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Leonardo: Anna selbdritt (Burlington House Karton) Beschreibung – Auftrag – Material – Quellen – Bedeutung – Bestimmungsort – „Anna selbdritt“ für die Sala del Gran Consiglio? – Zeichnungen

Leonardo da Vinci, Hl Anna Selbdritt, sog. Burlington House Karton, Detail, 1500–1508, Kohle und Kreide auf Karton, 1,42 x 1,05 m (The National Gallery, London)

Leonardo da Vinci, Hl Anna Selbdritt, sog. Burlington House Karton, Detail, 1500–1508, Kohle und Kreide auf Karton, 1,42 x 1,05 m (The National Gallery, London)

„Anna selbdritt“, auch bekannt als „Burlington House Karton“, ist ein zwischen 1501 und 1508 entstandener Karton von Leonardo da Vinci. Die 141,5 x 104 cm große Zeichnung ist in schwarze Kreide mit weißen Höhungen auf Papier ausgeführt und befindet sich heute in der Sammlung der National Gallery, London, wo sie die Inventar-Nummer 6337 trägt.

Der Karton wurde 1614 von Galeazzo Arconati aus dem Nachlass des Bildhauers Pompeo Leoni erworben und geht über die Familie Casnedi in Mailand auf die Familie Sagredo in Venedig zurück. Er kam 1762 nach England, nachdem er von John Udny, dem britischen Konsul in Venedig, im Auftrag seines Bruders Robert gekauft worden war. Der Beiname „Burlington House Karton“ für die „Anna selbdritt“ wurde erstmals 1939 von Kenneth Clark verwendet, als sich der Karton noch in der Sammlung der Royal Academy in Burlington House befand.1

Offensichtlich war Leonardo von dem ungewöhnlichen Thema der Madonna mit Kind und der Heiligen Anna fasziniert und experimentierte mit verschiedenen Möglichkeiten, ihre Posen miteinander zu verschränken. Zwei erhaltene Werke sowie verschiedene Skizzen stimmen auf unterschiedliche Weise mit den dokumentarischen Quellen überein. Das eine ist ein Gemälde im Louvre, das andere eine großformatige Zeichnung oder ein Karton in der National Gallery in London. Die Beziehung zwischen dem Gemälde und dem Karton wird heftig diskutiert.

Beschreibung

Leonardos gezeichnete „Anna selbdritt“ („Burlington House Karton“) zeigt zwei Frauen und zwei Knaben: hl. Anna, ihre Tochter Maria und ihren Enkel Jesus, der sich gerade zum knienden Johannes den Täufer dreht, um ihn zu segnen. Die Jungfrau sitzt aufrecht und im Damensitz im Schoß der hl. Anna, die Beine nach links gewendet. Maria dreht sich nach rechts um, um das Jesuskind zu stützen. Christus liegt in den Armen seiner Mutter Maria, ja scheint über ihren Beinen zu schweben. Hl. Anna blickt Maria, die Gottesmutter, an und deutet mit ihrer linken Hand gen Himmel.

Gegenüber dem Gemälde „Anna selbdritt“ im Louvre wollte Leonardo anstelle des Lammes den kindlichen Johannes den Täufer setzen. Dazu arrangierte er die Figuren neu. Er veränderte die Pose der Jungfrau, so dass ihr Kopf nun neben dem der Heiligen Anna liegt und das Jesuskind den Platz der Jungfrau im Gemälde einnimmt. Auf diese Weise schuf Leonardo Platz für die zusätzliche Figur des Täufers.

Hinter den Figuren erheben sich felsige Berge und Wälder. Auffallend an der Komposition ist der unterschiedliche Grad der Ausführung. Während die Köpfe für einen Karton - eigentlich eine Vorzeichnung der Komposition im Werkprozess - überperfekt erscheinen, sind die Hände und Füße, aber auch die Landschaft im Hintergrund zum Großteil noch unvollendet.

 

Auftrag

Kurz nach seiner Ankunft in Florenz erhielt Leonardo da Vinci 1501 von den Serviten den Auftrag, eine „Anna selbdritt“ für ihre Ordenskirche Santissima Annunziata zu malen, wie Giorgio Vasari überliefert. Die Ausführung des Gemäldes zog sich über mehrere Jahre hin, da Leonardo da Vinci kurz darauf zum Architekten und Ingenieur von Cesare Borgia ernannt wurde und durch Mittelitalien reiste. Die Zuschreibung des Kartons an Leonardo ist unumstritten. Kontrovers diskutiert wird hingegen die Datierung, die heute zwischen 1501 und 1508 angesetzt wird.

Viele haben vermutet, dass der „Burlington House Karton“ aus der Zeit um 1499/1500 stammt und dass er eine frühere, vorläufige Phase des von Vasari und genauer von Fra Pietro da Novellara beschriebenen Kartons darstellt.2 In jüngerer Zeit jedoch ist man sich zunehmend einig, dass er erst zwischen 1506 und 1508 angefertigt wurde und dass es sich tatsächlich um ein unabhängiges Projekt handelte.3

Wenn Vasari Recht hatte, dass Leonardo nach seiner Rückkehr nach Florenz einen Karton ausstellte – und dass „Männer und Frauen, jung und alt, zwei Tage lang in Scharen herbeiströmten, um ihn zu sehen“ –, dann war das Objekt ihrer Bewunderung vielleicht tatsächlich der „Burlington House Karton“. Die großformatige Zeichnung wurde in Mailand angefertigt, sie war aber für Florenz bestimmt, wie die Anwesenheit von Johannes dem Täufer und der heiligen Anna nahelegt. Er könnte also nicht bei Leonardos erster Rückkehr nach Florenz im Jahr 1500, sondern bei seiner zweiten im Jahr 1507 den staunenden Blicken der neugierigen Öffentlichkeit präsentiert worden sein.

Leonardo da Vinci scheint auch nach seiner Rückkehr nach Mailand 1508 an einem Gemälde oder dem Karton der „Anna selbdritt“ weitergearbeitet zu haben, wie einige Vorstudien aus späterer Zeit nahelegen.4

Material

Der Karton besteht aus acht zusammengeklebten Papierbögen, die inzwischen mit Leinwand kaschiert sind. Leonardo bereitete die Oberfläche mit einer rotbraunen Grundierung aus Eisenoxid vor. Er arbeitete die Komposition mit Kohle aus, fügte weiße Glanzlichter hinzu und widmete der Modellierung der Figuren, vor allem der Köpfe, besondere Aufmerksamkeit; andere Partien, wie die Füße oder die zeigende Hand der Heiligen Anna, blieben unbearbeitet.5 Obwohl einige der Modellierungen später noch verstärkt wurden, ist der extrem hohe Grad der Vollendung der Figuren, insbesondere der Köpfe, ungewöhnlich für einen Karton in Originalgröße, der normalerweise zur Übertragung der Umrisse einzelner Figuren verwendet wird.

Da der Burlington House Karton nicht gelocht und daher wahrscheinlich nie übertragen wurde, sieht er nicht wie ein Funktionskarton aus, sondern kann vielleicht am besten als Präsentationskarton in Originalgröße oder als „ben finito cartone“ beschrieben werden.6.

Zeitgenössische Quellen

In einem Brief vom 3. April 1501 (Archivio di Stato di Mantova, Arcivio Gonzaga, E. XXVIII, 3, b.1103, C.272) an die wissbegierige Isabella d’Este, Marchesa von Mantua und Kunstsammlerin, berichtete der Karmeliter-Prediger Fra Pietro da Novellara, dass Leonardos Leben sehr chaotisch gewesen sei [„varia et indeterminata forte“], dass er in den Tag hinein gelebt habe, in das Studium der Geometrie vertieft gewesen sei und wenig Lust gehabt habe, den Pinsel in die Hand zu nehmen.7 Fra Pietro gab jedoch an, dass Leonardo eine Skizze für einen Karton angefertigt hatte [„uno schizo in uno Cartone“] und beschrieb diese unvollendete Komposition sehr detailliert: Man sieht das Jesuskind, wie es mit einem Lamm spielt und es zu umarmen scheint. Maria, die auf dem Schoß der heiligen Anna sitzt, greift nach dem Kind, um es vom Lamm zu trennen. Fra Pietro gibt an, dass die Figuren alle lebensgroß, sitzend oder nach vorne gebeugt sind und dass jede ein wenig vor der anderen steht und nach links blickt.8. Es ist verlockend, dieses Gemälde mit der „Anna selbdritt“ im Louvre zu identifizieren, die der Beschreibung von Fra Pietro da Novellara sehr nahe kommt, auch wenn die Figuren nach rechts blicken. Wahrscheinlicher ist aber noch immer, dass es sich um ein heute nicht mehr erhaltenes Werk handelt.

Zweieinhalb Jahre später, im Oktober 1503, kommentierte der Florentiner Literat und Schreiber Agostino Vespucci (1462–1515) eine Ausgabe von Ciceros Briefen und erwähnte darin ein Gemälde der „Anna selbdritt“ von Leonardo. Seine Glosse scheint darauf hinzudeuten, dass Leonardo in der Zwischenzeit mit der Ausarbeitung des oben beschriebenen Kartons begonnen hatte. Vespucci war beeindruckt von Ciceros Passage darüber, wie Apelles – der berühmteste Maler der Antike – den Kopf und die Büste eines Bildes der Venus vollständig fertiggestellt hatte, während er den Rest ihres Körpers grob skizziert ließ. Am Rand bemerkte er, dass Leonardo wie Apelles dies in all seinen Gemälden tat, darunter dem Kopf der Lisa del Giocondo – der „Mona Lisa“ – und dem der Anna, der Mutter der Jungfrau Maria („Anne matris virginis“), und dass er gespannt sein werde, was Leonardo hinsichtlich der Wandmalereien in der Sala del Gran Consiglio tun werde.9

Auch Giorgio Vasari beschrieb in seiner Jahrzehnte später verfassten Biografie Leonardos einen Karton der „Anna selbdritt“, der Darstellung von Maria mit dem Kind und der Heiligen Anna. Er berichtete, dass die Servitenmönche von Santissima Annunziata Filippino Lippi beauftragt hatten, ein Gemälde für den Hauptaltar ihrer Kirche zu malen, dass Filippino aber zugunsten Leonardos auf den Auftrag verzichtet habe. Die Mönche seien bereit gewesen, Leonardo eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen und für seine Ausgaben aufzukommen, aber der Künstler habe nie mit der Arbeit an dem Projekt begonnen. Stattdessen, so Vasari, stellte Leonardo einen Karton mit dem Titel „Anna selbdritt“ in der Kirche Santissima Annunziata aus, und „Männer und Frauen, jung und alt, strömten zwei Tage lang in den Raum, in dem die Zeichnung ausgestellt war, um sie zu sehen, als wäre es ein feierliches Fest, um die Wunder Leonardos zu bewundern, die all diese Leute in Erstaunen versetzten“.10 Kurioserweise erwähnt Vasari nicht nur das Jesuskind, das nach dem Lamm greift, sondern auch eine andere Figur, nämlich den kleinen Johannes den Täufer.

Vasaris Bericht ist eine oft zitierte Quelle in den Diskussionen um Leonardos zwei noch existierende Versionen der Jungfrau mit Kind und der Heiligen Anna. Der Künstler und Kunstschriftsteller war offensichtlich gut über das Leben Leonardos informiert, nicht zuletzt durch den Historiker und Biografen Paolo Giovio und Künstlerkollegen wie Pontormo, Baccio Bandinelli oder Giovanni Francesco Rustici; Vasari musste sich ausschließlich auf Informationen aus zweiter Hand verlassen. Er hatte weder die „Anna selbdritt“ im Louvre noch den „Burlington House Karton“ jemals persönlich gesehen.11 Obwohl es möglich ist, dass Leonardo auch einen Karton für die Jungfrau mit Kind, der Heiligen Anna, dem Johannesknaben und dem Lamm angefertigt hat und dieser heute verloren ist, scheint es wahrscheinlicher, dass Vasari die beiden Versionen vermischte.

Bedeutung

Fra Pietro de Novellaras Interpretation setzt in dem oben genannten Brief bei der doppelten Aktion der hl. Anna und von Maria an: Das Jesuskind spielt mit einem Lamm und scheint es zu umarmen. Maria, die auf dem Schoß der heiligen Anna sitzt, greift nach dem Kind, um es vom Lamm zu trennen. Dies deutet der Prediger heilsgeschichtlich mit Hinblick auf den Opfertod Christi am Kreuz. Hl. Anna verkörpert Ecclesia, die Kirche, und das Lamm das Opfer Christi. Trotz der Bemühungen der Jungfrau Maria, ihren Sohn vom Lamm zu trennen, soll dieser sein Schicksal annahmen. Die Mutter lässt dies nur widerwillig zu.

In der „Anna selbdritt“ („Burlington House Karton“) fehlt das Lamm und wird durch den kleinen Johannes den Täufer ersetzt. Dieser kündigte als Prophet den Erlöser an. Zudem weist die hl. Anna noch gen Himmel, was die göttliche Vorsehung unterstreichen soll. Diesmal hält Maria das Kind in ihren Armen, ohne sich gegen das Zusammentreffen zu sträuben.

„Anna selbdritt“ für die Sala del Gran Consiglio?

Falls Leonardo mit der Arbeit an dem Karton erst begann, als er Florenz 1506 verließ, warum hat er sich dem Thema gewidmet – und für wen? Per Rumberg schlug 2024 eine überraschende Antwort auf diese Frage vor, als er meinte, Leonardo habe den „Burlington House Karton“ für die Stadt Florenz gefertigt.12

Vasari behauptete, Leonardo habe Filippino Lippis Auftrag für den Hochaltar der Santissima Annunziata übernommen. Diese Behauptung wurde jedoch zu Recht in Frage gestellt.13 Filippino starb am 18. April 1504 und am 5. August 1505 wurde sein Auftrag an Pietro Perugino übertragen, der das doppelseitige Altarbild fertigstellte; die „Kreuzabnahme“ (Galleria dell’Accademia, Florenz) und die „Aufnahme Mariens in den Himmel“ noch an ihrem Platz in der Kirche der Santissima Annunziata. Keines von beiden bezieht sich auf Leonardos Arbeit der 1500er Jahre.

Filippino arbeitete damals auch noch an einem anderen Florentiner Altarbild. 1498 hatte ihn die Signoria beauftragt, ein Altarbild für ihren neu errichteten Ratssaal, die Sala del Gran Consiglio, im Palazzo della Signoria zu malen. Als Filippino im April 1504 starb, war nur der Rahmen für dieses Altarbild, geschnitzt von Antonio da Sangallo dem Älteren, geliefert worden.14 Die Signoria wartete über sechs Jahre, bis sie am 26. November 1510 den Auftrag an Fra Bartolommeo weitergab. Letzterer begann mit der Arbeit an dem Bild, beendete es jedoch nach dem Fall der Republik und der Rückkehr der Medici im Jahr 1512 nie; bis 1513 hatte er nur die monochrome Untermalung fertiggestellt.15

Fra Bartolommeo sollte das Altarbild „in der gleichen Weise [eo modo et formis]“ wie Filippino malen.16 Das unvollendete Altarbild zeigt die Jungfrau mit dem Kind, umgeben von verschiedenen Heiligen, die alle mit der Republik Florenz in Verbindung stehen. Am auffälligsten ist, dass die zentrale Gruppe der Jungfrau mit dem Kind von der Heiligen Anna und dem kleinen Johannes dem Täufer begleitet wird. Letzterer kniet auf der linken Seite und greift nach dem Fuß des Jesuskindes, während die Heilige Anna hinter ihnen sitzt und nach oben schaut. Interessanterweise zeigen die vorbereitenden Zeichnungen Fra Bartolommeos für das Altarbild, darunter sieben Vorzeichnungen im Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam (z.B. Inv.-Nr. I 563 M 163), alternative Ideen für die zentrale Gruppe, darunter eine mit dem kleinen Johannes dem Täufer ganz rechts, wie in Leonardos „Burlington House Karton“.17

Leonardo da Vinci war ab Oktober 1503 bei der Signoria angestellt und arbeitete an dem Karton für die „Schlacht von Anghiari“ in der Sala del Papa in Santa Maria Novella. Mehrere Zahlungen im Laufe des folgenden Jahres deuten darauf hin, dass er Fortschritte bei der Vorbereitung des Kartons für sein Wandgemälde gemacht hatte, und im Juni 1505 begann er mit der Malerei in der Sala del Gran Consiglio. Zwischen Sommer 1506 und Sommer 1507 hielt er sich in Mailand auf, danach wieder in Florenz, bevor er sich im März 1508 dauerhafter in Mailand niederließ.

Da das Altarbild für die Sala di Gran Consiglio bestimmt war, war Leonardo sich der mangelnden Fortschritte bei dem Auftrag bewusst. Darüber hinaus wurde Piero Soderini zunehmend frustriert über das unvollendete Wandbild, Leonardo stand 1507 unter erheblichem Druck. Da die „Anna selbdritt“ des Louvre wahrscheinlich bereits in Arbeit war, war er wohl versucht, die Komposition anzupassen, insbesondere durch die Einführung der Figur des Johannesknaben, und einen Karton für die zentrale Gruppe des gewünschten Altarbilds auszuarbeiten, um ihn der Signoria nach seiner Rückkehr anstelle des aufgegebenen Wandbilds zu überreichen. Ein Blick auf den „Burlington House Karton“ im Zusammenhang mit der „Pala del Gran Consiglio“ kann einen Eindruck davon vermitteln, wie die dargestellte Szene als Teil eines größeren Entwurfs verstanden werden könnte. Obwohl Fra Bartolommeo sich für eine andere Kulisse entschied, ist der Maßstab der Figuren in beiden Werken bemerkenswert ähnlich. Interessanterweise hatte Leonardo auch in der „Schlacht von Anghiari“ die zentrale Szene, den sogenannten „Kampf um die Standarte“, fertiggestellt, bevor er zu anderen Bereichen der Komposition überging.

Als Filippino 1504 starb, war die Signoria angesichts seiner Arbeit an der „Schlacht von Anghiari“, wahrscheinlich zögerlich, so Rumberg, Leonardo den Auftrag zu erteilen. Tatsächlich scheint es unwahrscheinlich, dass die Signoria Leonardo jemals offiziell mit der Arbeit an dem Altarbild beauftragte, was erklären würde, warum sein Name in keinem der Archivunterlagen der Signoria im Zusammenhang mit dem Altarbild auftaucht. Wenn Leonardo der Signoria nach seiner Rückkehr aus Mailand 1507 tatsächlich einen Karton überreichte, hätte er dies unaufgefordert und auf eigene Rechnung getan.

Vorbereitende Zeichnungen

Leonardo da Vinci bereitete seinen Karton sorgfältig in einer kleinen Skizze mit schwarzer Kreide vor, wobei er die Figuren mehrfach und so kräftig mit Feder und Tinte nachzeichnete, dass sie kaum noch lesbar sind. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Jesuskind, das in zwei alternativen Positionen dargestellt ist. Die Skizze ist von einem mit schwarzer Kreide gezeichneten Rahmen umgeben, dessen Proportionen durch eine Reihe von Punkten am unteren Rand, die vermutlich jeweils die Größe einer Handfläche haben, sorgfältig bemessen sind. Später veränderte Leonardo die Breite des Rahmens in der Skizze geringfügig, indem er links eine zweite Linie mit Feder und Tusche hinzufügte und so mit der Platzierung der Szene innerhalb des Rahmens experimentierte. Weitere Skizzen an den Rändern erkunden die Pose der Jungfrau mit seitlich abgestellten Beinen und des Jesuskindes. Auf der Rückseite zeichnete Leonardo die Umrisse der vier Figuren durch das Blatt hindurch nach, wodurch ihre Positionierung, wenn auch spiegelbildlich, deutlicher wird.

Einfluss auf Michelangelo und Raffael

Die Verlebendigung der „Anna selbdritt“ durch Leonardo, die Fra Pietro da Novellara am 3. April 1501 in seinem Brief hervorhebt, war zu dieser Zeit die große Leistung des Künstlers. Gesten, Bewegungen und Handlungen, die dem Verhalten von wirklichen Kindern und Müttern ähneln, verleihen in seinem Werk der heilsgeschichtlichen Botschaft eine intime und menschliche Dimension. Dadurch soll ihre Glaubwürdigkeit erhöht werden. Diese neue Auffassung sollte eine entscheidende Grundlage für Raffaels Erfolge als Maler der Maria und der hl. Familie werden: Seine um 1507 in Florenz entstandene „Hl. Familie mit dem Lamm“ (Prado) von 1507 geht direkt auf Leonardos Komposition von 1501 zurück.

Raffaels Tafelbild zeigt die Jungfrau Maria, das Jesuskind und das Lamm, die heilige Anna ersetzte er durch den heiligen Josef. Wichtiger als diese Änderung ist Raffaels Abwandlung des Inhalts der Szene, indem er Maria zeigt, wie sie ihrem Sohn hilft, das Lamm zu umarmen, während der heilige Josef mit einem aufmerksamen, nachdenklichen Ausdruck zusieht. Offenbar ist er sich der vorahnenden Bedeutung der Handlung bewusst. Die Kommunikation zwischen den Figuren wird durch ihre Körperhaltungen und die Richtung ihrer Blicke betont. Die Einfügung einer Nebenszene mit der Flucht nach Ägypten im Mittelgrund lässt vermuten, dass das Hauptthema auf eine Rast auf dem Weg anspielt. 18

Aber auch Michelangelo Buonarroti, mit dem sich Leonardo 1504/05 im Wettbewerb um die Schlachtenbilder messen musste, war sich der Neuerungen wohl bewusst. Der Bildhauer schuf um 1505 zwei berühmte Rundbilder: den gemalten „Tondo Doni“19 (um 1505–1506, Uffizien) und den „Tondo Pitti“20 (um 1503–1504, Bargello) aus Marmor. Im „Tondo Doni“ zeigt sich Michelangelo erstmals als Maler, wobei das Werk bereits jenen Stil aufweist, der in der Decke der Sixtinischen Kapelle zum Einsatz kommen wird (→ Michelangelo und die Decke der Sixtinischen Kapelle). Auch hier zeigt sich die Verlebendigung der Figuren durch eine starke Beweglichkeit, durch ein Übereinanderstaffeln der Körper.

 

  1. Siehe: Kenneth Clark, Leonardo da Vinci: An Account of His Development as an Artist, Cambridge 1939, S. 109–111.
  2. Zum frühen Datum siehe zum Beispiel Bernard Berenson, The Drawings of the Florentine Painters, London, 1903, Bd. 1, S. 157–58; Kenneth Clark, Leonardo da Vinci: An Account of His Development as an Artist, Cambridge 1939, S. 72–74; Arthur E. Popham, The Drawings of Leonardo da Vinci, London, 1946, S. 120–22; Jack Wasserman, The Dating and Patronage of Leonardo’s Burlington House Cartoon, in: Art Bulletin, 53, 1971, S. 312–25; Daniel Arasse, Leonardo da Vinci: The Rhythm of the World, New York, 1998, S. 445–461; Leonardo da Vinci: Painter at the Court of Milan, hg. v. Luke Syson (Ausst.-Kat., The National Gallery, London, 2011–2012) London 2011, S. 289–291, Kat. 86; Saint Anne: Leonardo da Vinci’s Ultimate Masterpiece, hg. v. Vincent Delieuvin (Ausst.-Kat., Musée du Louvre, Paris), Paris 2012, S. 56–59, Kat. 11; Leonardo da Vinci, hg. v. Vincent Delieuvin und Louis Frank (Ausst.-Kat. Musée du Louvre, Paris), Paris 2019–2020, S. 274–78, Kat. 136.
  3. Bambach 2019, Bd. 3, S. 36–40, und Carmen C. Bambach, Leonardo’s St Anne Types and the Dating of the National Gallery Cartoon, in: Barone and Avery-Quash 2019, S. 59–71. Zum späteren Datum siehe Arthur E. Popham and Philip Pouncey, Italian Drawings in the Department of Prints and Drawings in the British Museum: The Fourteenth and Fifteenth Centuries, 2 Bde, London 1950, Bd. 1, unter Nr. 108; Carlo Pedretti, The Burlington House Cartoon, in: The Burlington Magazine, 110 (1968) S. 22–28; Carlo Pedretti, Leonardo: A Study in Chronology and Style, London 1973, S. 104–10; Martin Kemp, Leonardo da Vinci: The Marvellous Works of Nature and Man, Cambridge MA, 1981, S. 220–27; Eric Harding, Allan Braham, Martin Wyld und Aviva Burnstock, The Restoration of the Leonardo Cartoon, in: National Gallery Technical Bulletin, 13 (1989) S. 5–27; Martin Kemp und Juliana Barone, I disegni di Leonardo da Vinci e della sua cerchia nelle collezioni di Gran Bretagna, Florenz 2010, Nr. 28.
  4. Siehe Carmen Bambach 2019, Bd. 3, S. 44–81; Saint Anne: Leonardo da Vinci’s Ultimate Masterpiece, hg. v. Vincent Delieuvin (Ausst.-Kat., Musée du Louvre, Paris) Paris 2012.
  5. Für eine detaillierte Analyse der konservatorischen Behandlung des Kartons siehe Eric Harding, Allan Braham, Martin Wyld and Aviva Burnstock, The Restoration of the Leonardo Cartoon, in: National Gallery Technical Bulletin, 13 (1989), S. 5–27.
  6. Carmen Bambach, Leonardo da Vinci Rediscovered, 4 Bände, New Haven and London, 2019, S. 249–281.
  7. Vincent Delieuvin, La Sainte Anne, l'ultime chef-d'œuvre de Léonard de Vinci, Paris 2012, S. 77.
  8. Archivio di Stato, Mantua, Archivio Gonzaga, E, XXVIII, 3.b.1103, C.272. Siehe Bambach 2019, Bd. 3, S. 10.
  9. Universitätsbibliothek Heidelberg, Signatur D 7620 qt. Inc., 7, fol. 10 Rückseite – 11 Vorderseite. Siehe: Armin Schlechter, Leonardo da Vinci’s Mona Lisa in a Marginal Note in a Cicero Incunable, in: Bettina Wagner und Marcia Reed (Hg.), Early Printed Books as Material Objects, Berlin und New York, 2010, S. 151–176.
  10. Giorgio Vasari 1996, Bd. 1, S. 635; Vasari 1966-87, Bd. 4, S. 29; siehe auch Nethersole 2011
  11. Siehe: Patricia Rubin, What Men Saw: Vasari’s Life of Leonardo da Vinci and the Image of the Renaissance Artist, in: Art History, 13 (1990) S. 34–46.
  12. Per Rumberg, Leonardo and the Burlington House Cartoon, in: Michelangelo, Leonardo, Raphael, hg. v. Scott Nethersole und Per Rumberg (Ausst.-Kat. Royal Academy of Arts, London, 9.2.2024–16.2.2025), London 2024, S. 45–53, hier S. 52–53.
  13. Bambach 2019, Bd. 3, p. 13.
  14. Frey 1909, S. 120–26. Siehe auch Fra Bartolommeo: The Divine Renaissance, hg. v. Albert Elen und Chris Fischer (Ausst.-Kat. Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, 2016–2017), Rotterdam 2016, S. 143
  15. Siehe: Patrizia Zambrano und Jonathan K. Nelson, Filippino Lippi, Mailand 2004, S. 381. Gemäß einem Vertrag mit der neuen Regierung sollte Fra Bartolommeo das Gemälde bis zum 10. Juni 1513 fertigstellen. Das unvollendete Gemälde wurde später von Ottaviano de’ Medici erworben und in seiner Kapelle in der Basilica di San Lorenzo ausgestellt. Ferdinando de’ Medici ließ es 1690 in den Palazzo Pitti bringen und befand sich zwischen 1784 und 1922 in den Uffizien, bevor es an seinen heutigen Standort gebracht wurde.
  16. Vincenzo Marchese, Memorie dei più insigni pittori, scultori e architetti domenicani, Bologna 1878–1879, Bd. 2, S. 603.
  17. Per Rumberg, Leonardo and the Burlington House Cartoon, in: Michelangelo, Leonardo, Raphael, hg. v. Scott Nethersole und Per Rumberg (Ausst.-Kat. Royal Academy of Arts, London, 9.2.2024–16.2.2025), London 2024, S. 45–53, hier S. 52–53.
  18. El Prado en el Hermitage, Museo Estatal del Hermitage: Museo del Prado, Madrid 2011, S.70–71.
  19. Michelangelo Buonarroti, Die heilige Familie (Tondo Doni), um 1505–1506, Öl und Tempera auf Holz, Durchmesser: 120 cm (Gallerie degli Uffizi, Florenz, Inv. 1890, Nr. 1456)
  20. Michelangelo Buonarroti, Maria mit Kind und hl. Johannes dem Täufer (Tondo Pitti), um 1503–1504, Marmor, 85.5 × 82 cm (Museo Nazionale del Bargello, Florenz, Inv. 93)
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.