Zum ersten Mal wird Pablo Picassos „Frau mit einem Buch“ (1932) aus dem Norton Simon Museum in Pasadena, Kalifornien, mit Jean-Auguste-Dominique Ingres‘ „Madame Moitessier“ (1856) gemeinsam ausgestellt. Picasso bewunderte Ingres und bezog sich während seines gesamten Werks auf ihn. Picassos Affinität zu Ingres zeigt sich nicht nur in der Malerei, sondern auch umfassend in seinen Zeichnungen und Studien während seiner neoklassizistischen Phase in den 1920er Jahren.
Großbritannien | London: The National Gallery of Art, Room 1
3.6. – 9.10.2022
Jean-Auguste-Dominique Ingres‘ „Madame Moitessier“ wurde 1844 in Auftrag gegeben, um die Hochzeit von Marie Clotilde-Inès de Foucauld (1821–1897) mit dem wohlhabenden Kaufmann Sigisbert Moitessier zwei Jahre zuvor zu feiern. Ingres zögerte zunächst, den Auftrag anzunehmen, änderte aber seine Meinung, nachdem er die 23-jährige Madame Moitessier getroffen hatte, die er als „schön und gut“ beschrieb. Der Kunstkritiker Théophile Gautier, der während einiger der Malsitzungen zusah, stimmte Ingres zu und beschrieb ihre Schönheit als die königlichste, prächtigste, stattlichste und junoeskeste, die er je gezeichnet gesehen hatte.
Ingres brauchte 12 Jahre, um das Gemälde fertigzustellen. Während dieser Zeit erfuhr das Bild mehrere große Überarbeitungen: Eine kleine Tochter, Catherine, sollte ursprünglich aufgenommen werden, wurde aber aus der Komposition entfernt, und im letzten Moment, 1855, wurde ein anderes Kleid gewählt, um den Wandel der Mode widerzuspiegeln. Das gelbe Kleid, das Madame Moitessier ursprünglich trug, wurde in ein Kleid aus modischer und teurer Lyoner Seide mit einem floralen Muster geändert, das von den Blumen und Blättern des extravaganten vergoldeten Rahmens widergespiegelt wird, der von Ingres selbst entworfen wurde.
Madame Moitessier blickt in ihrer feinsten Kleidung und ihrem Schmuck majestätisch aus dem Bild. Sie ist die Verkörperung von Luxus und Stil während des Zweiten Kaiserreichs, das die Wiederherstellung des französischen Kaiserthrons und die extravagante Zurschaustellung von Reichtum sah. Das Zimmer hat das Ambiente eines luxuriösen Salons aus dem 18. Jahrhundert mit japanischer Imari-Vase, verziertem Fächer, Louis-XV-Konsolentisch, vergoldetem Spiegelrahmen und gepolstertem Damastsofa (mit einem winzigen Amor, der über Madame Moitessiers linke Schulter blickt).
Ihre unverwechselbare Pose basiert auf einer Figur in einem Fresko von „Herkules und Telephos“ aus Herculaneum (Archäologischen Nationalmuseum, Neapel), das Arkadia darstellt. Ingres 1814 könnte sie in Neapel gesehen haben. Im Porträt verwendet er die Geste von Arkadias rechter Hand, deren Zeigefinger erhoben ist und ihren Kopf stützt. Ingres eigene Reproduktionen des Wandbildes und vorbereitende Zeichnungen zeigen, wie er der präzisen Positionierung von Madame Moitessiers rechtem Arm, Hand und Fingern große Aufmerksamkeit schenkte. Tatsächlich war Madame Moitessier für Ingres eine Verkörperung des klassischen Ideals. Als moderne Göttin sitzt sie untätig und ist sich ihres Platzes in der Gesellschaft voll bewusst.
Ihr Spiegelbild im Hintergrund war eine verblüffende Erfindung, um eine andere Seite von ihr zu zeigen, aber ein genauerer Blick auf den Spiegel offenbart einige Kuriositäten. Die Reflexion stimmt nicht ganz mit ihrer tatsächlichen Position überein. Es fehlt auch das Detail und die Leuchtkraft der Figur, ihre stumpfe Oberfläche kontrastiert mit der Opulenz von Madame Moitessier und ihrer Umgebung. Diese komplexe und mehrdeutige Erfindung, die zwei gleichzeitige Standpunkte suggeriert, sollte im 20. Jahrhundert Auswirkungen haben – und zwar nicht nur auf Picasso.
„Les bons artistes copient, les grands artistes volent. [Gute Künstler kopieren, große Künstler stehlen.]” (Pablo Picasso)
1921 arbeitete Picasso in Paris und war dabei, seine Kunst nach dem Kubismus neu zu erfinden. Er sah Ingres' „Madame Moitessier“ in einer Ausstellung und war von diesem Porträt so begeistert, dass es ihn noch 11 Jahre später beeinflusste, als er 1932 „Frau mit einem Buch“ malte. Letzteres ist eines seiner berühmtesten Bilder seiner jungen Geliebten Marie-Thérèse Walter (1909–1977), die er 1927 kennengelernt hatte – noch während er mit seiner Frau, der russischen Ballerina Olga Khokhlova (1891–1955 → Picassos erste Frau: Olga Picasso), verheiratet war.
„Frau mit einem Buch“ schafft eine Balance zwischen Sinnlichkeit und Zurückhaltung. Das Frauenbildnis erinnert in bedeutender Weise an Ingres‘ Porträt: Die Hand seines Models, das das Kinn berührt, ist ein direktes Zitat. Die Blumen an ihren Ärmeln erinnern ebenfalls an Madame Moitessiers Kleid. Indem Picasso Madame Moitessiers Fächer durch die flatternden Seiten eines Buches ersetzte, erschloss er sich die Erotik, die unter Ingres' Bild der bürgerlichen Seriosität verborgen ist. Das Profilporträt in einem Spiegel rechts verweist bei Picasso ebenfalls auf sein neoklassizistisches Vorbild; es könnte aber auch ein abstrahiertes Selbstporträt des Malers meinen.
Diese Ausstellung in der National Gallery, London, ist eine Gelegenheit, Picassos anhaltende Begeisterung zu Ingres und seine Fähigkeit, auf frühere Künstlerwerke zu reagieren oder sie zu „stehlen“, zu erforschen. Die Schau wird von der National Gallery und dem Norton Simon Museum organisiert und nach ihrer Ausstellung in London im Norton Simon zu sehen sein (21.10.2022–30.1.2023).
Quelle: The National Gallery of Art, London