Die zentrale Ausstellung der diesjährigen Biennale von Venedig findet unter dem Titel „Il Palazzo Enciclopedico (The Encyclopedic Palace)“ statt. Sie wurde von Massimiliano Gioni zusammengestellt und umfasst 150 Künstler aus 37 Ländern. Erstaunlich viele davon sind bereits verstorben, Autodidakten oder Outsider Artists, die nie im Kunstbetrieb Fuß gefasst haben, ihre künstlerische Tätigkeit nicht als Kunstmachen verstanden haben.
Italien / Venedig: Giardini und Arsenale
1.6. - 24.11.2013
Der Titel „Der enzyklopädische Palast“ bezieht sich auf eine Utopie Marino Auriti (1891-1980), der 1955 ein Modell eines 136geschossigen „Museums des Weltwissens“ patentieren lassen wollte. Der von ihm entwickelte Wolkenkratzer sollte in Washington gebaut werden, 700 Meter hoch sein und die Grundfläche von 16 Häuserblocks einnehmen. Auriti dachte, darin fächerübergreifend alle Errungenschaften der Menschheit „vom Rad zum Satelliten, von antiken Artefakten zur Avantgarde-Kunst“ (Biennale-Katalog, S. 36) auszustellen.
Das ambitionierte Modell, das er in jahrelanger Arbeit in seiner Garage herstellte, leitet die Ausstellung im Arsenale ein. Die utopische Architektur wurde niemals ausgeführt, steht jedoch, so der Kurator Massimiliano Gioni für den Traum der Menschheit, das Wissen der Welt zusammenzuführen. „Heute, wenn wir mit einer solch konstanten Flut an Informationen zu tun haben, scheinen solche Versuche, Wissen in Systeme zu strukturieren sogar noch nötiger und verzweifelter“, ist sich Massimiliano Gioni sicher. Dennoch ist dem Kurator auch klar, dass es auch in seiner Ausstellung nicht um das Lösen dieses Menschheitsrätsels gehen kann. Stattdessen bringt er Aspekte des kreativen Schaffens ins Zentrum der zeitgenössischen Kunstwelt, die bislang dort noch keinen Platz hatten. Vieles an den Zusammen- und Gegenüberstellungen wirkt dabei didaktisch gedacht – das mag man ihm von Seiten der Spezialisten übel nehmen. Die Besucher, könnte man jedoch vermuten, werden sie mögen, die Zusammenstellung von Bildern des Wissens, der Vermutungen und der Ahnungen.
Alles, was wir wissen, verbinden wir - der Neurowissenschaft zufolge - zu einer Einheit, weltweit wurden für diesen Prozess die unterschiedlichsten Formen entwickelt: Mandalas schaffen Zentren, so wie die Kreisform in den anonymen tanrischen Zeichnungen als Ovoid auftaucht und Shivas unendliche Macht repräsentiert (tantrika, Síva linga = Ovoid, 1960er bis 2004). Bildhafte Symbole verbinden sich zu Archetypen, Bilder aktualisieren Themen. Gioni ist auf der Suche nach dem „Weltgeist“ und der visuellen Emanation des Künstler-Selbst, mehr als Analyst denn als Kunstkritiker. Damit wäre auch schon ein Hinweis auf die zweite wichtige Figur in Massimiliano Gionis Konzept gegeben: Carl Gustav Jung (1875-1961), Schweizer Psychoanalytiker und Verfasser des berühmten „Roten Buchs“ (1913-1929).
Die beiden Preisträgerinnen der Goldenen Löwen für ihre Lebenswerke - Maria Lassnig (* 1919) und Marisa Merz (* 1931) - stehen prototypisch für die Beschäftigung mit ihren innersten Vergängen. In ihren Werken drücken sie physische und psychologische Spannungen aus.
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55. Biennale, Il Palazzo Enciclopedico – Die "Goldenen Löwinnen": Maria Lassnig & Marisa Merz - Goldene Löwen 2013
55. Biennale, Il Palazzo Enciclopedico – Teil 2: Carl Gustav Jungs „Rotes Buch“ und seine Nachfolger
55. Biennale, Il Palazzo Enciclopedico – Teil 3: Mystiker, Outsider und anerkannte Künstler_innen
55. Biennale, Il Palazzo Enciclopedico – Teil 4: Kunst und Spiritualität, Mythen oder einfach nur private Obsessionen?
55. Biennale, Il Palazzo Enciclopedico – Teil 5: Der spielende, sammelnde und staunende Mensch
55. Biennale, Il Palazzo Enciclopedico – Teil 6: Imaginierte und organisierte Welten
55. Biennale, Il Palazzo Enciclopedico – Teil 7: Varietäten von Malerei
55. Biennale, Il Palazzo Enciclopedico – Teil 8: Methoden des automatischen Schreibens, Assemblierens, die Aura des Geheimnisses und des Religiösen