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Berlin | Bröhan-Museum: Luigi Colani und der Jugendstil

Luigi Collani und der Jugendstil im Bröhan, Berlin

Luigi Collani und der Jugendstil im Bröhan, Berlin

„Das Bauhaus ist out!“ stellte Luigi Colani fest und forderte stattdessen 1977 die „Renaissance des Jugendstils“.1 Geniales Multitalent und Superstar der Selbstinszenierung – Luigi Colani (1928–2019) war eine der facettenreichsten Designerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und ist nur schwer in seiner Gesamtheit zu fassen. Der streitbare Berliner schrieb mit seinen visionären Ideen, biomorphen Formen und extravaganten Entwürfen Design-Geschichte.

Wie sehr sich Colani mithilfe von provokanten Aussagen positionierte, zeigt, als er sich als „‚Baader-Meinhof‘ des Designs“ gezeichnet, sich mit der Terrorgruppe solidarisierte und als Unruhestifter gerierte. Sowohl für seine Entwürfe wie sein Menschenbild wählte Luigi Colani den Jugendstil als Bezugspunkt – womit er sich aber auch im gleichen Atemzug gegen den Design-Begriff des Bauhaus und gegen die Funktionalismusdebatte in Deutschland der 1960er Jahre positionierte.

„Renaissance des Jugendstils war ein Satz, der darstellen sollte, dass der Jugendstil eine Revolution der Geistesschaffenden gegen die Vermassung der industriellen Fertigung war. Es war eine Revolution der sogenannten Designer, die es damals ja noch nicht gab, also der künstlerisch Schaffenden gegen die Vermassung.“2 (Luigi Colani)

 

 

Luigi Colani im Bröhan-Museum

Das Bröhan-Museum in Berlin stellt das Werk Luigi Colanis in den Kontext seines Bestands an Jugendstil-Möbeln und Objekten. Formal lässt sich schnell sagen, dass für den Berliner Designer der florale-weich schwingende Jugendstil vorbildhafte Wirkung entfaltete. Darüber hinaus, und das ist Kurator Tobias Hoffmann besonders wichtig zu betonen, orientierte er sich an Konzepten der vorletzten Jahrhundertwende wie etwa den Reformbewegungen (FKK, Vegetarismus). Dazu zählt Hoffmann vor allem, dass Colani den verantwortungsvollen Designer voraussetzte, der vorbildhafte Lösungsansätze für die Zukunft entwickeln kann. Er selbst formulierte seine Gedanken zu einer menschengerechteren Gesellschaft 1971 im Manifest „Ylem“3 und steigerte seine Forderung 1977 zu einer „Renaissance des Jugendstils“.

Vermutlich war es auch die außergewöhnliche Ausbildung von Luigi Colani, die dem Designer jenen gänzlich anderen Zugang ermöglichte: Der am 2. August 1928 geborene Berliner wurde bereits von seinen Eltern zum handwerklichen Arbeiten animiert. Ab 1946 studierte er an der Kunsthochschule Bildhauerei, wo er sich allerdings unterfordert fühlte. Im Anschluss frequentierte er die Polytechnische Hochschule Paris [Ecole polytechnique], wo er zwischen 1949 und 1952 Aerodynamik und Ultraleichtbau studierte. Danach beschäftigte er sich mit Analytischer Philosophie an der Sorbonne. Ab Mitte der 1950er Jahre war Luigi Colani in der Automobilbranche tätig, zehn Jahre später begann er, Möbel zu entwerfen. Charakteristisch für seine Entwürfe sind aerodynamische und ergonomische Formen, die erstaunliche Parallelen im Jugendstil haben. Colanis runde, weiche, schwingende und sinnliche Formen aus dem neuen Material Kunststoff stehen im Gegensatz zu den rektangulären Entwürfen seiner Zeitgenossen. Weiters ließ er sich von der Natur inspirieren, wie es auch vom Jugendstil bekannt ist. Allerdings würzt er seine Designs mit einem Schwung Ironie und Humor. Aber auch utopische Vorstellungen sind ihm nicht fremd, sodass mancher Entwurf für ein Fortbewegungsmittel mehr wie ein Produkt aus einem SI-FI-Abenteuer wirkt. Dahinter steht auch die Überzeugung, dass Wissenschaft, Technik und Design im Einklang mit der Natur eingesetzt werden müssen. Heute wäre Luigi Colani wohl ein Anhänger der Tech for Future-Bewegung.

 

 

Körper x Design

Colanis Auseinandersetzung mit Natur und Technologie, allen voran der Aerodynamik, führte zu weich schwingenden Formen wie dem Sessel „Swinger“ von 2004, die sich an den Körper anpassen. Einige Objekte der Ausstellung, darunter Reliefplatten und Skulpturen mit Darstellungen von sinnlichen, nackten Frauenkörpern erinnern den Kurator an ebenso körperbetonte Figuren der vorletzten Jahrhundertwende, die Tischleuchte „Loïe Fuller“ (1901) von François-Raoul Larche, Druckgrafiken von Aubrey Beardsley oder Félicien Rops, Vasen mit Nixen von Alf Wallander für die Porzellanmanufaktur Rörstrand (Stockholm) geben eine gute Folie für Colanis-Designs (→ RÖRSTRAND. Jugendstil-Porzellan aus Schweden). Ein futuristischer Fitnessraum (um 1970) führt das Konzept des eingeschriebenen Körpers genauso weiter wie der „Colani GT“ (um 1960) oder das muschelförmige „Stadtauto mit Elektro-Antrieb“ (1969).

Das Formen der Prototypen mit den Händen war, wie der Designer immer wieder betonte, zentraler Aspekt der Entwurfsarbeit – und eine späte Reminiszenz an Colanis Ausbildung zum Bildhauer. Das führte zu skulpturalen Möbelentwürfen, mit denen er um 1970 für eine Revolution im deutschen Design sorgte. Vergleichbare Künstler-Designer finden sich um 1900 in den Persönlichkeiten von Richard Riemerschmid, Bruno Paul oder Henry van de Velde. Indem Luigi Colani auf ihre Innovationen zurückblickte, gelang es ihm Optionen für die Zukunft zu entwickeln.

Kuratiert von Tobias Hoffmann.

 

Luigi Colani und der Jugendstil: Ausstellungskatalog

Tobias Hoffmann (Hg.)
Mit Beiträgen von Tobias Hoffmann
152 Seiten, 130 farbige und 4 s/w Abbildungen
28 x 24 cm, Hardcover
ISBN 978-3-86832-600-0
Wienand Verlag

 

 

Luigi Colani und der Jugendstil im Bröhan-Museum: Bilder

  • Luigi Colani, Sessel-Plastik (Prototyp), 1965 (Sammlung POPDOM)
  • Bruno Paul, Vereinigte Werkstätten für Kunst im Handwerk (München), Armlehnstuhl, nach 1902 (Bröhan-Museum, Berlin) Rechts: Luigi Colani, COR, Schlaufenstuhl „Polycor“, 1968 (Sammlung POPDOM)
  • Luigi Colani, Entwurfszeichnung „Egli-Motorrad“, 1985 (Sammlung POPDOM)
  • Luigi Colani, Modellfotografie des Großraum-Passagierflugzeugs „Megalodon“, 1977 (Sammlung POPDOM)
  • Luigi Colani für Villeroy & Boch, Doppelwaschbecken mit Spiegel in Currygelb, 1979 (Sammlung POPDOM)
  • François-Raoul Larche, Gießerei Siot-Decauville (Paris), Tischleuchte „Loïe Fuller“, 1901 (Bröhan-Museum, Berlin)
  • Luigi Colani für Rosenthal, Kannen aus dem Service „Drop“ (verschiedene Dekore), 1971 (Sammlung POPDOM)
  • Luigi Colani, Sessel-Plastik (Prototyp), um 1965 (Sammlung POPDOM) im Hintergrund: Peter Behrens, Der Kuss, Plot aus „Pan“, 4. Jg. (1898), Heft II, Kunstbeilage (Bröhan-Museum, Berlin)
  • Luigi Colani für Ritzenhoff, Daumenglas, 1973 (Sammlung POPDOM)
  • Luigi Colani, Rohkarosserie des Sportwagens „Colani GT“, um 1960 (Sammlung POPDOM)
  • Luigi Colani, Bewegungsstudie aus der Mappe „YLEM“, 1971 (Sammlung POPDOM)
  • Richard Riemerschmid, Vereinigte Werkstätten für Kunst im Handwerk (München), Vorlegemesser, 1898/99 (Bröhan-Museum, Berlin), Unten: Luigi Colani, Flugzeug-Bordbesteck (Kleinserie), um 2000 (Sammlung POPDOM)
  • Loetz Witwe, Klostermühle (Böhmen), Vase, vermutlich um 1901 (Bröhan-Museum, Berlin)
  • Luigi Colani, Ringnor, Kinderstapelstuhl, 1973 (Sammlung POPDOM) Im Hintergrund: Richard Riemerschmid, Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst, Armlehnstuhl, 1902 (Bröhan-Museum, Berlin)
  • Luigi Colani, Der Künstler im Garten, sitzend auf „Der Colani“, 1976, Fotografie (Sammlung POPDOM)

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  1. Peter Dunas, Luigi Colani und die organisch-dynamische Form seit dem Jugendstil, München 1993, S. 35. Zit. n. Ausst.-Kat. S. 14.
  2. Colani im Interview mit Tobias Hoffmann, in: Experiment 70. Designvisionen von Luigi Colani und Günter Beltzig (Kat. Ausst. Museum für Konkrete Kunst), Ingolstadt 2002, S. 24.
  3. In den Kapiteln „Der Mensch“, „Wohnen“, „Gesellschaft“, „Kommunikation“, „Architektur“, „Subaquatisches“, „Transport und Verkehr“, „Auto“ und „Fliegen“ entwirft er eine allumfassende Zukunftsvision für das Leben des Menschen: Von der 68er-Bewegung beeinflusst, sucht er gerade im Wohnbereich das Leben neu zu definieren und formuliert seine Vision von der Zukunft des Wohnens in seinem Buch „Ylem“. Die Hierarchien der Möbel lösen sich auf, und der gesamte Raum wird zur „Wohnlandschaft“.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.