Unzählige Gliederpuppen unterschiedlicher Größe sind in familiären Kleingruppen auf Kinderbänken aus dem frühen 19. Jahrhundert arrangiert. Eine rätselhafte hölzerne Armee, deren kollektiver Blick auf eine einzelne stehende Figur gerichtet ist. Befinden wir uns hier vor Gericht? Und worüber urteilt diese eingeschworene, wohl jahrhundertealte Gemeinschaft?
Die Installation „From her wooden sleep… [Aus ihrem hölzernen Schlaf…]“ (2013) bildet eines der Herzstücke der Ausstellung „Death to Pigs [Tod den Schweinen]“, in der die Künstlerin Ydessa Hendeles (* 1948) in aufwendigen Settings eine komplexe Reflexion über Zugehörigkeit, Entfremdung und soziale Ausgrenzung entfaltet.
Österreich / Wien: Kunsthalle Wien
28.2. – 27.5.2018
Der Titel der Installation ist dem 1895 von Florence K. Upton verfassten Kinderbuch „The Adventures of Two Dutch Dolls and a ‚Golliwogg‘ [Die Abenteuer zweier Grödner-Puppen und eines ‚Golliwoggs‘]“ entliehen, das von den nächtlichen Abenteuern zweier Gliederpuppen am Heiligen Abend erzählt. Der Golliwogg war der erste dunkelhäutige Protagonist in englischen Bilderbüchern und erlangte bei den Kindern eine Beliebtheit, die nur noch von der des Teddybären übertroffen wurde. Schließlich schloss die Figur sogar die Kluft zwischen Populär- und Hochkultur, indem sie den bekanntesten Satz aus Claude Debussys „Children's Corner Suite“ inspirierte. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Golliwogg jedoch zu einem viel diskutierten Symbol des Rassismus gegen Menschen afrikanischer Abstammung.
„From her wooden sleep …“ ist – wie viele Werke der Kanadierin – autobiografisch geprägt. So kann Hendeles, Tochter von polnisch-stämmigen Holocaust-Überlebenden, den Stammbaum ihrer Familie bis in das Jahr 1520 zurückverfolgen – jenem Jahr, in dem auch die älteste der rund 150 versammelten Gliederpuppen hergestellt wurde (die jüngste stammt aus dem Jahr 1930). Auf ihre Mutter, eine Modistin, verweisen ebenfalls einige Exponate. Deren Fertigkeiten hatten ihr, da die Aufseherinnen in Ausschwitz Gefallen daran fanden, das Überleben ermöglicht. Gleichzeitig beschäftigt sich die Installation aber auch mit der Geschichte des Golliwogg. So sind nicht nur vier Exemplare des Kinderbuchs in Vitrinen aufgelegt, sondern auch Claude Debussys „Golliwogg Cakewalk“ zu hören. Mit an der Wand montierten Zerrspiegeln, führt Hendeles noch eine weitere Ebene ein: Ist unser Blick auf die Realität getrübt? Nehmen wir nur ein Zerrbild von dieser wahr?
Die 1948 in Marburg geborene Kanadierin ist Kunsthistorikerin und -therapeutin, Kuratorin, Galeristin aber vor allem auch Sammlerin von kulturgeschichtlichen Artefakten und Objekten. Erst aus dieser Tätigkeit heraus trat Hendeles, die 1993 vom „ArtNews Magazine“ als eine der 50 wichtigsten Menschen in der Kunstwelt bezeichnet wurde, auch als Künstlerin in Erscheinung. Über die Zusammenführung von Objekten und Artefakten schafft sie zeitgenössische Fabeln, die von Repräsentation und Verfälschung, Aneignung und Angleichung sowie davon handeln, wie Gruppen- und Einzelidentitäten entstehen und welchen Konstruktionsprinzipien diese folgen.
Der Rundgang durch die Ausstellung beginnt mit zwei Erzählungen, die das Wundersame heraufbeschwören. In der Installation „Veronica’s Veil/Tigers‘ Tale“ (2016–2018) kontrastiert Hendeles einen Gegenstand der christlichen Legende und zwar die Erzählung vom Gesichtsabdruck, den Jesus auf dem Schweißtuch hinterließ, das ihm Veronika auf dem Kreuzgang reichte, mit der Geschichte des „kleinen schwarzen Sambo“. Das Kinderbuch, das 1899 von der Frau eines britischen Kolonialbeamten verfasst wurde, weist eine rassistische Färbung auf. Durch die ungewöhnliche Gegenüberstellung wirft Hendeles die Frage auf, wo eine Erzählung beginnt, wann sie kanonisch wird und welche Werte damit unbewusst weitertransportiert werden.
Schlusspunkt der Schau ist die titelgebende neunteilige Installation „Death to Pigs“ (2015/16). Der Titel spielt auf einen von Mitgliedern der Manson Family verübten Mord an, bei dem diese die Worte „Death to Pigs“ mit dem Blut der Opfer auf die Wände schmierten. Hauptfigur ist das Hausschwein, ein Tier, dessen Fleisch nicht nur im Judentum und dem Islam als unrein, sondern das auch als Metapher für negative menschliche Eigenschaften gilt. Hier entspinnt Hendeles eine psychologisch aufgeladene Meditation darüber, dass Ausgrenzung und Rassismus auch in Völkermord enden können. Schauriger Höhepunkt ist dabei ein Video, bei dem Schweine – zwar mit der Intention diesen einen möglichst schmerzfreien Tod zu ermöglichen - vergast wurden.
Kuratiert von Nicolaus Schafhausen