Lucio Fontana (Rosario 19.2.1899–7.9.1968 Comabbio bei Varese) war ein argentinisch-italienischer Avantgardekünstler der ersten Nachkriegsgeneration, der durch das Concetto spaziale weltberühmt wurde. Fontanas Werk umfasst sowohl abstrakte Malerei (→ Abstrakte Kunst), figurative Plastik, Keramik und Lichtinstallationen.
Lucio Fontana wurde am 19. Februar 1899 in Rosario de Santa Fe, Argentinien, geboren. Seine Mutter, Lucia Bottini, war Theaterschauspielerin, sein Vater, Luigi Fontana, Bildhauer. Die Familie übersiedelte 1905 nach Italien, wo Lucio die Schulzeit verbrachte.
Ab 1914 besuchte Lucio Fontana die Baugewerkschule Carlo Cattaneo sowie die Kunsthandwerkerschule an der Accademia di Belle Arti di Brera in Mailand. Zusätzlich erhielt er eine Ausbildung im Atelier des Vaters, der für eine Zeitlang nach Italien zurückgekehrt war.
Im Ersten Weltkrieg diente Fontana als Freiwilliger in der italienischen Armee und wurde nach einer Verwundung entlassen. Zurück in Mailand schloss er 1921 das Studium mit einem Diplom als Bauleiter ab.
Früh schloss sich Fontana der faschistischen Bewegung an und ist bereits 1920 als Mitglied der Fasci di combattimento bezeugt. So beteiligte er sich 1937 an einem Wettbewerb für eine Mussolini-Büste.
Ende 1921/Anfang 1922 kehrte Lucio Fontana nach Rosario de Santa Fe zurück, wo er im Atelier seines Vaters mitarbeitete. Fontana eröffnete 1924 ein eigenes Bildhaueratelier; er nahm an Ausstellungen und Wettbewerben teil. Seine erste öffentliche Arbeit war ein Relief zum Gedenken an Louis Pasteur für die Universität von Rosario (1923/24).
Mitte 1927 kehrte Lucio Fontana nach Mailand zurück. Er schrieb sich an der Accademia di Belle Arti di Brera ein und besuchte die Klasse des Symbolisten Adolfo Wildt. 1929 erhielt er seinen Abschluss. Als Abschlussarbeit zeigte er „El auriga [Der Wagenlenker]“ (1928). Die bildhauerischen Arbeiten dieser Zeit weisen eine Vorliebe für klare Konturen und einen flächenhaften Aufbau auf.
Bereits 1930 nahm Lucio Fontana erstmalig an der „17. Biennale von Venedig“ teil, mit den Skulpturen „Eva“ (1928) und „Vittoria fascista [Faschistischer Sieg]“ (1929). Ein Jahr später folgte Fontanas erste Einzelausstellung in der „Galleria il Milione“ in Mailand (1931). Zu sehen war unter anderem „Uomo nero [Schwarzer Mann]“ (1930). Die roh geformte, mit schwarzem Teer überzogene Figur kennzeichnet den radikalen Bruch mit dem Symbolismus seines Lehrers Adolfo Wildt.
In den 1930ern schuf Lucio Fontana neben figürlichen Arbeiten auch abstrakte Skulpturen und kooperierte intensiv mit Architekten. Im Zuge der Zusammenarbeit mit Luigi Fini und Gino Pollini sowie der Gruppe BBPR entstanden 1933 anlässlich der V. Triennale in Mailand die Skulpturen „Badende“ und „Liebende“.
Fontana unterzeichnete 1935 das Manifest zur ersten Gemeinschaftsausstellung abstrakter italienischer Kunst in Turin. Er schloss sich der Pariser Gruppe „Abstraction-Création“ an, gemeinsam mit Melotti, Soldati und Veronesi begründete er die italienische Sektion. In der „Galleria il Milione“ stellte Fontana erstmals abstrakte Skulpturen aus.
Lucio Fontana widmete sich von 1936 bis 1939 keramischen Arbeiten in der Manufaktur von Giuseppe Mazzotti in Albisola und in der Porzellanmanufaktur Sèvres bei Paris.
Die ersten beiden Fontana-Monografien, verfasst von Edoardo Persico bzw. Erich E. Baumbach, erschienen 1936 und 1938. Fontana war in vielen Ausstellungen vertreten und hatte Einzelausstellungen in der Galerie Jeanne Bucher-Myrbor, Paris (1937), und in der „Galleria il Milione“ (1938). Seine Materialexperimente führten dazu, dass er Skulpturen aus farbigem Mosaik schuf.
Für die „VI. Mailänder Triennale“ 1936 entwarf Fontana zusammen mit Edoardo Persico, Giancarlo Palanti und Marcello Nizzoli die Sala della Vittoria und trug dazu die Skulptur der Göttin „Vittoria“ bei.
Die Decke Volo di Vittorie [Flug der Siegesgöttinnen] für das Sacrario dei martiri [Heiligtum der Märtyrer] im Gebäude der Confederazione dei fasci milanesi [Bund der Mailänder Faschisten] entstand zwischen 1938 und 1939. Heute befindet sich dort die Polizeidienststelle Mailänder Dom.
Im Frühjahr 1940 reiste Fontana nach Argentinien, um dort an einem Wettbewerb für das „Monumento Nacional a la Bandera“ teilzunehmen, das in Rosario entstehen sollte. Der Kriegseintritt Italiens verhinderte seine Rückkehr.
Von 1941 bis 1950 beteiligte sich Lucio Fontana in Argentinien erfolgreich an zahlreichen Ausstellungen, er erhielt verschiedene Auszeichnungen und unterrichtete an mehreren Kunstschulen. Im Jahr 1946 gehörte Fontana zu den Gründern und Lehrern der Altamira Escuela Libre de Artes Plàsticas in Buenos Aires. Aus Diskussionen mit jungen Künstler:innen und Intellektuellen entstand 1946 das „Manifiesto Blanco“. Es wurde in Form von Flugblättern veröffentlicht. Darin nahm Fontana Konzepte des Futurismus auf, indem er eine Synthese von Malerei, Bildhauerei, Musik und Dichtung vorschlug und eine Abkehr von den herkömmlichen Materialien forderte.
Im Jahr 1946 verwendete Lucio Fontana erstmals der Begriff „Concetto spaziale [Raumkonzept]“ in den Titeln einer Gruppe von Zeichnungen. In den nun folgenden Konzepten forderte Lucio Fontana eine dynamische Kunst ohne „malerische und propagandistische Rhetorik“. Fontana durchlöcherte Leinwände und erreichte damit Plastizität anstelle eines zweidimensionalen Bildes, das Tiefenraum nur illusionistisch darstellt. Das Lochmuster entstand meistens auf monochromen Bildern, eine Begrenzung der Fläche fehlt. Zudem klebte Fontana eine schwarze Leinwand (Gaze) auf die Rückseite der Keilrahmen, um die Schnitte und Löcher besser sichtbar zu machen. Raum sollte sowohl in der Malerei als auch in der Skulptur als ein „sich frei entfaltendes, unbegrenztes Kontinuum“ betrachtet werden.
Nachdem er im März 1947 nach Italien zurückgekehrt war, entstanden in Mailand zwei Gipsskulpturen – „Concetto spaziale: Uomo atomico [Raumkonzept: Atommensch]“ und „Scultura spaziale [Raumskulptur]“. Beide wurden wegweisend für die Formensprache des Spazialismo. In Albisola nahm Fontana die Arbeit mit Terrakotta und Keramik wieder auf.
In der Galleria del Naviglio entstand 1949 das „Ambiente spaziale a luce nera [Räumliche Umgebung mit Schwarzlicht]“. Im selben Jahr begann Fontana die Serie der „Buchi [Löcher]“. Der Künstler stellte neue Keramiken in der Ausstellung „Twentieth-Century Italian Art“ im Museum of Modern Art (MoMA) in New York (1949) sowie 1948 und 1950 auf der Biennale von Venedig aus.
Ende 1950 nahm Fontana am Wettbewerb für die fünfte Tür des Mailänder Doms teil. Seine Modelle wurden in der zentralen Halle der „IX. Mailänder Triennale“ ausgestellt. Ebenfalls für die Triennale realisierte er „Struttura al neon“, eine Lichtarabeske für die große Treppe des Palazzo dell‘arte, und „Soffitto a luce indiretta [Decke mit indirekter Beleuchtung]“ im Foyer, in Zusammenarbeit mit den Architekten Luciano Baldessari und Marcello Grisotti. Auf dem anlässlich der Triennale abgehaltenen Kongress mit dem Titel „De Divina Proportione“ verlas Fontana das „Manifesto tecnico dello Spazialismo [Technisches Manifest des Spazialismo]“ und erläuterte es durch Zeichnungen.
Im Mai 1952 unterzeichnete Lucio Fontana das „Manifesto del movimento spaziale per la televisione“ und führte im Rahmen der ersten Fernsehübertragung der RAI in Mailand Lichtexperimente mit Werken aus der Serie der Buchi durch.1
Ab 1952 Lucio Fontana entwickelte seine Serien der „Pietre [Steine]“, „Gessi [Arbeiten mit Pastellkreide]“, „Barocchi [Barock-Bilder]“ und „Inchiostri [Tinten-Bilder]“ sowie einige „Sculture spaziali [Raumskulpturen]“, die auf schmalen Stelen stehen. In „Pietre“ verstärken farbige Glasstücke die Räumlichkeit und die Lichtwirkung der Oberfläche.
Ende 1958 begann Fontana die Werkgruppe der „Tagli [Schnitte]“, die im folgenden Jahr in Einzelausstellungen in der Galleria del Naviglio in Mailand und in der Galerie Stadler in Paris zum ersten Mal präsentiert wurden. Ebenfalls 1959 waren sie auf der „documenta II“ in Kassel und auf der „5. Biennale von São Paulo“ in Brasilien zu sehen. Fontana führte die Schnitte anfangs unbewusst, später aber systematisch mit einem Messer von vorne oder hinten auf der Leinwand aus. Er zerstörte damit den Bildträger und damit die Grundbedingung der traditionellen Malerei.
Heinz Mack besuchte Fontana 1959 in dessen Mailänder Atelier. Es folgte ein intensiver Austausch zwischen Fontana und den Künstler:innen im Umkreis der ZERO-Gruppe.
Gegen Ende der 1950er Jahre entwarf Fontana die Serien „Quanta [Quanten]“ und „Nature [Natur(en)]“. Letztere resultierte aus seiner Arbeit mit Keramik in Albisola. Die frühesten „Nature“ wurden vom Künstler noch als „Ballons“ bezeichnet. Er setzte seine formalen Erkundungen auch noch in den 1960er Jahren kontinuierlich fort, u. a. mit den Werkreihen der „Olii [Ölbilder]“, „Metalli [Metalle]“, „La Fine di Dio [Das Ende Gottes]“, „Teatrini [Kleine Theater]“ und „Ellissi [Ellipsen]“.
Fontanas Werk fand ab Anfang 1960 internationale Anerkennung. 1961 hatte er seine erste Einzelausstellung in den USA, in der Martha Jackson Gallery, New York.
Im Rahmen der Biennale 1966 arbeitete er mit dem Architekten Carlo Scarpa zusammen und entwarf einen weißen Raum mit geschlitzten Leinwänden in Nischen.
Lucio Fontana starb am 7. September 1968 in Comabbio (Varese).
Herbst 1969 Die Ausstellung „Hommage à Fontana“ des Von der Heydt-Museums fand in der Kunsthalle Barmen mit über 40 Werken Fontanas statt, ergänzt um Werke jüngerer Künstler:innen, u. a. aus dem Umkreis der ZERO-Gruppe.
Lucio Fontana hatte keine Kinder.