 reiste Henri Matisse nach Südfrankreich und Nordafrika. Von Perpignan setzte er nach Algerien über und besuchte die Oase Biskra. Hier pflegte er – im Unterschied zum reisendenden Claude Monet – während des Reisens nicht zu malen. Für Matisse stellte die Auseinandersetzung mit neuen Landstrichen und einer gänzlich andersartigen Kultur eine Form der Überforderung dar, die er zu „verdauen“ hatte. Erst nach der Rückkehr malte er in Collioure einen liegenden Akt, der in die Kunstgeschichte einging: „Blauer Akt [Erinnerung an Biskra]“ (Baltimore). Der lagernde Frauenkörper steht in der Tradition der europäisch-französischen Malerei, einzig die Palmen im Hintergrund verweisen auf die algerische Oase, die Matisse kurz zuvor besucht hatte. Es ging ihm nicht um exotische Motive, wie es noch die Maler des Orientalismus bis Eugene Delacroix und Pierre-Auguste Renoir spannend fanden (→ Delacroix und die Malerei der Moderne), sondern der wuchtige Körper in der Bildfläche verspannt. Um sich damit, dem Volumen und der Körperlichkeit, noch stärker auseinanderzusetzen, begann Henri Matisse den Frauenakt in Ton zu modellieren.
Malerei und Plastik im Dialog
1905 hatte Henri Matisse erneut zu modellieren begonnen – als Mittel zum Zweck. Er arbeitete nie in Lebensgröße und ging auch nicht wie ein ausgebildeter Bildhauer an die Arbeit. Am Ende seines Lebens meinte Matisse sogar:
„Ich habe mit Plastik angefangen, weil das, was mich in der Malerei interessierte, eine Klärung meiner Gedanken war. Ich änderte meine Methode und arbeitete in Ton, um mich von der Malerei zu erholen, in der ich absolut alles getan hatte, was ich im Moment tun konnte. Das bedeutet, dass es zum Zweck der Organisation geschah, um Ordnung in meine Gefühle zu bringen und um einen mit zusagenden Stil zu finden. Als ich ihn in der Plastik fand, hat es mir in meiner Malerei geholfen.“ (Henri Matisse)
Diese und ähnliche Aussagen führten dazu, dass die Skulptur im Werk von Henri Matisse ein Schattendasein führt, obwohl er 85 Werke in diesem Medium geschaffen hat. Er erwarb im Herbst 1906 seine erste afrikanische Skulptur, eine Vili-Figur aus dem Kongo. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs sammelte Matisse eine kleine Anzahl von (großteils unbekannten) Objekten aus Aufrika. Das Studium dieser Werke regte Matisse offenkundig dazu an, die Übergänge der Volumina - meist bestehend aus Röhren und Kugeln - abrupter aneinanderzufügen. Von verschiedenen Blickpunkten stellt sich die Autonomie und Diskontinuität der Teile verschieden intensiv dar. Noch 1941 erinnerte sich Henri Matisse, was ihn 1906 so an den afrikanischen Figuren überrascht hatte:
„Mich verblüffte ihre bildhauerische Konzeption, wie nah sie derjenigen der Ägypter war. Im Gegensatz zu europäischen Skulpturen, die immer von der Muskulatur bestimmt sind, von der genauen Beschreibung des Sujets, waren diese Negerstatuen vom Material bestimmt, ihre Formen und Proportionen erfunden.“
Henri Matisse arbeitete gleichzeitig an der Plastik zum „Liegenden Akt I“ und dem Gemälde „Blauer Akt (Erinnerung an Biskra)“ (1907, The Baltimore Museum of Art). Durch ein Missgeschick fiel die Tonskulptur zu Boden. Wenn auch die Plastik wieder aufgerichtete werden konnte, so zeigte sich eine unnatürlich starke Drehung in der Taille und eckige Bewegungen. Diese übernahm Matisse in seinem Gemälde „Erinnerung an Biskra“, wie er selbst sagte:
„Am nächsten Morgen hob ich die Skulptur auf […] Davor aber, im Vertrauen darauf, was mir davon im Geist geblieben war, nahm ich eine große Leinwand und malte Erinnerung an Biskra.“1
Der muskulöse Akt scheint die Bildfläche fast zu sprengen. Zweifellos interessierte sich der französische Maler nicht für die Landschaft oder ein Stillleben. Doch waren es in der Folge gerade nordafrikanisches Kunstgewerbe und islamische Kunst – Stoffe, Teppiche, Keramiken, Metallobjekte –, die seine Kunst maßgeblich beeinflussten.
Fauvismus als Theorie
Im Herbst 1906 lernte Matisse Pablo Picasso kennen. Wenig später, 1907, ist im Werk von Matisse eine Tendenz zur Vereinfachung und zur Monumentalität zu entdecken, die er bis zu den Dekorationen der folgenden Werke noch steigerte. Gleichzeitig musste er eine Lehrmethode für seine Art der Gestaltung entwickeln, denn Anfang 1908 eröffnete er eine Malschule gemeinsam mit Sarah Stein und Hans Purrmann. Der nunmehr in Künstlerkreisen verehrte Matisse hatte schlussendlich 60 Schülerinnen und Schüler. Bereits 1911 gab er das Unterrichten wegen Zeitmangels auf.
1908 war auch das Jahr des internationalen Durchbruchs von Henri Matisse mit Ausstellungen in London, New York, Moskau, Berlin; sowie der Zeitpunkt, als er seine „Notizen eines Malers“ veröffentlichte und so sein Credo auch in der Theorie verbreitete. Für die internationale Wahrnehmung des Malers spricht, dass der russische Sammler Sergej Schtschukin 1908 begann, Werke von Matisse zu erwerben bzw. ihn mit neuen Kompositionen beauftragte. Der nun einsetzende finanzielle Erfolg ermöglichte es Henri Matisse mit seiner Familie den Quai Saint-Michel in Paris zu verlassen und nach Issy-les-Moulineaux zu übersiedeln, wo sie ein Haus kauften.
„Ein einziger Ton ist nichts als Farbe; zwei Töne sind ein Akkord, sind Leben.“ (Henri Matisse)
Die großen Dekorationen (1909–1910)
Sergej Schtschukin kaufte 1908 ein Bild aus dem Salon d’Automne, das den Titel „Harmonie in Blau, Dekorationstafel für ein Speisezimmer“ trug. Ursprünglich war es mit einem grünen Hintergrund gemalt worden, als der russische Sammler es 1909 erhielt, hatte Matisse das Grün durch ein Rot ersetzt: Als „Der servierte Tisch (Rote Harmonie)“ (1908, Eremitage, St. Petersburg) ging es in die Kunstgeschichte ein. Die grüne Tapete hatte dem Maler zu wenige Kontrastwirkung mit der Frühlingslandschaft im Fensterausblick geboten, weshalb er sie kurzerhand umgestaltet hat. Wandbespannung und Tischdecke sind aus Jouy-Leinen vorgestellt. Der rotgrundige Stoff mit den blauen Mustern vereinheitlicht Wand und Tisch, minimiert den Eindruck von Räumlichkeit, obwohl die Zeichnung diese noch korrekt konstruiert. Der in kurzer Zeit von Henri Matisse entwickelte Stil entbehrt nicht einer gewissen dekorativen Wirkung, die vom Künstler als positiv gedeutet wurde. Alles ist einem Rhythmus, einer Bildordnung unterworfen, wobei die Dinge aber auch das Dienstmädchen zu silhouettenhaften Formen reduziert sind.
1909 unterzeichnete Henri Matisse einen Vertrag mit der Galerie Bernheim-Jeune und zog nach Issy-les-Moulineaux um. Ein Jahr später richtete Bernheim-Jeune Matisses erste große Retrospektive aus. Für Sergej Schtuschukin malte Henri Matisse ab 1909 zwei große Wandbilder: „Der Tanz“ und „Die Musik“ (Entwürfe im MoMA, ausgeführte Bilder in der Eremitage). Einmal mehr wählte Matisse die Grundfarben Rot, Ultramarin und Smaragdgrün, indem er persischer Keramik und Miniaturen folgte. Er reduzierte die Bildgegenstände auf ein Minimum und vereinfachte die Formen maximal, lässt die Figuren einen Abstraktions- und Stilisierungsprozess durchlaufen. Dadurch entstanden große, einfarbige Formen, die von einer Linie zusammengehalten werden, die zur Selbständigkeit tendiert.
„Mein Bild „Die Musik“ war mit einem schönen Himmelblau gemalt, dem blauesten Blau. Die Fläche war mit Farbe gesättigt, das heißt, sie war bemalt bis zu dem Punkt, wo das Blau, die Idee des absoluten Blau, voll und ganz durchschien; Grün für die Bäume und vibrierendes Zinnober für die Figuren. Mit diesen drei Farben erzielte ich die leuchtende Harmonie, die mir vorschwebte, und auch die Reinheit des Farbtons. […] Und noch besonders zu bemerken ist, dass die Farbe nach der Form proportioniert wurde. Die Form veränderte sich durch das Zusammenspiel der sie umgebenden farbigen Flächen. Denn die Wirkung liegt in den farbig bemalten Flächen, die der Beschauer als Ganzes erfasst.“ (Henri Matisse)
Die Farbe, das Ornament und Marokko (1911–1913)
Auch in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zeigt das Werk von Henri Matisse keine stilistische Geschlossenheit: Der Reduktion der Dekorationen setzte er in den Stillleben die Ornamentik der Tücher entgegen. Zunehmend fühlte er sich von orientalischer Kunst und Dekoration angezogen, weshalb er sie auch leidenschaftlich sammelte (→ Henri Matisse: Das geheime Leben der Dinge). 1910 besuchte er eigens die Ausstellung zur islamischen Kunst in München, die Wintermonate des Jahreswechsels verbrachte er in Sevilla. Im Jahr darauf beschäftigte er sich in seinen Werken mit Interieurs: Aufbrechende Muster und aufgelöste Räumlichkeit, in Kombination mit dekorativen Elementen des Mittelmeerraums verunklären die Verhältnisse der Objekte zueinander im Raum. Farbe steht weder für den Gegenstand noch Emotion, sondern nur noch für sich.
Die Begeisterung für das Orientalische führte Henri Matisse 1912 erneut nach Nordafrika: Am 29. Januar 1912 schiffte er sich in Marseille für Tanger ein, wo er bis zum Frühjahr blieb. Von Oktober 1912 bis Mitte Februar 1913 reiste Matisse nach Marokko. Dort arbeitete der französische Maler nach einem Modell. Schwarztöne und Kontraste gehörten zu den wichtigsten Studienfragen von Matisse.
„Die Reisen nach Marokko halfen mir, diesen Übergang zu bewerkstelligen und die Fühlung mit der Natur wieder besser herzustellen, als es die Anwendung einer zwar lebendigen, aber doch einigermaßen begrenzten Theorie wie die des Fauvismus getan hätte.“
Depression und Zeit der Experimente (1914–1918)
Der Erste Weltkrieg ist im Werk von Henri Matisse deutlich zu spüren. Er wandte sich von der Farbe ab und noch stärker der Form zu! Vielleicht stand dahinter auch Matisses Auseinandersetzung mit dem Kubismus, der ab 1912 durch die sogenannten „Salonkubisten“ große Aufmerksamkeit erregte. Neuerlich trat Henri Matisse in eine Phase des Experiments. Im Vergleich zu den Werken vor dem Krieg, in denen er Ruhe und Frieden erzielen wollte, ließ er nun Spannungen und Ängste zu. 1914 erreichte die Reduktion der Formen auf geometrische Figuren einen Höhepunkt, der bis 1916 anhielt. Das Atelierbild „Ansicht von Notre-Dame“ (1914, MoMA) setzt die berühmte französische Königskathedrale ins Bild. Im fünften Stock des Hauses am Quai Saint-Michel 19, wo Matisse so lange mit seiner Familie gewohnt hatte, entstanden, zeigt es das blockhafte Westwerk ohne gotische Strukturen. Der Raum verschwindet hinter wenigen perspektivischen Linien, die Auflösung ins Blau könnte eine Stimmung der Wehmut aufkommen lassen. In den folgenden Jahren verdunkelte sich die Palette von Matisse, Schwarz spielt nun großflächig aufgetragen eine neue Rolle in seinen Bildern, meist Interieurs oder Stillleben (vgl. Türfenster in Collioure, 1914, Centre Pompidou).
Der Erste Weltkrieg betraf Henri Matisse sehr direkt, wurden doch beide seiner Söhne eingezogen: Im Sommer 1917 verließen Jean und Pierre das Haus, um bei einer Panzereinheit (Pierre) und der Luftwaffe (Jean) eingesetzt zu werden. Der ohnedies die Arbeit und die Einsamkeit liebende Matisse zog sich daraufhin noch stärker in sein Werk zurück.
Im Winter 1916 hielt sich der Maler erstmals wieder in Nizza auf, da ihm sein Arzt wegen einer Bronchitis den Aufenthalt in Menton empfohlen hatte. Nur zögerlich kehrte Matisse in den Süden zurück, verbrachte meist die Wintermonate hier. Am 31. Dezember 1917 besuchte er erstmals den von ihm verehrten Pierre-Auguste Renoir in Cagnes. Als er diesem seine eigenen Bilder präsentierte und eine Meinung einholen wollte, zeigte sich der hochbetagte Impressionist skeptisch ob er der künstlerischen Experimente seines Nachfolgers. Bis 1918 häuften sich dennoch die Besuche bei Renoir, der in der Zwischenzeit an seinen idyllischen Mutter-Kind-Darstellungen arbeitete. Ein weitere Künstlerfreund war auch Pierre Bonnard in Antibes - beiden wurde das Urteil zuteil, die dekorativsten und bekanntesten Maler Frankreichs zu sein - und erst sehr spät für ihre farbigen Werke Anerkennung zu finden.
Nizza-Periode (1919–1930)
Die sogenannte Nizza-Periode in Matisses Werk lässt sich vielleicht am treffendsten mit „Odalisken, Krise und eine Reise nach Tahiti ohne (direkte) Folgen“ zusammenfassen (→ Henri Matisse. Figur & Ornament). Henri Matisse ließ 1919 Paris hinter sich und übersiedelte winters immer nach Nizza; die Sommer verbrachte er in Issy. Seine Gemälde sind von weichen und üppigen Formen bestimmt; desgleichen lässt sich von Matisses Zeichenstil behaupten.
Dass der Maler Ingres‘ „Türkisches Bad“ mehr als Edouard Manets „Olympia“ schätzte, begründete er damit, dass Ingres als ersterer eine sinnlichere Linienführung eingesetzt hätte. Der Einfluss beider Maler auf Matisse ist sowohl stilistisch wie auch thematisch bedeutend: Während der 1920er Jahre avancierte Henri Matisse zum berühmtesten lebenden Künstler Frankreichs (neben Picasso) und arbeitete hauptsächlich an Odalisken-Darstellungen im teils orientalisch eingerichteten Interieur oder an Fensterausblicken auf die Cote d‘Azure. Die Interieurs sind detailreich geschildert, mannigfaltige orientalische Stoffe schmücken den Raum, die teils bekleideten, teils nackten Körper gehen in den ornamentalen Flächen auf.
Von März 1930 bis 1931 trat der nunmehr wohlhabende Künstler eine Weltreise an: Sie führte Henri Matisse nach New York, Chicago, San Francisco, wo er seine amerikanische Sammler besuchte (darunter Dr. Albert C. Barnes in Merion/Pennsilvania, für den er ein Wandbild gestaltete) und weiter nach Tahiti. Matisse war bezaubert von den Lagunen Ozeaniens – brachte von diesem Aufenthalt in der Südsee jedoch nur eine kleine Ölskizze und Fotografien mit. Zuhause erarbeitete er sich v. a. mit seinen Gouache-Schnitten die Flora und Fauna der Südsee.
Figur und Bildfeld, erste Gouache-Scherenschnitte (1931–1939)
Die frühen 1930er Jahre sind bestimmt von dem Auftragswerk des amerikanischen Sammlers Albert Barnes für dessen Anwesen in Merion bei Philadelphia. Das Wandbild war für den großen Saal des Privatmuseums von Barnes bestimmt, in dem auch sein frühes Werk „Die Lebensfreude“ hing, begleitet von Werken George Seurats, Paul Cézannes, Pierre-Auguste Renoirs. Das Bildfeld war zwischen drei Türen und ebenso vielen Gewölbezwickeln.
Für die Ausführung des 52 m² großen Wandbildes mietete sich Henri Matisse ein ehemaliges Filmatelier. Er arbeitete einmal mehr an dem Thema „Der Tanz“ und schuf sein größtes Werk. Stilistisch ist es von einer starken Vereinfachung geprägt. Matisse färbte den Hintergrund in drei Farben; darauf lässt er sechs nackte Figuren tanzen. Diese erscheinen im hellen Grau der verputzten Wand. Nach Vollendung der ersten Fassung Ende des Jahres 1933 musste der Künstler erkennen, dass er mit falschen Maßen für die Gewölbezwickel gearbeitet hatte! Anstatt die Bildfläche einfach zu korrigieren, begann Matisse erneut mit der Arbeit. Die Harmonie der Formen zueinander war nicht einfach zu bestimmen, denn die tanzenden und lagernden Akte fügen sich den Formen der Gewölbezwickel nicht. Die beschnittenen Figuren deuten an, dass die Architektur nur einen Ausschnitt des Bildes freigibt und stimulieren so die Fantasie der Betrachtenden. Im Mai 1933 war das ausgeführte Werk an Ort und Stelle, und Henri Matisse konnte über das Erreichte jubeln.
Bedeutend wurde das Werk aufgrund der neuen Methode, die Matisse für seine Kompositionsexperimente entwickelt hatte: Er bemalte Papier mit leuchtenden Gouache-Farben und schnitt es in Formen. Diese Formen konnte er variantenreich arrangieren, bis er die für ihn stimmigste Komposition gefunden hatte.
„So habe ich drei Jahre gearbeitet, indem ich ständig elf Farbflächen verrückte, wie man beim Damespiel Steine versetzt (allerdings waren diese Farbflächen aus koloriertem Papier ausgeschnitten), bis ich die Anordnung fand, die mich voll befriedrigte.“
Scherenschnitte und „Jazz“(1940–1954)
Zum Jahreswechsel 1939/40 löste sich Henri Matisse von der ornamentalen Gestaltung und setzte diese nur mehr für die Gestaltung von Blusen in seinen Mädchen-Darstellungen ein. Der Hintergrund dieser Bilder wird nun leuchtend und einfarbig.
Obwohl Henri Matisse ein Visum für Brasilien hatte, entschied er sich 1940, die Kriegszeit in Frankreich durchzustehen. Aufgrund der Bedrohung und eines Darmverschlusses im März 1941 sowie einer mit Folgekomplikationen verbundene Operation in Lyon (zwei Lungenembolien und Grippe) war Henri Matisse körperlich sehr angeschlagen: Da sein Bauchfell verletzt worden war, musste er zeitlebens ein Stahlkorsett tragen und viel liegen. Der Maler zog in eine gekaufte Atelierwohnung im Hôtel Régina in Cimiez über den Anhöhen von Nizza. Zudem bewohnte er ab 1943 ein kleines, unprätentiöses Haus, die Villa Le Rêve in Vence. Durch seine Versehrtheit – aber auch dem Zeitgeschmack folgend – verstärkte er seine Beschäftigung mit Literatur und schuf eine Reihe von Künstlerbüchern. Matisse malte und zeichnete viel im Bett. Der häufig im Bett arbeitende Künstler heftete ganze Werkzyklen friesartig an die Wand und sprach diesbezüglich vom „Kino seiner Inspiration.“
Durch seine Krankheit immobilisiert, korrespondierte Matisse weiterhin intensiv mit seinen langjährigen Künstlerfreunden. So schrieb er am 27. Juni 1941 an Charles Camoin, der ihn wenige Tage später mit dem Fahrrad aus Saint-Tropez kommend besuchte: „Jeden Donnerstag kann ich eine Arbeitssitzung von drei Stunden absolvieren und stehe um 12 Uhr auf.“ Wiederholt sprach Matisse von einem ihm durch die Operation geschenkten „zweiten Leben“ von unbestimmter Dauer. Am 16. Januar 1942 schrieb er an Albert Marquet:
„Ohne Scherz – ich segne meine Operation, die mich verjüngt und zu einem Philosophen hat werden lassen.“
Jazz
Erst im Laufe des Jahres 1942 verbesserte sich das Gesamtbefinden von Matisse merklich. Nach einem Luftangriff 1943 begann Matisse die Arbeit an „Jazz“, seinem berühmtesten Künstlerbuch. Ursprünglich sollte das Werk „Cirque“ heißen, da eine Vielzahl der Darstellungen motivisch um Zirkusgestalten und Akrobaten kreist. Im begleitenden Text schrieb der Künstler:
„Diese Bilder in lebhaften und heftigen Farben haben sich herauskristallisiert aus Erinnerungen an den Zirkus, an Volksmärchen und an Reisen.“
Das Verhältnis von Bild und Text ist alles andere als illustrierend. Vor allem für „Jazz“ ließ sich der Künstler einen Text selbst einfallen, nutzte auch seine Handschrift, um Wort- und Bildspenden kongenial miteinander zu verweben. Der Verleger Emmanuel Tériade hatte Matisse bereits ab 1939 mit einem Buchprojekt betrauen wollen. Erst 1944 sollte es zur wichtigsten Zusammenarbeit zwischen den beiden Kreativen kommen: Matisse hatte 20 Scherenschnitte für „Jazz“ gefertigt, die jedoch so schwierig zu reproduzieren waren (mittels Schablonen), dass erst 1947 das Werk herausgegeben werden konnte. Der Maler verarbeitete in den Bildern verschiedenste Eindrücke, vom Zirkus über Reiseerlebnisse, mythologische Figuren und volkstümliche Kunst.
Die figürlichen Bildelemente werden durch die flächigen Formverkürzungen des Scherenschnitts zu Chiffren und Abbreviaturen, und der ihnen hierdurch eigene Abstraktionsgrad nähert sie formal den ornamentalen Motiven an. Charakteristische Motive dieser Werke sind u. a. Algen und Korallen, die Matisse gleichmäßig auf der Bildfläche verteilte. Hierin können die Früchte der Tahiti-Reise von 1930 gefunden werden.
„Immer dann, wenn ich mich in meinen Empfindungen mit der Natur im vollen Einklang befinde, spüre ich, dass ich das Recht habe, davon abzuweichen, um dadurch besser ausdrücken zu können, was ich fühle. Die Erfahrung hat mir stets recht gegeben (…) Für mich ist die Natur immer gegenwärtig.“ (Henri Matisse)
Die verwendete Technik der farbigen Scherenschnitte ermöglichte Matisse nach eigenen Worten, „in einer einzigen Geste die Linie mit der Farbe zu assoziieren.“ Wie ein improvisierender Jazz-Musiker variiert der Maler Themen- und Motivkreise. Den begleitenden Text hat er selbst verfasst und auch von Hand geschrieben. Es handelt sich um aphorismenhafte Bemerkungen über die Kunst und das Leben, die in lockerem Bezug zu den Bildern stehen. Unter der vordergründig heiteren Oberfläche der Gaukler- und Akrobatenthematik scheinen immer wieder existenziell bedrohliche Themen durch. So der „Werwolf“, der, wie Vorzeichnungen zeigen, ursprünglich dem Märchen „Rotkäppchen und der Wolf“ gewidmet war. Matisse spielte mit der Darstellung auf die Gefahr durch die Nationalsozialisten an, die zwischenzeitlich seine Tochter gefangen hielten und folterten.
Mehrere Bedeutungsschichten besitzt auch das Bild des stürzenden Ikarus, der schon in der französischen Dichtung des 19. Jahrhundert als mythologische Projektionsfigur für den Künstler galt. Ikarus will hoch hinaus und versucht das Unmögliche, muss aber an den Realitäten scheitern. Die Darstellung des stürzenden Ikarus nimmt auch Bezug zum Kriegsgeschehen, da Matisse in Vence Zeuge wurde, wie Fallschirmspringer der Alliierten am nächtlichen Himmel abgeschossen wurden. Diese Ambivalenz der künstlerischen Aussage findet sich auch in der Darstellung des Zirkusdirektors Monsieur Loyal, dessen markantes Profil die Züge von Charles de Gaulle trägt, der den französischen Widerstand koordinierte.
Rosenkranzkapelle in Vence
1948 fiel die Entscheidung, eine neue Dominikanerinnenkapelle in Vence zu erreichten. Matisse nahm sich der Aufgabe an, da ihn eine freundschaftliche Beziehung mit Schwester Monique Bougeois verband, die 1942/43 seine Krankenschwester in Nizza war. Zudem hatte sie ihm auch bei der Ausführung der Scherenschnitte für „Jazz“ geholfen. Nachdem sie als Schwester Jacques-Marie nach Vence zurückgekehrt war, nahm sie Kontakt zu dem berühmten Maler auf. Ihre Idee, einen Schuppen des Dominikanerinnenklosters zu einer Kapelle umzubauen, stieß bei Matisse auf Interesse. Am 25. Juni 1951 war die Ausstattung der Chapelle du Rosaire [Rosenkranzkapelle] durch Henri Matisse vollendet, und der Bau konnte vom Bischof von Nizza geweiht werden: Matisse entwarf Wandkeramiken und Glasfenster, aber auch die Paramente. Ziel seines Tuns war es, den Raum mit Farbe zu fluten. Die Entwürfe zu den Glasmalereien entstanden als farbige Papierschnitte; das Thema wurde mit dem Lebensbaum als Sinnbild des Goldenen Zeitalters nach der Offenbarung des Johannes festgelegt.
War Matisse ein abstrakter Maler?
Die Auseinandersetzung um figurative und abstrakte Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg war auch Henri Matisse nicht verborgen. Er fand in seinen letzten Werken eine Synthese zwischen den beiden als widersprüchlich empfundenen Pole: Als „Abstraktion mit Verwurzelung in der Realität“ beschrieb er seine Visionen von Polynesien, „Zulma“ (1950, Kopenhagen), die vier Varianten des „Blauen Aktes“ (1952). In diesen Werken arbeitete er mit dekorativen Formen, leuchtenden Farben und flächiger Gestaltung. Für Alfred H. Barr hatte sich Matisse in den 1940er Jahren zu einem „abstrakten“ Maler entwickelt:
„Viele seiner Gouacheschnitte wie die Lagunen in „Jazz“ sind praktisch reine Abstraktionen, auch wenn sie entfernte Ähnlichkeit mit organischen oder geografischen Formen haben.“ (Alfred H. Barr, Matisse, his Art and his Public, in: Matisse‘ kritische Position nach dem Krieg, 1951)
Die Bedeutung des Werks von Henri Matisse für die Kunst des 20. Jahrhunderts wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit großem Erstaunen festgestellt, und der Künstler in den 1950er Jahren mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. 1950 erhielt er den Ersten Preis für Malerei auf der Biennale von Venedig. Große Retrospektiven stellten seine Entwicklung vom Fauvisten zum Dekorationsmaler und Schöpfer von abstrahierten Figuren in Scherenschnitt-Technik einem internationalen Publikum vor. 1952 wurde das Musée Matisse in Le Chateau eröffnet.
Tod
Als Henri Matisse am 3. November 1954 in Nizza an einem Herzinfarkt verstarb, war er – auch aufgrund seiner Künstlerbücher wie „Jazz“ – ein hochgeachteter Maler, Zeichner und Schneider von Gouache-Formen. Er liegt am höchsten Punkt des Friedhofs von Chimiez. Vor allem die Reinheit der Farben und die Sparsamkeit der Mittel machten ihn zu einem populären Künstler.
Henri Matisse: wichtigste Werke
- Die Lesende, Paris Winter 1895, Öl auf Holz, 61,5 x 48 cm (Paris, Centre Pompidou): erster Erfolg des 25-jährigen Malers. Wurde vom Staat für die Präsidentenresidenz in Schloss Rambouillet angekauft.
- Der servierte Tisch, 1897 (Privatsammlung)
- Stillleben mit Orangen II, 1899 (Washington University Gallery of Art, St. Louis, Missouri)
- Das Atelier unter dem Dach, 1903, Öl auf LW, 55,2 x 46 cm (Cambridge, Fitzwilliam Museum)
- Der Leibeigene, 1900–1903–1908; Bronze; 91,77 x 37,8 x 33,02 cm (SFMOMA, Bequest of Harriet Lane Levy): Ähnlichkeit mit Rodins Schreitenden, jahrelang überarbeitet, Männerakte selten
- Die Terrasse, Saint-Tropez, 1904 (Boston, Isabela Stuart Gardner Museum)
- Luxus, Stille, Wollust, 1904/5 (Paris, Centre Georges Pompidou)
- Das offene Fenster, 1905 (Musée de Peinture et Sculpture, Grenoble)
- Die Dächer von Collioure, 1905 (Staatliche Eremitage, St. Petersburg)
- Portrait von Madame Matisse. Die grüne Linie, 1905, Öl auf LW, 100,5 x 32,5 cm (Kopenhagen)
- Frau mit Hut, 1905, Öl auf LW, 80,7 x 59,7 cm (San Francisco, MOMA, Bequest of Elise S. Haas)
- Le Bonheur de vivre [Die Lebensfreude], Winter 1905/06, Öl auf LW, 175 x 241 cm (The Barnes Foundation, Merion): künstliche Farbigkeit, Verzerrung, idealistisch-klassische Linienführung, wurde sogar von Signac abgelehnt.
- Luxus I, 1907 (Paris, Centre Georges Pompidou)
- Der blaue Akt. Erinnerung an Biskra, 1907; Öl auf LW, 92,1 x 140,3 cm (The Baltimore Museum of Art): Ideal der Unversehrtheit und Ganzheit des Körpers wurde von Matisse beschworen. Aus „Luxus, Stille, Wollust“ entwickelt, Bewunderung für Michelangelo? Am 10. Mai 1906 Reise nach Algerien, in die Oasenstadt Biskra, kann aber nicht vor Ort arbeiten. Erst zurück in Collioure entstanden das Ölgemälde und gleichzeitig die Tonskulptur.
- Liegender Akt I (Aurora), 1906-07 (Paris, Centre Pompidou): ermöglichte den Durchbruch, findet sich in vielen Stillleben, darunter „Goldfische und Skulptur“ (1912)
- Die Schlangenförmige, Issy-les-Moulineaux 1909, Höhe 56,5 cm (Nizza, Musée Matisse): Jeder Stil muss seine Anatomie finden.
- Tanz (I), 1909 (MOMA, New York): Einfachheit der Linie, drei Farben reichen; wohl Auftragswerk von Schtschukin (St. Petersburg)
- Der Tanz, 1910 (Eremitage, St. Petersburg): Die beiden Dekorationen „Der Tanz“ und „Die Musik“ verursachen im Herbstsalon von 1910 einen Skandal, weshalb ihr Auftraggeber sie nicht annehmen möchte. 1911 reist Matisse nach Russland, um die Hängung zu studieren; 1913 werden die beiden Gemälde geliefert.
- Die Musik, 1910 (Eremitage, St. Petersburg): schwarze Linien umgrenzen die Figuren
- Das rote Atelier, 1911 (MOMA, New York)
- Das blaue Fenster, Issy-les-Moulineaux Sommer 1913 (MOMA, New York)
- Der gelbe Vorhang, 1914/15, Öl auf LW, 150 x 98 cm (Collection Stephen Hahn, New York)
- Goldfische und Palette, 1914, Öl auf LW, 146,5 x 112,4 cm (New York, MOMA)
- Mademoiselle Yvonne Landsberg, 1914, Öl auf LW, 147,3 x 97,5 cm (The Philadelphia Museum of Art): Hatte an diesem Tag sich öffnende Magnolien gemalt und das bei der letzten Sitzung auf das Porträt übertragen.
- Ansicht von Notre-Dame, 1914, Öl auf LW, 147,3 x 94,3 cm (New York, MOMA)
- Türfenster in Collioure, 1914, Öl auf LW, 116,5 x 88 cm (Centre Georges Pompidou)
- Die Klavierstunde, 1916 (New York, MOMA): Erinnerung an die Klavierstunde seines Sohnes Jean.
- Das Atelier am Quai Saint-Michel, 1916, Öl auf LW, 147,9 x 116,8 cm (Washington, The Philips Collection): Rückkehr zum lebenden Modell.
- Interieur in Nizza, 1917-18, Öl auf LW, 73,7 x 60,6 cm (The Philadelphia Museum of Art)
- Der Federhut, 1919, Öl auf LW, 73 x 60,3 cm (The Minneapolis Institute of Arts)
- 1930–1932 Entwurf für das Wandbild bei Barnes, 1932 falsche Maße entdeckt
- Interieur mit Geige, 1918-19, Öl auf Leinwand, 73 x 60 cm (New York, MOMA)
- Der maurische Paravent, 1921, Öl auf LW, 92,1 x 74,3 cm (The Philadelphia Museum of Art)
- Odaliske mit erhobenen Armen, grün gestreifter Sessel, 1923, Öl auf LW (Washington, NG of Art, Chester Dale Collection)
- Lesende vor schwarzem Hintergrund, 1930, Öl auf LW (Paris, Centre Georges Pompidou)
- Der Tanz, 1930-31, Wandgemälde (Barnes Foundation): Auftragswerk des amerikanischen Sammlers Barnes für dessen Anwesen in Merion bei Philadelphia. Matisse‘ s größtes Werk, starke Vereinfachung. Nach Vollendung der ersten Fassung – falsche Maße! Für seine Kompositionsexperimente bemalte er Papier und schnitt es in Formen. So konnte er zu arrangieren beginnen.
- Rosafarbener Akt, 1935, Öl auf LW, 66 x 92 cm (The Baltmore Museum of Art)
- Die rumänische Bluse, 1937, Öl auf LW, 74 x 61 cm (Cinncinnati Art Museum)
- Die rumänische Bluse, 1940, Öl auf LW, 92 x 72 cm (Paris, Centre Georges Pompidou)
- Polynesien, das Meer (nach einem Gouacheschnitt 1946), Wandbehang, Manifacture nationale de Beauvais 1949 (Centre Pompidou): auf Leinen gedruckt
- Jazz, 1947: Nach einem Luftangriff 1943 begann Matisse die Arbeit an „Jazz“, seinem berühmtesten Künstlerbuch. Das Verhältnis von Bild und Text ist alles andere als illustrierend. Vor allem für „Jazz“ ließ sich der Künstler einen Text selbst einfallen, nutzte auch seine Handschrift, um Wort- und Bildspenden kongenial miteinander zu verweben. Reproduktion mittels Schablonen.
- Der ägyptische Vorhang, 1948, Öl auf LW, 116,2 x 84,1 cm (Washington, Philipps Collection)
- Großes rotes Interieur, 1948, Öl auf LW, 146,1 x 97,2 cm (Paris, Centre Georges Pompidou)
- Rosenkranzkapelle der Dominikanerinnen, Vence 1949
- Zulma, 1950, Gouache auf Papier, 238 x 133 cm (Kopenhagen): stehende, marokkanische Odaliske
- Der blaue Akt I–IV, 1952
- Der Sittich und die Sirene, 1952/3 (Amsterdam, Stedelijk Museum)
Literatur zu Matisse
- Henri Matisse, Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel. Plaudereien mit Pierre Courthion, aus dem Französischen übers. von Thomas Bodmer, Zürich 2019.
- Matisse – Metamorphosen (Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, 30.8.–8.12.2019; Musée Matisse, Nizza, 7.2.–6.5.2020), Zürich 2019.
Beiträge zu Henri Matisse
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