John Everett Millais' „The Blind Girl“ (1856) ist ein einfühlsames Bild eines blinden Mädchens und seiner Schwester nach heftigem Regen. Der Maleri zeigt die unterschiedlichen Reaktionen der beiden Jugendlichen: Die Sehende erspäht gerade den doppelten Regenbogen im Hintergrund, während ihre blinde Schwester mit allen anderen Sinnen die Welt um sich wahrnimmt.
„The Blind Girl“ (1854–1856) zeigt eine junge Frau, von vielleicht 18 oder 20 Jahren, mit ihrer jüngeren Schwester. Ein Schild an ihrem Kleid trägt die Aufschrift „Pity The blind“, „Bemitleide die Blinde“. Sie sitzt auf einer Grasböschung, hinter den beiden breitet sich in leuchtendem Grün eine Wiese aus. Ihre schwielige Hand liegt neben blauem Ehrenpreis, auch Männertreu genannt. Einige schwarze Raben und in einiger Entfernung weiße Esel und braune Kühe beleben die Weide. Am Horizont verdunkeln schwarze Wolken den Himmel, noch kurz zuvor war wohl ein Wolkenbruch heruntergekommen. Die beiden Bettlerinnen hatten sich unter einem Tuch zusammengekauert und ihre Hände gehalten. Nun ist die Gefahr gebannt, ein Schmetterling hat sich schon wieder in die Luft gewagt. Das Tuch fällt dem blinden, rothaarigen Mädchen mit geschlossenen Augen wie ein Umhang über die Schultern; ihre Erscheinung wirkt wie eine zweite Maria. Doch ein doppelter Regenbogen steigt schon auf. Das blinde Mädchen mit seiner Ziehharmonika bekommt davon nichts mit. Ihre Begleiterin erspäht das Licht- und Naturschauspiel, während das blinde Mädchen auf Geruchs-, Hör- und Tastsinn angewiesen ist.
Mitte September 1852 besuchte John Everett Millais gemeinsam mit Hunt und Edward Lear erstmals Winchelsea in Ost-Sussex. Alle drei verliebten sich in das kleine, mittelalterliche Dorf und seine Umgebung. Im Herbst 1854 begann Millais diese Komposition wieder einmal mit dem Hintergrund, zwei Jahre späte stellte er die Figuren in Perth fertig. Millais Ehefrau Effie saß ihm anfangs für das blinde Mädchen, wurde aber durch Matilda Proufoot ersetzt. Mit „The Blind Girl“ setzte John Everett Millais erstmals in einem Gemälde einen kontinuierlichen Tiefenzug ein.
Auf der Jahresausstellung der Liverpool Academy gewann der Maler damit den Preis. Als erstes wurde es als „mitleiderregend“ beschrieben. Auch Millais‘ Künstlerkollegen waren von dem Bild angetan, so meinte Dante Gabriel Rossetti, dass es „eines der berührendsten und perfektesten Dinge wäre, dass er kannte“.