Jugendstil
Was ist der Jugendstil?
Jugendstil bezeichnet um 1900 eine facenttenreiche Vielzahl an Werken, denen weniger ein einheitlicher Stil als ein Lebensgefühl zugrunde liegt. Wichtig war den Kunstschaffenden eine ganzheitliche Ausrichtung künstlerischen Bestrebungen nach Schönheit und Vollendung. Die Bandbreite an Künstlerinnen und Künstlern, die dem Jugendstil zugerechnet werden können, fließt im Konzept des Universalkünstlers und des Gesamtkunstwerks zusammen.
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich mehrere unterschiedliche Ansätze, die im deutschsprachigen Raum unter dem Überbegriff Jugendstil subsumiert werden. Eine Möglichkeit, den Jugendstil zu kategorisieren, ist die Kunstwerke nach formal-ästhetischen Kriterien einzuteilen:
- floral-exzentrisch | naturalistisch-vegetabil: Der florale, manchmal exzentrisch, manchmal naturalistische Jugendstil ist vor allem in Belgien, Frankreich und Spanien zu finden. Naturwiedergabe ohne naturalistisch zu sein, war der Anspruch der modernen Kunst um 1900.
- geometrisch-formalistisch | geometrisch-konstruktiv: Der geometrisch-formalistische Jugendstil kann mit Josef Hoffmann als einem der Hauptvertreter der Wiener Werkstätten sowie der Gruppe um Charles Rennie Mackintosh in Glasgow verbunden werden.
- sachlich-reduziert | dynamisch-abstrakt: Die sachlich reduzierte Richtung beginnt in England mit der Arts-and-Crafts-Bewegung und findet dann ab 1900 gerade in Deutschland Anhänger.
Der Jugendstil gilt als der letzte internationale Stil und prägte die Kunst Europas und Nordamerikas Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.
„Ma racine est au fond des bois [Meine Wurzel liegt in der Tiefe des Waldes]“ (Spruch an der Ateliertür von Émile Gallé)
Die Natur in ihren wechselnden Erscheinungsformen war die wichtigsten Inspirationsquelle des Jugendstils in Frankreich, Belgien und Deutschland. Österreichische Architekten-Designer gingen ab 1900 ihren eigenen Weg in die geometrische Abstraktion. Neben expliziten Naturbezügen zeichnet sich diese Ausprägung des Jugendstils durch extravagante Farb- und Formexperimente aus. Psychedelische Farbwahrnehmung und Ästhetik der Pop Art und Flower-Power Ära haben in dieser Gestaltung ihre Vorläufer. Orientierung am Symbolismus verleihen den Objekten einen erzählerischen Gehalt. Der floral-exzentrische Jugendstil setzt der beginnenden industriell-technischen Welt eine künstlerische Alternativwelt entgegen. In den Objekten klingt eine Utopie an, die durch symbolistische Traumbezüge auf eine Wirklichkeit jenseits von Logik und Technik verweist.
„Ich glaube, dass wir von nun an einen modernen Stil besitzen, ebensogut wie ich glaube, dass wir von nun an eine moderne Schönheit besitzen.“ (Henry van de Velde, Vom neuen Stil, 1907)
Gründe für die Entwicklung des Jugendstils
Aus der Überzeugung heraus, dass Historismus und Stilzitat die moderne Lebensführung, mit Technologisierung und Schnelligkeit nicht mehr wiederspiegeln würde, wandten sich einige Maler, Architekten und Grafiker neuen Ausdrucksweisen zu. Funktionalität, aber auch leichtfüßige Unterhaltung prägen die Formfindungen, die stark von Übernahmen aus der japanischen Kunst dominiert wurden (→ Japonismus). Mensch, Tier und Pflanze wurden ornamental verwandelt und miteinander in Verbindung gebracht. Auch für die Materialwahl gaben fernöstliche Objekte neue Anstöße: Elfenbein und Horn fanden beispielweise erstmals Verwendung in der europäischen Schmuckkunst.
Der Jugendstil wurzeln in den sozial- und kunstreformerischen Ideen der präraffaelitischen Künstler Englands. Der britische Künstler William Morris wollte, ausgehend von sozialistischen und demokratischen Idealen, den Lebensbereich der Menschen mit Kunst verschönern und dadurch Sitte und Moral heben (→ Präraffaeliten. Eine Avantgarde-Bewegung?). Er griff nach mittelalterlichem Vorbild auf alte, handwerkliche Techniken zurück, denn der Künstler solle kein Sklave der Maschine sein. Die Überführung künstlerischer Konzepte in die Entwurfsarbeit, wie sie die Arts-and-Crafts-Bewegung erstmals praktiziert hat, befreite die Gestalter von auferlegten Zwängen. Zugleich beförderte sie eine innovative Formensprache, die dann wiederum der industriellen Produktion neuen Antrieb gab.
Gleichzeitig kaschieren etwa die floralen Metro-Eingängen von Hector Guimard in Paris die neue Technik der Untergrundbahn. Der floral-exzentrische Jugendstil setzt der beginnenden industriell geprägten Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts die Natur als Antipode entgegen. Natur- und Pflanzenmotive halten Einzug in Architektur und Gestaltung. Denn die Natur wird als etwas Schützenswertes, aber auch Heilsames für den Menschen erkannt. Die um die Jahrhundertwende entwickelten Konzepte von Vegetarismus und Freikörperkultur verorten die Rolle des Menschen in der Natur neu und legen damit Fundamente für das ganze 20. Jahrhundert relevante Diskussionen.
Demzufolge entwickelten Jugendstil-Künstler in Europa das Konzept des Kunsthandwerks und erfanden den Beruf des Designers und der Designerin. Der Massenproduktion am Fließband setzten sie in Handarbeit gefertigte Kleinkunstwerke entgegen. Künstler - Maler wie Architekten - entwarfen auch schon in Auftrag von Firmen neue Formen. Diese „Objets d'arts“ fertigte man als Unikate oder in Kleinstserien. Dem sozialen Anspruch konnte die ökonomische Realität leider kaum folgen. Die Kunst für Alle war nur für wenige erschwinglich. Dennoch war der Jugendstil ab etwa 1900 allgemein anerkannt, auch wenn traditionelle Eliten das Neo-Barock vorzogen.
Materialgerechtigkeit gehört zu den weiteren Schlagworten des Jugendstil: So verwendeten Schmuckkünstler keine glänzenden und wertvollen Materialien mehr, sondern wandten sich Einfachheit in Gestaltung und Materialeinsatz zu (→ Jugendstil-Schmuck aus Europa). Desgleichen forderten die Architekten, wenn sie die moderne Eisen-Beton-Konstruktion an den Fassaden bzw. die konstruktiven Bedingungen in der Formgebung sichtbar beließen. Neue Materialien, so schlussfolgerte der bedeutende Wiener Architekt und Stadtplaner Otto Wagner, bedürfen neuer Formen, die adäquat auf neue Funktionen, neue Bedürfnissen reagieren.
1900 feierte der Jugendstil auf der Pariser Weltausstellung seinen internationalen Durchbruch, und der Münchener Verleger Julius Hoffmann jr. machte mit „Der moderne Stil“ zwischen 1899 und 1905 die neuesten künstlerischen Entwicklungen in Deutschland bekannt (→ DER MODERNE STIL. Jugendstil 1899 bis 1905). Der Jugendstil wurde nach der Münchner Zeitschrift Jugend benannt; in Frankreich spricht man von Art Nouveau, in Italien von Arte Liberty.
Die stilistische Heterogenität des Art Nouveau (dt. Jugendstil) - zwischen naturalistisch-vegetabil, dynamisch-abstrakt und geometrisch-konstruktiv aber auch die Klarheit und Zweckmäßigkeit der Formen - ist in Kunstwerken von August Endell, Hermann Obrist, René Lalique, Emile Gallé, Johann Lötz Witwe, Louis Comfort Tiffany, u. a. nachvollziehbar.
„Das Ziel aller Künste ist Schönheit.“ (August Endell, 1905)
Berühmte Künstler des Jugendstils
Alfons Mucha
→ Alfons Mucha in Paris und Prag
Französisch-Prager Plakatkünstler
René Lalique
Die Erneuerung der Schmuckkunst um 1900 ist in Frankreich zweifelsohne mit dem Namen René Lalique (1860-1945) verbunden. Der „Erfinder des modernen Schmucks“, wie ihn der Glaskünstler Émile Gallé nannte, arbeitete mit Horn und Elfenbein, mit unregelmäßigen Barockperlen, farbigen Schmucksteinen und Email. Lalique brillierte als Erster darin, die Effekte der Edelsteine im lichtdurchlässigen Fensterglasemail, dem so genannten „pique-a-jour“, nachzuempfinden.
Gustav Klimt
Gustav Klimt (1862-1918) war der wichtigste österreichischer Maler der Jahrhundertwende und Gründungspräsident der Wiener Secession. Mit seinen Frauenporträts und Allegorien der Goldenen Periode schuf Klimt einen höchst verfeinerten Stil, der als charakteristisch für die Wiener Moderne angesehen wird. Auch wenn etwa ein Drittel seines Schaffens der Landschaft gewidmet ist, treten diese meist in pointillistischer Technik ausgeführten Gemälde in der öffentlichen Wahrnehmung zurück. Klimt gilt als Verehrer des weiblichen Geschlechts, dem er in seinem Werk die zentrale Stellung einräumte.
Otto Wagner
Otto Wagner (1841–1918) zählt zu den weltweit bedeutendsten Architekten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Seine Bauten – darunter die Wiener Stadtbahn, die Postsparkasse und die Kirche am Steinhof – sind Meilensteine auf dem Weg vom Historismus zur Moderne. Als Professor an der Akademie der bildenden Künste in Wien prägte er die nachfolgenden Generationen von Architekten – hinausgehend über Joseph Maria Olbrich und Josef Hoffmann, die beide bei ihm beschäftigt waren.
Otto Wagner nannte den Stil, den er selbst bis etwa 1887 ausübte, die „freie Renaissance“. Er strebte nach einer Verbindung von Schönheit und Zweckmäßigkeit, denn „etwas Unpraktisches kann nicht schön sein“ (Moderne Architektur, 1896). Als Generalplaner war er in den 1890er Jahren für die Umgestaltung Wiens mitverantwortlich (1892/93 Generalregulierungsplan, 1894–1900 Bau der Stadtbahn, 1894 & 1896–1899 Donaukanalbauten) und mit den beiden Mietshäusern an der Linken Wienzeile, der Kirche am Steinhof sowie der k. k. Österreichischen Postsparkasse schuf er Ikonen der Wiener Jugendstilarchitektur. Von 1899 bis 1905 war er Mitglied der Wiener Secession. Möbelentwürfe folgen in ihrer schlichten Gestaltung und Funktionalität dem Motto des Architekten getreu: „Artis sola domina necessitas“ (Die einzige Herrin der Kunst ist die Notwendigkeit)
Josef Hoffmann
Josef Hoffmann (15.12.1870–7.5.1956) war ein österreichischer Architekt. Der Meisterschüler von Otto Wagner ließ sich von der ländlichen Architektur auf Capri beeindrucken. Als Gründungsmitglied der Wiener Secession (1897), früh berufener Professor an der Kunstgewerbeschule (1899) und Mitbegründer der Wiener Werkstätte (1903) prägte Josef Hoffmann den ornamental-geometrischen Jugendstil in der Donaumetropole entschieden.
Henry van de Velde
Henry van de Velde arbeitete mit dynamisch-schwingenden Abstraktionen. Der Architekt, Innenausstatter, Grafiker und Designer beschäftigte sich mit der Wirkung von abstrakten Ornamenten und freiem Linienfluss und verbreitete seine Formensprache ab 1901 auch in Deutschland.
Peter Carl Fabergé
Carl Peter Fabergé, der in St. Petersburg ansässige zaristische Hofjuwelier mit französischen und deutschen Wurzeln, schuf in den Jahren zwischen 1885 und 1917 vermutlich insgesamt 56 Ostereier für die Zarenfamilie sowie weitere zwölf für den sibirischen Goldminenbesitzer Alexander Ferdinandowitsch Kelch, den Fürsten Jussupoff und die Herzogin von Marlborough. Diese Präziosen zählen zu Fabergés bekanntesten Schöpfungen, darüber hinaus fertigte er aber auch Schmuckstücke, Zigarettenetuis, kleine Anhänger, winzige Tierskulpturen aus farbigen Steinen. In der Wiedergabe von Blumen auf den Ostereiern passte sich Carl Fabergé dem neuesten Trend aus Westeuropa an. Das Stilisieren und Ornamentalisieren von Pflanzen lässt sich auch an Fabergé-Eiern beobachten, vor allem an naturalistischen Tier-Broschen oder Anhängern, in winzigen Tierskulpturen aus farbigen Mineralien. Ein deutlich japanisierendes Objekt zeigt Kiefern, die von Glyzinien umschlungen werden.
Louis Comfort Tiffany
amerikanischer Maler und Glaskünstler