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Gillian Wearing Fotografische Suche nach dem Selbst

Gillian Wearing, Self Portrait at 17 Years Old, 2003, C-Print, gerahmt, 115,5 x 92 cm © the artist, courtesy Maureen Paley, London, 2012, Foto © Kunstsammlung NRW.

Gillian Wearing, Self Portrait at 17 Years Old, 2003, C-Print, gerahmt, 115,5 x 92 cm © the artist, courtesy Maureen Paley, London, 2012, Foto © Kunstsammlung NRW.

Gillian Wearing (* 10.12.1963, Birmingham) schuf bereits am Beginn ihrer Karriere eines der ikonischen Bilder des späten 20. Jahrhunderts: Ein junger, gut gekleideter Mann hält ein Schild mit der Aufschrift „I`M DESPERATE“ vor sich. Sein leichtes Lächeln scheint sich nicht mit der offenbarten Verzweiflung auf dem Blatt Papier zu decken. Diesem Auseinanderklaffen zwischen äußerem Erscheinungsbild und Innenleben gilt das Hauptinteresse der mit Fotografie und Film arbeitenden Britin.

Signs: I`m Desparate

Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zeigt in der ersten Retrospektive im deutschsprachigen Raum nicht nur die berühmte Serie „Signs that say what you want them to say and not Signs that say what someone else wants you to say“ (1992/93), aus der das Bild „I`M DESPERATE“ stammt, sondern belegt die seit Jahren gleichbleibend hohe Qualität der künstlerischen Arbeit Wearings. Dass von den 70 Bildern1 der „Signs“-Reihe gerade „I`M DESPERATE“ berühmt geworden ist, scheint in Anbetracht der anderen Fotografien fast logisch: Hierin verdichtet sich der Gegensatz zwischen erstem Eindruck der Person und seinem Geständnis am deutlichsten. Andere Arbeiten sind schwieriger zu lesen (faktisch die Schrift) oder die Botschaft gleitet ins Banale, Allgemeingültige ab. Die seit 2008 erfolgte Übersetzung einiger Figuren in Bronzestatuetten erweitert das Konzept um das Aufstellen von kleinen Denkmälern für „Helden des Alltags“.

Video-Arbeiten

Das 15-minütige Video „Crowd“ (2012) und das einstündige „Sixty Minute Silence“ (1996) nutzen das gleiche Verfahren: Beide wirken auf dem ersten Blick wie Fotografien, entpuppen sich aber bei genauer Betrachtung als Videos. Für „Crowd“ diente Gillian Wearing das berühmte Aquarell „Große Rasenstück“ (1503) von Albrecht Dürer als Vorbild, sie setzte es - wohl mit künstlichen - Pflanzen um und filmte es mit einigen Ameisen ab. So wie Dürers Rasenstück eine in der Werkstatt zusammengestellte, perfektionierte Version eines echten Klumpens Grün darstellt, so komponiert Wearing ihr Pflanzenarrangement minutiös und belebt es mit einigen Insekten. Die machen ihren Job gut, denn ohne die ein wenig in Schwingung versetzten Grashalme würde man wohl nie erraten, dass „Crowd“ nicht einfach ein nachgestellter Dürer, sondern sogar ein medial verbesserter ist.

Mit „Sixty Minute Silence“ (1996) gewann Wearing den renommierten Turner Prize. Wieder ist es eine Gruppe – diesmal von 26 Freunden und Bekannten. Als Polizisten und Polizistinnen verkleidet, müssen sie eine Stunde völlig still und möglichst regungslos vor der Kamera verharren. Es dauert nicht lange, bis sich das statische Bild zu bewegen beginnt und einige ihre Reaktionen auf das künstliche Setting nicht mehr unterdrücken können. Gillian Wearings Inszenierung lässt sich einerseits als medienkritische Erforschung der Grenze zwischen Fotografie und Film interpretieren aber auch als Auseinandersetzung mit Authentizität und Augentrug. Auch die 2011 entstandene schwarz-weiß Fotografie „People“ arbeitet mit der Frage nach Echtheit und Künstlichkeit, denn dafür zitiert Wearing ein prunkvolles Blumenstillleben von Jan Brueghel d.Ä. (1568-1625). Die einzelnen Blüten sind künstlich, komponierte Brueghel seine Prunksträuße doch im Ablauf eines Jahres, da nicht alle verwendeten, symbolisch aufgeladenen Blüten zur gleichen Zeit blühen. Mit Kleber und Farbe werden die Kunstblumen von der Künstlerin Gillian Wearing individuell gestaltet und in der Folge in Schwarz-Weiß abfotografiert. Jede kunsthistorisch bewanderte Person erkennt auf den ersten Blick die Beziehung zum flämischen Meister. Unterscheidet sich dieses neue Blumenarrangement optisch von einer s/w-Abbildung eines Brueghel-Stilllebens? Stehen die beiden Werke einander gegenüber wie Kopie und Original oder sind beide auf ihre Weise originell?

So wie sie den scheinbaren Trompe-l`œil-Effekt des realistisch gemalten Rasenstücks von Albrecht Dürer oder eines Prunkstilllebens von Jan Brueghel d.Ä. auf Pflanzen übertrug und echte Ameisen einschmuggelte, so beschäftigt sie sich auch in „Sixty Minute Silence“ mit Strategien, wie künstlerisch Echtheit vorgetäuscht werden kann. Die gefilmten Menschen sind mitnichten Mitglieder einer Polizeieinheit. Wie Schauspieler stellen sie nur eine homogene Gruppe dar, erfüllen die Konventionen der Berufsbekleidung wie auch des Gruppenfotos. Ihre Reaktionen hingegen zeigen, dass sich hinter dem Spiel mit den Bräuchen ein System von (Selbst)Kontrolle versteckt.

Wer bin ich?

Der Spannung zwischen dem selbstbestimmten Ich und seinen Abhängigkeiten von Familie, Vorbildern und Umfeld gilt seit den frühen 1990er Jahren das Interesse der britischen Künstlerin. In „Sacha and Mum“ (1996) wird das Verhältnis zwischen einer Mutter und ihrer Tochter zwischen Zuneigung und körperlichem Missbrauch geschildert. Die Bilder zeigen eine Beziehung als ein immer schnelleres Abwechseln von Lachen und Schluchzen, Kosen und Schlagen, wobei sich die erwachsene Tochter nicht dem Zugriff ihrer Mutter entziehen kann. Gewalt ist auch das Hauptthema von „Bully“, einem Ausschnitt aus dem ersten Spielfilm von Gillian Wearing mit dem Titel „Self Made“ (2010). Der Film ist zwischen Kunstprojekt, Dokumentation, Sozialexperiment und Performance angesiedelt. Neun Laiendarsteller stellen die traumatische Erfahrung von James, der in einer Unterführung verprügelt worden ist, nach. Das Opfer ist im Verlauf des Experiments immer weniger in der Lage, zwischen den nachgestellten und seinen echten Erfahrungen zu unterscheiden. Am Ende bricht er fast unter dem Druck zusammen und beschuldigt die Teilnehmer, verantwortlich für seine Angstzustände zu sein. Einige schweigen betreten, einer entschuldigt sich für etwas, was er eigentlich nicht verschuldet hat.

Bereits 1994 lud Gillian Wearing unbekannte Menschen ein, sie mögen doch alles auf Video gestehen, aber keine Sorge, man wäre verkleidet. Bei Interesse rufe man Gillian an!  „Confess All On Video, Don`t Worry, You Will Be In Disguise, Intrigued? Call Gillian…“ Ob die hinter Masken gestandenen Verfehlungen, Wünsche und Träume real oder der Phantasie entsprungen sind, lässt sich nicht feststellen. Für „Trauma“ (2000) und „Secrets and Lies“ (2009) wiederholte Wearing ihr Konzept – ohne jedoch gänzlich andere Lösungen anzubieten. Opfer und Täter werden mit den gleichen Mitteln behandelt. Hier  stellt sich die Frage, wie weit Voyeurismus hervorgerufen bzw. befriedigt wird, welche Entwicklungsmöglichkeiten dieses Konzept eigentlich hat. In der letzten Reprise wird über den Titel – „Secrets and Lies“ – bereits auf das Spannungsmoment von Enthüllung und (möglicher) Falschheit hingewiesen.

Auch ihr eigenes Leben untersucht Gillian Wearing auf diese charakteristisch anonyme Weise: Für ihre seit 2003 entstandene „Selbstporträt als…“-Serie nutzte sie Silikonmasken, um in die Rollen ihrer Familienmitglieder und auch frühere Selbst zu schlüpfen. Berühmte Porträtaufnahmen von Künstlerkolleg:innen wie Diane Arbus, Robert Mapplethorpe, Andy Warhol, August Sander und Claude Cahun stellt sie seit 2008 nach. Hinter beiden Serien scheint die Frage nach dem Ich zu stehen. Wer ist Gillian Wearing? Das Kind ihrer Eltern, die Schwester ihrer Geschwister, die Nachfolgerin von einer Reihe Fotograf_innen, die sich mit dem Selbstbildnis und Porträt intensiv beschäftigt haben? Oder einfach ein Kind ihrer Zeit, das von den Medien (Fernsehen) stärker geprägt wurde als alle Generationen vor ihr? Die 2006 entstandene Video-Installation „Family History“ scheint neben den Selbstporträt-Serien deutet darauf hin. Die britische Reality-TV-Show „The Family“ wurde 1974 erstmals ausgestrahlt und brachte das Leben der Familie Wilkins aus Reading (UK) in jedes Wohnzimmer. Gillian Wearing hat mehrfach gestanden, dass sie als Teenager besonders die rebellierende Tochter Heather bewunderte. Für „Family History“ ließ sie Heather von der Moderatorin Trisha Goddard über ihre Erfahrungen mit dem öffentlichen Leben interviewen. Vor der Videobox hängt eine altertümliche Wandleuchte, und ein kleiner Monitor zeigt ein Mädchen in einem Zimmer der 70er Jahre, das regungslos in den Fernseher starrt. Erst am Ende des Gesprächs zoomt die Kamera zurück und gibt den Blick auf die Produktionshalle frei. Gleich im Studio neben Heather Wilkins und Trisha Goddard sitzt ein Mädchen in einem Zimmer der 70er Jahre und starrt regungslos in den Fernseher.

Gillian Wearing: Retrospektive

Die Retrospektive „Gillian Wearing“ zeigt eine Künstlerin, die seit den frühen 1990er Jahren einer Soziologin gleich menschliches Verhalten analysiert. Ihre Interessen kann man wie folgt beschreiben: Diskrepanz zwischen innerem Erleben und Selbstkontrolle, öffentliches und privates Leben, Entstehung des Ich im Spannungsfeld zwischen Familie, Vorbilder und Persönlichkeit, das Aufdecken von scheinbarer Authentizität. Diese Themen verfolgt die Britin seit nunmehr über 20 Jahren kontinuierlich, was dazu führte, dass ihr Werk sich in mehrjährigen Serien immer wieder mit den gleichen Fragekomplexen beschäftigt. Daher lässt sich beispielsweise leicht ein Bogen von „Sixty Minute Silence“ (1996) zu „Crowd“ (2012) schlagen. Gillian Wearings Fotografien und Videos lassen sich insofern leicht beschreiben und zusammenfassen. So manchem Kritiker haben aus diesem Grund aber auch bereits die Wendungen im Werk gefehlt. In der Ausstellung überzeugt sicher die gleichbleibend hohe Qualität der Arbeiten. Dass sich keine Lösung für die Identitätsproblematik auftut, liegt an der Analysemethode, die gleichermaßen ein Produzieren fiktiver Realitäten und Zergliedern vorgefundener Sachverhalte beinhaltet.

Biografie von Gillian Wearing (* 1963)

1963 in Birmingham geboren, lebt und arbeitet in London
1983 Umzug nach London
Bis 1990 Studium an der Chelsea School of Art und am Goldsmiths College, University of London
1993 erste Einzelausstellung bei City Racing in London

  1. Es gibt an die sechshundert Farbfotografien in dieser Serie.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.