Claude Cahun

Wer war Claude Cahun?

Claude Cahun (Nantes 25.10.1894–8.12.1954 Saint Helier) war eine französische Künstlerin des Surrealismus: Fotografin, Darstellerin, Aktivistin und Schriftstellerin. Cahun entwickelte zwischen 1914 und 1954 ein faszinierendes fotografisches Werk, in dem sie ihr Geschlecht und ihre Identität zum Thema machte. In den inszenierten Selbstporträts dekonstruierte sie die für Frauen festgeschriebenen Ausdrucksformeln und wies eine festgeschriebene geschlechtliche Identität zurück. Mithilfe von Maskerade und Pose unterwanderte sie auf kritisch-analytische Weise auch das obsessive Frauenbild ihrer surrealistischen Kollegen. Erst der durch den Feminismus der 1970er Jahre ausgelöste Diskurs um Körper und Geschlecht machte die Wertschätzung von Cahuns Werk ab den 1980er Jahren möglich.

Kindheit und Jugend

Die als Claude Cahun bekannte Fotografin und Autorin wurde als Lucy Renee Mathilde Schwob am 25. Oktober 1894 in Nantes geboren. Sie entstammte einer literaturbegeisterten, jüdischen, großbürgerlichen Familie. Ihr Onkel Marcel Schwob war der Begründer der Zeitschrift „Mercure de France“, ein Freund von Oscar Wilde und eine Schlüsselfigur der späteren Bewegung des Symbolismus. Zudem war Claude Cahun die Großnichte des Romanciers und Orientalisten Léon Cahun, dessen Namen sie später übernahm.

Nachdem sie das Lycée de Nantes aufgrund der Dreyfus-Affäre in Richtung Oxford verlassen hatte (1907/08), absolvierte sie ab 1914 ein Studium der Philologie und Philosophie an der Sorbonne. Claude Cahun begann früh zu schreiben und zu fotografieren. Unter dem Pseudonym Claude Coulis veröffentlichte sie in der Zeitschrift „Mercure de France“ eine Auswahl poetischer Texte: „Vues et Visions“ (16.5.1914). Sie war stark vom Symbolismus (Rimbaud, Laforge, Gourmont, Swinburne, Wilde) und der voluntaristischen Philosophie (Schopenhauer, Nietzsche) beeinflusst. Cahuns philosophischer Standpunkt wird als ein „frenetisch-anarchistischer Idealismus, gepaart mit angespannt-rebellischem Pessimismus“ beschrieben.1 Das Ergebnis dieser Überzeugung ist ein unangepasstes Leben und eine künstlerische Haltung, die sich jeglicher Spezialisierung und Festlegung widersetzt.

Cahun als Schriftstellerin

Um 1917 nahm Lucy Renee Mathilde Schwob das Pseudonym Claude Cahun an und verließ ihre Familie. Indem sie sich den Künstlernamen Claude Cahun gab, entzog sie sich einer eindeutigen geschlechtlichen Zuordnung. Zwischen 1918 und 1920 veröffentlichte Cahun noch einige Artikel unter dem Pseudonym Daniel Douglas, was als Reverenz an Oscar Wildes Liebhaber Lord Alfred Douglas verstanden werden kann.

1919 erschien der Band „Vues et Visions“ unter dem Pseudonym Claude Cahun bei Georgs Crès. Suzanne Malherbe, Cahuns Stiefschwester und Lebensgefährtin, illustrierte das Buch unter dem Pseudonym Marcel Moore. Claude Cahun schnitt sich die Haare radikal kurz und färbte sie bis in die 1930er Jahre hinein abwechselnd rosa, silbern, golden oder rasierte sie vollständig ab.

Cahun in Paris

Gemeinsam mit ihrer Freundin Suzanne Malherbe, Cahuns „anderes Ich“, bezog Cahun eine Wohnung in der Rue Notre-Dame-des-Champs Nr. 70b am Montparnasse. Dort führte fast 15 Jahre lang einen Künstlersalon. Sie nahmen am Pariser Kulturleben teil; zudem gehörten sie einem lesbischen und politischen Netzwerk an. Zu ihren Freundinnen zählten u.a. die Buchhändlerinnen und Publizistinnen Adrienne Monnier und Sylvia Beach, die Bildhauer Chana Orloff und Jacques Lipchitz, die Schauspieler Edouard de Max, Georges und Ludmilla Pitoëff, Ivan Mosjoukine.

Cahun veröffentlichte „Héroïnes“, eine Sammlung von Kurzgeschichten, 1925 in „Mercure de France“ und „Le Journal littéraire“. Dazu verschiedenen Artikel in Zeitschriften über Henri Lefebvre und Pierre Morhages „Philosophies“ und einen Essay in „L’Amitié“, einer avantgardistischen Homosexuellenzeitschrift:

„Meine Ansicht über die Homosexualität und die Homosexuellen ist genau die gleiche wie meine Meinung über die Heterosexualität und die Heterosexuellen: alles hängt vom Individuum und den Umständen ab. Ich trete für die allgemeine Freiheit der Sitten ein.“ (Claude Cahun)

Cahun freundete sich mit dem Dichter Henri Michaux an, die lebenslang hielt. Sie schrieb in seiner und Franz Hellens‘ Zeitschrift „Le Disque vert“ einen Beitrag über Träume. Daneben nahm sie zahlreiche Selbstporträts auf und begann eine Serie von fotografischen Tableaux, die surrealistische Anordnungen von Objekten zeigen.

Im Jahr 1928 vollendete Claude Cahun as Manuskript von „Aveux non avenus [Nichtige Bekenntnisse]“, das heute als ihr ehrgeizigstes Buchprojekt gilt. In ihm versammelte sie erzählende, lyrische und autobiografische Texte. Im folgenden Jahr entstanden ihre ersten Fotomontagen, die sie gemeinsam mit Suzanne Malherbe herstellte. Das Buch erschien 1930 mit einem Vorwort von Pierre Mac Orian bei Editions du Carrefour, Paris.

Gleichzeitig veröffentlichte Claude Cahun ihre Übersetzung von Havelock Ellis‘ „Study of Social Psychology“ im „Mercure de France“. Sie arbeitete 1929 auch mit dem Experiementaltheater Le Plateau von Pierre Albert-Birot, wo sie als Schauspielerin und Beraterin für Maske und Kostüm engagiert ist. Sie freundete sich dort mit der Schauspielerin und Tänzerin Béatrice Wanger an, die Breton zur Novelle „Nadja“ über die amour fou inspirierte. In der Zeitschrift „Bifur“ (Nr. 5, April 1930) veröffentlichte Cahun ein anamorphisches Selbstporträt.

Werke: fotografische Selbstporträts

In den 1920er Jahren arbeitete Claude Cahun noch vorwiegend literarisch, sie begann aber bereits, ein bald umfangreiches fotografisches Werk zu entwickeln. Für ihre inszenierten Selbstporträts und Tableaus erhielt sie öffentliche Anerkennung. Ihre fotografischen Selbstporträts sind im Kontext der Selbstermächtigung als lesbische Frau, dem Aufkeimen der „neuen Frau“ und von „La Garçonne“ entstanden.Als weiblich, jüdisch und lesbisch war Claude Cahun in einer antisemitisch und patriarchal geprägten Gesellschaft dreifach an den Rand gedrängt. In diesem Kontext entwickelte Cahun die Figur des/der Androgynen, ein wichtiges Instrument der Thematisierung lesbischer Identität.2

Cahuns Haltung ist selbstbewusst, der Blick direkt in die Kamera gerichtet und der Körper bekleidete (sehr im Unterschied zum männlichen Blick auf den nackten, begehrenswerten, meist fragmentierten, weiblichen Körper der Surrealisten). Wenn sie sich selbst einen männlichen Vornamen gibt, so inszeniert sie sich in den Bildern übertrieben als „Frau“ und führt so Rollenvorstellungen ad absurdum. Sie spielt – wie auch auf der Bühne – eine Frauenrolle, schminkt sich zu viel und verlieht sich so ein maskenhaftes Aussehen. Weitere Utensilien wie die Glasglocke oder der Spiegel, mit denen sie sich inszeniert, dienen dem Spiel mit der Kamera, dem Blick, dessen Bestätigung aber auch der Flucht davor.

In der Zwischenzeit ist Claude Cahun so berühmt geworden, dass Künstlerinnen wie Gillian Wearing sich ihre Bildformeln aneignen und sich selbst à la Cahun inszenieren.

Cahun und der Surrealismus

Claude Cahun trat 1932 der Association des Ecrivains et Artistes Révolutionnaires“ (AEAR), einer Gruppe von kommunistischen Künstlerinnen und Künstlern, bei und lernte über Vermittlung von Jacques Viot und René Crevel das AEAR-Mitglied André Breton kennen. Von nun an verkehrte Cahun in der Gruppe der Surrealisten. Das bedeutete auch, dass Claude Cahun im Juni 1933 die AEAR verließ, nachdem die Surrealisten, die trotzkistische Gruppe und auch André Breton ausgeschlossen hatten. Im folgenden Jahr veröffentlichte sie ihre Kritik an der AEAR und genauer an Louis Aragon als polemische Pamphlet „Les Paris sont ouverts [Die Wetten sind eröffnet]“ bei José Corti, Paris. Sie verteidigte darin die Freiheit der Kreativität gegenüber der kulturellen Politik der Kommunistischen Internationalen, opponierte gegen Propaganda und Sozialistischem Realismus (seit 1932). Den Dichter Louis Aragon griff sie explizit an, da er Gedichte im Dienst des Kommunismus verfasst hatte und dafür von Breton aus der
Surrealisten-Gruppe ausgeschlossen worden war.3 Breton bezeichnete später diesen Text als „ein wirklich aussagekräftiges Bild dieser Epoche“. Ihre tiefe persönliche Zuneigung zu Breton garantierte ihm ihr Vertrauen und ihre Unterstützung über viele auch turbulente Jahre.

Der Schwerpunkt ihrer künstlerischen Arbeit verlagerte sich auf die Fertigung von Objekten und Fotografien. Claude Cahun verstärkte ihr Engagement für die surrealistische Bewegung und schloss sich der von André Breton und Georges Bataille gegründeten, kurzlebigen antifaschistischen Koalition Contre-Attaque an (September 1935). Die Künstlerin unterzeichnete 1936 das kollektive Statement der Surrealisten „Il n’y a pas de liberté pour les ennemis de la liberté [Es gibt keine Freiheit für die Feinde der Freiheit]“. Im selben Jahr begleitete sie Breton nach London, wo sie im Hintergrund an der Organisation der International Surrealist Exhibition in den New Burlington Galleries mitwirkte. Neben Breton und dessen Frau Jacqueline Lamba unterhielt Cahun Kontakte zu René Crevel, Benjamin Prat und Salvador Dalí.

„Genauer gesagt, war mir Dalí besonders sympathisch. Seine Bilder lösten sinnliches Wohlgefallen in mir aus. […] Später habe ich verstanden, dass mein intuitives Gefühl sowie mein Urteil wohlbegründet waren. […] Der ,katholische‘ Dalí scheint mir nicht minder paranoid als der ,marxistische‘ zu sein. Er übt auf mich stets den besonderen Charme kindlicher Frische aus. Ich halte ihn sogar für fähig, eher die Kirche zu verschlingen, als von ihr verschlungen zu werden.“4 (Claude Cahun, um 1948)

Cahuns Werke „Un air de familie“ und „Souris valseuses“ waren 1936 in der Ausstellung „Exposition surréaliste d’objets“ in der Galerie Charles Ratton in Paris ausgestellt. Gleichzeitig veröffentlichte Cahun den Artikel „Prenez garde aux objets domestiques [Vorsicht vor Alltagsgegenständen]“ in der „Cahiers d’Art“. Die zahlreichen surrealistischen Objekte von Cahun ähneln den zeitgleichen Werken von André Breton, Joseph Cornell, Eileen Agar oder späteren Assemblagen von Alfonso Ossorio. Sie illustrierte „Le Cœure de Pic“, eine lyrische Anhologie von Lise Deharme mit einer Einführung von Paul Eluard. 1937 verließ sie Paris, um nach La Rocquaise, einem Landgut auf der Kanalinsel Jersey zu übersiedeln. Cahun hatte dort in ihrer Kindheit die Ferien verbracht.

Jersey

1937 ließen sich Cahun und Moore auf der Kanalinsel Jersey nieder. Der Verkauf ihres Familienbesitzes hatte ihr den nötigen finanziellen Spielraum dafür verschafft. Dort erhöhten sie ihre politischen Aktivitäten der vorangegangenen Jahre.

Am 1. Juli 1940 – ein Monat nach der Besetzung von Paris – marschierte die deutsche Armee auf Jersey ein. Cahun und Malherbe entschlossen sich auf der Insel zu bleiben und wurden in der Résistance aktiv. Während der deutschen Besetzung Jerseys engagierten sie sich als Widerstandskämpferinnen und Propagandistinnen, indem sie Flugblätter schrieben, Plakate druckten und Aktionen organisierten. Seit 1942 unterzeichneten sie ihr gesamtes Propagandamaterial auf Deutsch mit „Der namenlose Soldat“. So ließen sie vom Kirchturm von St. Brelade eine Fahne mit der Aufschrift wehen:

„Jesus ist groß, aber Hitler ist größer. Jesus starb für die Menschen, doch die Menschen sterben fü Hitler.“

Am 25. Juli 1944 verhaftete die Gestapo Cahun und Malherbe. Am 16. November wurden sie zum Tode verurteilt, am 16. Februar 1945 aber begnadigt und das Urteil nicht vollstreckt. Dennoch blieben beide bis zur Befreiung von Jersey am 8. Mai 1945 inhaftiert. Von dieser Erfahrung erholte sich Claude Cahun nicht mehr vollständig.

Während der Inhaftierung wurde ihr Besitz mehrfach durchsucht und ein Großteil der Arbeiten von Claude Cahun aber auch ihr Archiv vernichtet. In den ihr noch verbleibenden Jahren schrieb Cahun, arbeitete an den Notizen, die sie im Gefängnis gemacht hatte und nahm weitere Selbstporträts mit der Kamera auf. 1953 besuchte sie zum letzten Mal Paris und traf dort André Breton.

Tod

Claude Cahun starb am 8. Dezember 1954 in Saint Helier auf Jersey. 1972 starb auch Malherbe. Seit Mitte der 1980er Jahre ist Claude Cahuns fotografisches Werk wieder in internationalen Ausstellungen präsent. Im Jahr 1995 fand die erste Retrospektive unter dem Titel „Claude Cahun 1894–1954“ im Musée d’art moderne de la ville de Paris statt.

Literatur zu Claude Cahun

  • Gavin James Bower, Claude Cahun. The Soldier with No Name, Winchester 2013.
  • Karoline Hille, Die ungleichen Schwestern. Claude Cahun, Dora Maar und der Surrealismus, in: Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde (Ausst.-Kat. K20, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf; Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk) Köln 2011.
  • François Leperlier, Claude Cahun. L’Exotisme intérieur, Paris 2006.
  • Ines Oberegger, Die androgyne Emanzipation - Selbstinszenierungen jenseits der "Weiblichkeit" bei Claude Cahun, Meret Oppenheim und Louise Bourgeois, in: Verena Krieger (Hg.), Metamorphosen der Liebe. Kunstwissenschaftliche Studien zu Eros und Geschlecht im Surrealismus, Münster 2006, S. 75–102.
  • Claude Cahun. Bilder, hg. von Heike Ander, Dirk Snauwaert (Ausst.-Kat. Kunstverein München, 16.7.–28.9.1997; Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz, 4.10.–3.12.1997; Fotografische Sammlung, Museum Folkwang Essen, 18.1.–8.3.1998), München 1997.

Beiträge zu Claude Cahun

Frankfurt | Schirn: Künstlerinnen des Surrealismus


Fantastische Frauen von Frida Kahlo bis Dorothea Tanning Die SCHIRN Kunsthalle betont 2020 erstmals in einer großen Themenausstellung den weiblichen Beitrag zum Surrealismus. Was die Künstlerinnen von ihren männlichen Kollegen vor allem unterscheidet, ist die Umkehr der Perspektive: Oft durch Befragung des eigenen Spiegelbilds oder das Einnehmen unterschiedlicher Rollen sind sie auf der Suche nach einem neuen weiblichen Identitätsmodell.
  1. François Leperlier, Der innere Exotismus, in: Claude Cahun. Bilder, hg. von Heike Ander, Dirk Snauwaert (Ausst.-Kat. Kunstverein München, 16.7.–28.9.1997; Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz, 4.10.–3.12.1997; Fotografische Sammlung, Museum Folkwang Essen, 18.1.–8.3.1998), München 1997, S. XI–XVIII, hier S. XII.
  2. Whitney Chadwick, Women, art, and society, London 2002, S. 17; vgl. Ines Oberegger, Die androgyne Emanzipation - Selbstinszenierungen jenseits der "Weiblichkeit" bei Claude Cahun, Meret Oppenheim und Louise Bourgeois, in: Verena Krieger (Hg.), Metamorphosen der Liebe. Kunstwissenschaftliche Studien zu Eros und Geschlecht im Surrealismus, Münster 2006, S. 75-102.
  3. Siehe: Karoline Hille, Die ungleichen Schwestern. Claude Cahun, Dora Maar und der Surrealismus, in: Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde (Ausst.-Kat. K20, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf/Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk) Köln 2011, S. 218–220.
  4. Claude Cahun, unveröffentlichtes Notizbuch, zit. n. ebenda, S. XIV.