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Ernesto Neto. Werke Räume, Gerüche, Zellstrukturen

Ernesto Neto, Variation on Color Seed Space Time Love, 2009, Detail, Installationsfoto: Alexandra Matzner.

Ernesto Neto, Variation on Color Seed Space Time Love, 2009, Detail, Installationsfoto: Alexandra Matzner.

Organisch, anthropomorph, verknotet, duftend, interaktiv! Die skulpturalen Arbeiten des 1964 in Brasilien geborenen Ernesto Neto sind mit allen Sinnen zu erkunden. Mit Baumwolle, Kunststoff, Sand, Gewürzen, Blei und der Schwerkraft komponiert er raumfüllende Installationen, mit denen er seit Ende der 1990er Jahre zum Schauen, Tasten, Riechen, Hören - und neuerdings auch gemeinsam Singen - einlädt. Während der brasilianische Superstar für Francesca Habsburg eine neue Arbeit konzipiert, gibt die Kunsthalle Krems mit der geplanten Retrospektive einen Überblick über sein 25-jähriges Schaffen.

Neto, der Brasilianer

„Wir“, so formulierte der Künstler Hélio Oiticica 1984, „sind gleichzeitig Schwarze, Indios, Weiße – unsere Kultur hat nichts mit der europäischen zu tun, obgleich sie bis heute stark von dieser unterdrückt wird: Nur die Schwarzen und die Indios haben nicht vor ihr kapituliert.“1 Zur Schaffung einer wahren brasilianischen Kultur müsse das europäische und amerikanische Erbe in anthropophager Weise absorbiert werden. Das Ergebnis wurde Tropicália genannt. Seit 1964, dem Geburtsjahr Ernesto Netos, herrschte Militärdiktatur in Brasilien. Wieder Oiticica: „Wir sind keine Befürworter des abstrakten Denkens. Wir wollen stattdessen lebende Gedanken/Ideen des Lebens kommunizieren.“2

Jahre der Auseinandersetzung mit der brasilianischen Kunst und Kultur aber auch mit dem europäischen Erbe (v. a. die Lektüre von Jacques Lacan) ließen Ernesto Neto von einem Bildhauer in der Tradition des Neo-Konkretismus zu einem Verteidiger schamanistischer Praktiken aus dem Amazonas-Gebiet werden. Netos bunte, gehäkelte Zelte haben auf dem ersten Blick nur mehr wenig mit seinen frühen bildhauerischen Experimenten mit Stahlplatten, Eisenstangen und mehr oder weniger elastischen Seilen zu tun. Freilich, die Suche nach dem Gleichgewicht der Kräfte ist ein zentrales Anliegen geblieben, wie auch die Verbindung von Kunst und Leben ein Merkmal der Tropicália-Bewegung war.

Räume, Gerüche, Zellstrukturen

„Esqueletos Glóbulos“ (2001) - auf Deutsch etwa „Skelett der Blutkörperchen“ - heißt die über 14 Meter lange, begehbare Installation, mit der Hans-Peter Wipplinger und die Kunsthalle Krems in das Werk des Brasilianers einleiten. Eigentlich besteht sie nur aus weißen Strumpfhosen, ausgepolstert mit unzähligen Styropor-Kügelchen. Mit Sand gefüllt Gegengewichte halten die leichte Konstruktion an ihrem Platz, wenn die Besucher_innen vorsichtig durch die Löcher schlüpfen. Einerseits scheint sich das Gebilde zu öffnen und gleichzeitig verspinnt es sich im Raum. Schnell macht „Esqueletos Glóbulos“ vergessen, dass man sich in einem Museum befindet, ebenso verliert die orthogonale Architekturhülle ihren Reiz. Auch wenn sich Ernesto Neto nicht als Architekt bezeichnet lässt, so ist er doch Schöpfer von Räumen. Räume, die bezaubern, die den Alltag vergessen machen, die ihre eigene Ästhetik entwickeln.

Netos Skulpturen faszinieren als begeh- und benutzbare Körper im Raum. Ihre dehnbaren Häute fassen Füllmaterial wie Gewürze (Zimt, Curry, Chili, Gewürznelken, Kurkuma, Oregano, Lavendel) und spielen mit olfaktorischen sowie haptischen Effekten und. Schon seit seinen frühesten Anfängen nutzt Neto die Schwerkraft und macht aus dieser das gesamte Leben bestimmenden, aber unsichtbaren Kraft eine „Mitarbeiterin“ für seine Konstruktionen.

Wien und global

In Wien und Umgebung war Ernesto Neto bislang nur in Gruppenausstellungen zu sehen. Die Wiener Secession stellte den 1964 in Río de Janeiro geborenen Brasilianer erstmals 1996 in „Transformal“ vor. Etwa gleichzeitig wurde auch Francesca Habsburg auf den Brasilianer aufmerksam und eine seiner ersten großen Sammlerinnen. Drei Stück der „Humanoides“ (2001) aus ihrer Sammlung bilden eine Brücke zwischen dem Augarten und der Retrospektive in Krems. Im Jahr 2005 präsentierte die TBA 21 „Deseos Fluidos“, die Installation, mit der die Kremser Schau beginnt. Das Freud Museum beauftragte ihn im gleichen Jahr mit einer Auseinandersetzung mit Sigmund Freud. Entstanden ist „Tractatus IDeuses“, der ebenfalls in Krems zu sehen ist. Diese Arbeit befindet sich heute in der Sammlung des Verbund und wurde 2013 im Museum der Moderne im Rahmen der Sammlungspräsentation „open spaces | secret places“ der Öffentlichkeit wieder vorgestellt.

Die Kunsthalle Wien stellte 2010 Ernesto Neto als Erben der Tropicália-Bewegung und der 1960er Jahre in Brasilien vor.3 Mit der Einzelpräsentation im Sommer 2015 in der Kunsthalle Krems wird ein Überblick über das Werk des international erfolgreichen Installationskünstlers erstmals sinnlich erfahrbar. Seine Installation „Aru Kuxipa (Heiliges Geheimnis)“ in der TBA-21 in Wien stellt der Brasilianer als Kommunikations- und Interaktionsraum zwischen den Huni Kuin und allen Interessierten zur Verfügung.

Biografie von Ernesto Neto (* 1964)

1964 in Rio de Janeiro (Brasilien) geboren.
2001 Ernesto Neto war an der Biennale beteiligt. Das kann als ein Startschuss für die internationale Großkarriere gelten.
2001 Vertrat Brasilien auf der Biennale von Venedig.
2002 Neto arbeitete im Hirshhorn Museum in Washington
2006 Zu seinen spektakulärsten Werken zählt die komplexe, anthropomorphe Skulptur „Léviathan Thot“ im Panthéon in Paris, für die er in die französische Ehrenlegion aufgenommen wurde.
2008 im MACRO in Rom eingeladen.
2009 Ausstellung in der Park Avenue Armory New York
2010 Ausstellung im MoMA
2014 Ausstellung im Museo Guggenheim Bilbao
Lebt und arbeitet in Rio de Janeiro.

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  1. Aus dieser „menschenfresserischen“ Art ging Tropicália hervor. Zitiert nach Sabine Breitwieser, vivências / Lebenserfahrung / life experience. Brüche in der Übersetzung, in: Sabine Breitwieser (Hg.), vivências / Lebenserfahrung / life experience (Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien 15.9.-22.12.2000), Köln/Wien 2000, S. 13-34, hier S. 19.
  2. Zitiert nach Thomas Mießgang, Tropocália. Das Verschlingen des geheiligten Feindes, in: Gerald Matt, Thomas Mießgang (Hg.), Tropicália. Die 60s in Brasilien (Ausst.-Kat. Kunsthalle Wien 28.1.-2.5.2010), Wien 2000, S. 9-38, hier S. 12.
  3. Mit der Schau „Vivências. Lebenserfahrung“ in der Generali Foundation stellte Sabine Breitwieser die brasilianische Kunst der 1960er-Jahre und ihre Ausrichtung zugunsten einer Ganzheit von Körper, Psyche bzw. Emotionen und Geist. Siehe Sabine Breitwieser, vivências / Lebenserfahrung / life experience. Brüche in der Übersetzung, in: Sabine Breitwieser (Hg.), vivências / Lebenserfahrung / life experience (Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien 15.9.-22.12.2000), Köln/Wien 2000, S. 13-34, hier S. 14.
  4. Aus dieser „menschenfresserischen“ Art ging Tropicália hervor. Zitiert nach Sabine Breitwieser, vivências / Lebenserfahrung / life experience. Brüche in der Übersetzung, in: Sabine Breitwieser (Hg.), vivências / Lebenserfahrung / life experience (Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien 15.9.-22.12.2000), Köln/Wien 2000, S. 13-34, hier S. 19.
  5. Zitiert nach Thomas Mießgang, Tropocália. Das Verschlingen des geheiligten Feindes, in: Gerald Matt, Thomas Mießgang (Hg.), Tropicália. Die 60s in Brasilien (Ausst.-Kat. Kunsthalle Wien 28.1.-2.5.2010), Wien 2000, S. 9-38, hier S. 12.
  6. Mit der Schau „Vivências. Lebenserfahrung“ in der Generali Foundation stellte Sabine Breitwieser die brasilianische Kunst der 1960er-Jahre und ihre Ausrichtung zugunsten einer Ganzheit von Körper, Psyche bzw. Emotionen und Geist. Siehe Sabine Breitwieser, vivências / Lebenserfahrung / life experience. Brüche in der Übersetzung, in: Sabine Breitwieser (Hg.), vivências / Lebenserfahrung / life experience (Ausst.-Kat. Generali Foundation, Wien 15.9.-22.12.2000), Köln/Wien 2000, S. 13-34, hier S. 14.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.